Ein Wintertag auf Grönland. Es ist der 21. November 2000. Der polnische Geograf Matheusz Strzelecki war damals zwar nicht am Ort des Geschehens. Aber zusammen mit britischen Forschern hat er noch einmal rekonstruiert, was damals genau abging, vor mittlerweile 15 Jahren: "Es gab einen gewaltigen Bergsturz in dem Gebirgszug an Grönlands Westküste. Fast 100 Millionen Tonnen Vulkangestein schätzungsweise! Ein Teil dieser Gesteinslawine stürzte in die Vaigat-Straße, einen Sund zwischen Grönland und der vorgelagerten Diskoinsel. Sekunden später kam es zu einem weiteren Bergrutsch, diesmal aber unter Wasser. Und das löste eine Tsunami-Welle aus. Als sie nach 60 Kilometern die Diskoinsel erreichte, war sie rund 28 Meter hoch und zerstörte die frühere Bergarbeiter-Stadt Qullissat."
Tsunamis - das sind Naturgewalten, die meistens von Erdbeben ausgelöst werden. Die langen Wellen können ganze Ozeanbecken durchwandern und türmen sich zu meterhohen Wasserbergen auf, sobald sie auf Land treffen. Mit Abstand am häufigsten treten sie im Pazifik auf. Zuletzt im Jahr 2011 vor dem Reaktorunglück von Fukushima in Japan. Aber Tsunamis im Nordpolargebiet? "Ehrlich gesagt: Wir waren selbst einigermaßen überrascht, als wir feststellten, dass diese Extremereignisse gar nicht so selten in der Arktis vorkommen."
Die Geoforscher zog es nach Qullissat, um einen Fingerabdruck des Tsunamis aus dem Jahr 2000 zu finden - was ihnen auch gelang. Die Welle schleuderte nämlich Gesteinssedimente aus dem Meer an Land. Und sogar große Eisberge, die damals durch die Vaigat-Straße drifteten. Auch sie hinterließen Spuren, als sie später schmolzen. Denn im Gletscher-Eis sind häufig feine Schluff-Partikel eingeschlossen. Sie blieben am Ende an Land zurück. Als Flecken auf dem Meeresgestein, die wie Pfannkuchen aussehen, so Matheusz Strzelecki.
Die marinen Sedimente mit der Schluff-Kruste - das halten die Forscher für das typische Merkmal eines gewaltigen arktischen Tsunamis. Nach diesem Fingerabdruck suchten sie anschließend in den alten Ablagerungen eines küstennahen Binnensees. "In dem Sediment-Kern haben wir dann auch Hinweise auf einen Tsunami im Jahr 1952 gefunden. Unsere Auswertungen dauern zwar noch an. Aber wir können jetzt schon sagen: In den letzten 2.500 Jahren gab es mindestens vier Tsunamis in West-Grönland, die ähnlich stark waren wie der aus dem November 2000."
Der Geograf von der Universität Breslau fürchtet: Tsunamis, die durch Bergstürze ausgelöst werden, könnten sich in Zukunft häufen. Durch den Klimawandel. Nicht nur vor Grönland, sondern auch in anderen Küstenregionen, wo Gebirge entlang von steilen Fjorden verlaufen.
Die Arktis ist Permafrostgebiet, Berggipfel und -hänge sind mit Eis durchsetzt. Schmilzt es, wächst das Risiko für Felsstürze. "Wir alle wissen, dass sich der Permafrost durch die globale Erwärmung stark verändert. Die aktive Schicht an der Oberfläche wächst, das heißt, der Permafrost taut immer tiefer auf. Wenn dann Regen oder Schmelzwasser in die Freiräume im Fels eindringt, begünstigt das nach unseren Erkenntnissen Bergstürze, die am Ende Tsunamis auslösen können."
Auch in Norwegen läuft inzwischen ein Forschungsprojekt, bei dem man das Risiko für Bergstürze und Tsunamis in den Fjorden an der Küste auslotet.
Durch die Riesenwelle auf der Diskoinsel im November 2000 kam übrigens niemand ums Leben. Die Kohle-Mine von Qullissat war schon lange vorher geschlossen worden - und die Bergarbeiter-Siedlung nur noch eine unbewohnte Geisterstadt.