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Der vergessene Völkermord

Einst wurden die Tscherkessen blutig aus Sotschi vertrieben, dem Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014. Dort würde das Volk gerne an seine Geschichte erinnern. Doch die russische Regierung und der Sport kommen dem Anliegen nicht nach.

Von Johannes Aumüller |
    Sotschi im Mai 1864. Seit Jahrhunderten lebt im nördlichen Kaukasus das Volk der Tscherkessen, Sotschi ist ihre Hauptstadt. Doch nun werden sie, wie viele ihrer Nachbarvölker, Opfer eines grausamen Krieges. Die Truppen des russischen Zaren erobern das Territorium – und die Tscherkessen müssen die Region verlassen. Viele werden ins Osmanische Reich umgesiedelt, mehrere Hunderttausend Menschen sterben auf der Flucht. Es ist ein grausames Verbrechen, ein fast vergessener Völkermord. Wulf Köpke vom Völkerkundemuseum in Hamburg sagt:

    "Also meiner Meinung nach ist dieser Genozid an den Tscherkessen und den anderen südwestkaukasischen Völkern der erste große Genozid im Europa der Neuzeit. Und die Tragik ist für die Tscherkessen, dass das keiner so richtig mitbekommen hat. Die Tscherkessen leiden darunter, dass sie in Stille praktisch gestorben sind."

    Genau 150 Jahre nach den Vertreibungen finden in Sotschi die Olympischen Winterspiele statt. Das sogenannte Bergcluster, also der Austragungsort für die Ski- und Eisbahnwettbewerbe, liegt in dem Gebirgsdorf Krasnaja Poljana, zu Deutsch: rotes Feld – ein Name, der die Tscherkessen auf ewig an die blutigen Ereignisse von damals erinnert. Auf den Massengräbern von damals kämpfen jetzt Langläufer und Bobfahrer um die Medaillen, so sehen sie das.

    Die Tscherkessen leben heute verstreut in aller Welt, die meisten von ihnen in der Türkei. Als das Internationale Olympische Komitee die Spiele vor sechs Jahren nach Sotschi vergab, forderten viele von ihnen eine Absage oder einen Boykott. Zumindest in den offiziellen Gremien sind sie heute etwas zurückhaltender. Sie wollen aber, dass das Schicksal ihres Volkes bei den Spielen ein wichtiges Thema ist. Timur Shogen von der Föderation der europäischen Tscherkessen sagt:

    "Es gibt viele Aktionen, wo man sagt: No Sotschi. Aber wir als Föderation der Tscherkessen sagen: Okay, es muss irgendwann auch Frieden sein, die Olympiade soll stattfinden, aber dann mit uns bitte schön. Das ist eigentlich unsere Forderung, dass wir da zumindest genannt werde, dass wir an der Eröffnungsfeier teilnehmen, dass unsere Geschichte einigermaßen in den Videos und Filmen, die in den nächsten Monaten überall laufen, genannt wird."

    Gedenktafeln, Gedenkveranstaltungen, eine umfangreiche Teilnahme an der Eröffnungsfeier – das sind die Wünsche von Shogen und seinen Mitstreitern. Und vor allem, dass Russlands Staatspräsident Wladimir Putin endlich einmal klar benennt, was damals geschehen ist.

    Doch derzeit sieht es nicht so aus, als erfüllten sich die Hoffnungen der Tscherkessen. Die russische Politik ignoriert das Thema. Der Deutsche Olympische Sportbund erklärt in bester Funktionärstradition, der Sport könne nicht alle historischen und politischen Probleme eines Landes lösen. Das Organisationskomitee und das IOC verweisen darauf, dass die Tscherkessen in das begleitende Kulturfestival einbezogen seien. Das ist den Tscherkessen zu wenig.

    "Kulturfestival, okay, da wird eine tscherkessische Gruppe, die als Tscherkesse wahrscheinlich nicht genannt wird, the winner has taken it all oder so singen, in unserer Nationaltracht, aber das repräsentiert ja nicht unsere Kultur, das ist ja mehr Show, würde ich sagen, als eine Kulturpräsentation."

    Von der Bevölkerung in Sotschi zählen heute nur noch etwas mehr als ein Prozent zu den Tscherkessen. Und der Historiker Wulf Köpke erinnert daran, welche konkreten Folgen die Vertreibungen von damals bis heute haben:

    "Das Ausmaß des Genozids, Zahlen sind ja immer ganz schwierig, aber das Ausmaß des Genozides ist mir erst klar geworden, als mir Tscherkessen in der Türkei erzählt haben, sie essen bis heute keinen Fisch, weil so viele von ihren Verwandten im Schwarzen Meer ertrunken sind, dass sie es nicht fertig bringen, Fisch zu essen."