Schon ein tolles Gefühl: Man geht am Samstagmorgen nach dem Brötchenholen am Kiosk vorbei, sieht den neuen "Spiegel" und liest auf der Titelseite: "Die unheimliche Macht" - und dann, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk gemeint ist. Also irgendwie auch man selbst – als Redakteur eines öffentlich-rechtlichen Senders. Macht, mächtig - wow! Mal was Anderes als der ewige "Staatsfunk"-Vorwurf der FAZ oder der Nordkorea-Vergleich des Verlegerverbandspräsidenten Döpfner.
"Wie ARD und ZDF Politik betreiben" steht drunter - das allerdings entspricht so gar nicht meinem Selbstverständnis. Und dem meiner Kolleginnen und Kollegen auch nicht. Nach der Lektüre des Textes im Innenteil blieb dann von der ursprünglichen Erwartung auch nicht mehr viel übrig: Wieder nur dieselben Punkte, die seit Wochen und Monate in jeder zweiten Zeitung stehen: Kritik am Unterhaltungsprogramm, obwohl das zum definierten Auftrag der Sender gehört. Wenn man das ändern will - was durchaus sinnvoll sein könnte -, muss man aber die Staatsverträge ändern. Das ist also Aufgabe der Politik, nicht der Sender. Ansonsten: intransparent errechnete Steigerungsraten, etwa beim Thema Rundfunkbeitrag. Der fragwürdige Vorwurf, der Aufstieg der AfD sei Talkshow-gemacht - und kein Wort über die Rolle von "Bild" und dämonisierenden Spiegel-Titeln.
Private Sender bitten bald ebenfalls zur Kasse
Überhaupt klingt der Text der vier Kolleginnen und Kollegen für "Spiegel"-Verhältnisse seltsam unentschieden. Statt eigener Argumentation: Verlegerpräsident Döpfner. Der hat übrigens mindestens so viel politischen Einfluss, wie nun den öffentlich-rechtlichen Sendern unterstellt wird. Und über Friede Springer sogar direkten Zugang zur Kanzlerin. Oder es werden ellenlang Facebook-Postings zitiert. Hasskommentare von Verschwörungstheoretikern und rechtsextremen Staatsablehnern als Belege für angeblich mangelnde Akzeptanz der Öffentlich-Rechtlichen? Und demnächst dann ganz neutrale Dortmund-Fans als Kronzeugen dafür, dass der FC Bayern ein schlechter Verein sei? Dass auch die behäbigen öffentlich-rechtlichen Sender längst reagiert haben - beim tatsächlich ziemlich unsäglichen Kanzlerduell zum Beispiel, das es so nicht mehr geben wird: Kein Wort davon.
Den Kern-Vorwurf vieler Verleger, die Online-Angebote würden die privaten Anbieter – also auch Zeitungen und Magazine - wirtschaftlich zu Grunde richten, widerlegt der "Spiegel" sogar selbst: Die meistbesuchten Info-Websites sind keine öffentlich-rechtlichen, sondern anzeigenfinanzierte - Spiegel online gehört dazu. Wer Privatsender sehen möchte, wird dafür übrigens spätestens seit diesem Sommer auch zur Kasse gebeten. Und wer den Rundfunkbeitrag zahlt, hat natürlich auch ein Recht, dafür die Angebote der Sender dort abzurufen, wo sie oder er das will.
Etwas mehr Recherche wäre guter Journalismus gewesen
In der "Spiegel"-Medienwelt scheint es nur Fernsehen zu geben. Radio kommt so gut wie gar nicht vor - mit Ausnahme zweier Zitate unseres Intendanten, der die Notwendigkeit von Reformen nicht zum ersten Mal begründet. Auch nicht der Umstand, dass die Landesrundfunkanstalten der ARD den Auftrag lokaler und regionaler Berichterstattung auch und gerade in Gegenden haben, in denen sich die Zeitungsverleger schon lange keine Redaktionen mehr leisten. Das öffentlich-rechtliche System ist nämlich deutlich größer, als es im Text suggeriert wird.
Und dass ist die eigentliche Enttäuschung an dieser merkwürdig unentschiedenen Geschichte, die die reißerische Titelzeile von der "unheimlichen Macht" so gar nicht einlöst: Es gibt ja eine Menge kritikwürdiger jahrzehntelanger Gewohnheiten und Punkte, über die ARD, ZDF und Deutschlandradio dringend mal sprechen sollten - und über die sie zum Teil auch schon längst sprechen. Hier aber fehlen sie. Herauszufinden, welche das sind: Das wäre guter Journalismus gewesen. Und sicher auch eine Titelgeschichte wert.