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Der Vollkommenheit auf der Spur

Der ungarische Schriftsteller László Krasznahorkai ist in verschiedenen Epochen der Sehnsucht nach dem Vollkommenen auf der Spur. Perfektion, Ordnung, Fehlerlosigkeit lauten folgerichtig die drei Mantras, um die sich alles in den 17 Texten dreht.

Von Florian Felix Weyh |
    Dem modernen Leser tritt kein Buchhändler als Priester, kein Autor als Psalmensänger entgegen, denn Literatur hat längst alles Rituelle verloren und sich zur vorrangig kaufmännischen Veranstaltung entwickelt. Tempelhändler regieren den Tempel – wenn es denn je einer war - und jenseits kirchlicher Traktate pocht auch niemand mehr auf geistliche Exerzitien, die transzendentalen Überschuss versprechen, sofern man sich ihnen bußfertig unterwirft. Vor allem die Belletristik weiß nichts mehr von ihrem Ursprung im Mythos und im Glauben; eine weihevolle Stimmung stellt sich beim Lesen selten ein. Nur alle Jubeljahre steigt eine Parsifalgestalt empor, die sich unschuldig die Augen reibt und fragt: Wo ist das Wunder? Es gibt doch Wunder? Ich sehe Gott überall! Sieht Gott auch mich?

    "Er betrachtete Christi Augen, und es fesselte seine ganze Aufmerksamkeit herauszufinden, was das Besondere an diesem Christus sein mochte, an diesen Augen, die ihn derart in Bann schlugen, denn das war geschehen, das Bild, diese imago pietatis-artige Christus-Figur hielt ihn wie gebannt, er suchte nach irgendeinem Anhaltspunkt, doch weder unter dem Bild noch auf dem Gestell, auf das man es gestellt hatte, noch seitlich an der Wand, vor der es stand, gab es irgendeinen helfenden Hinweis über den Maler oder das Thema, man hatte diesen Halb-Christus einfach nur in diese Ecke gestellt, als hätten die Ausstellungsmacher der S.Rocco sagen wollen, da haben wir also auch noch dieses Bild, nicht ganz so interessant, aber wenn wir es schon haben, dann stellen wir es hierher, wen es interessiert, der soll es sich anschauen, und ihn interessierte es, er konnte seinen Blick wirklich nicht abwenden, als er plötzlich begriff, warum, dieser Christus nämlich hatte, beide Augen geschlossen, ah ja, seufzte er auf, als hätte er des Rätsels Lösung gefunden, nur hatte er sie überhaupt nicht gefunden, und das war noch beunruhigender, denn er konnte seinen Blick weiterhin nicht abwenden und musste nun diese zwei geschlossenen Augenlider betrachten und ertragen, dass er den Schlüssel zu der eigentlichen Besonderheit nicht finden würde, er betrachtete das Ganze von Neuem, die schmächtigen Schultern, den zur Seite geneigten Kopf, er betrachtete den Mund, den feinen Bart, die dünnen Arme und die irgendwie so seltsam übereinandergelegten Hände, als ihm plötzlich so war, als hätten sich Christi Augenlider bewegt, als hätten diese beiden Augenlider kurz gezuckt."

    Nein, dieser Satz – man mag dies, unserem vorzüglichen Sprecher sei Dank, nicht hören – dieser Satz ist noch lange nicht zu Ende. Wir überspringen eine Seite, lassen den Protagonisten panisch aus dem Saal der venezianischen Scuola Grande di San Rocco stürzen und ihn wenige Minuten später erneut betreten:

    "Und wieder zuckten Christi Augenlider, jetzt aber wandte er seinen Blick nicht mehr ab, sondern heftete ihn darauf, blickte, starrte fest auf diese geschlossenen Augen, doch da wusste er bereits unwiderruflich, dass die Augen von diesem Christus zucken und immer wieder zucken würden, denn dieser Christus WOLLTE SEINE AUGEN ÖFFNEN, doch als er das begriff, lief er schon durch den Großen Saal zur Treppe, rannte schon die Treppe hinunter, über den Treppenabsatz, und war schon unten im Erdgeschoss, vorbei an dem Verkäufer und der Kassiererin, hinaus ins Freie, in die Menge, die ahnungslos im freundlichen Sonnenschein des Campo S. Rocco hin- und herwogte."

    Punkt. Das ist eine Kostprobe der ungeheuren Zumutung, die von einem der seltsamsten Bücher der letzten Jahre ausgeht. Wer bitte – jenseits der Kunden konfessioneller Buchhandlungen – liest schon christliche Erweckungsprosa? Wer unterzieht sich freiwillig der Tortur mäandrierender Satzschlangen – mal rhythmisch gegliedert, mal kaskadisch verschachtelt –, die sich nicht nur über ein oder zwei, sondern bisweilen über acht oder zehn Seiten erstrecken, nur von zahllosen Kommata strukturiert? Wer ist bereit, László Krasznahorkai auf seiner 460 Seiten andauernden Sinnsuche zu begleiten, die am Ende - ja was überhaupt verspricht? Antworten auf endgültige Fragen? In einem Punkt herrscht freilich unmissverständliche Klarheit: Um christliche Motive geht es ebenso wenig wie um islamische, buddhistische oder jene aus dem Formenkreis des Shintoismus. Das sind nur übergestülpte Zeichen, die die universelle Textur des Transzendentalen verdecken. Sie, diese Textur, tritt Krasznahorkai überall entgegen, wo er unversehrte Rituale aufspürt, bevorzugt allerdings im ostasiatischen Raum. Nehmen wir den Fall einer Buddha-Statue, die in einem kleinen japanischen Kloster die Jahrhunderte überdauerte, nun aber in einer staatlichen Werkstatt restauriert werden soll. Es treffen aufeinander: Weltliche Behördenmacht und uralte religiöse Regeln.

    "Selbst der äußerst erfahrene Abt und die angesehensten Mönche wussten zunächst nicht, welchem Zeremoniell man da zu folgen hätte, dem sie natürlich Folge leisten würden, eines ist sicher, es dauerte Monate, bis sich die führenden Würdenträger mit den Vorschriften der für solche Fälle vorgesehenen Zeremonie vertraut gemacht hatten, sie rechneten zwar durchaus damit, dass diese Aufgabe schwierig sein und äußerste Umsicht verlangen würde, nicht aber damit, dass es so mühsam, kompliziert und verwickelt werden sollte, zumal man sie einüben, das heißt, mit allen Bewohnern des Tempels einstudieren musste, damit das Ganze dann in genauer Ordnung ablief, jedes noch so kleine Detail musste erklärt werden, auch wenn man die niederen Mönche nur darin unterweisen musste, was worauf folgt und wer wann kommt und was das alles im Ganzen zu bedeuten hat, und sie den tieferen Sinn der einzelnen Teile der Zeremonie nicht zu verstehen brauchten, es sei genug, erklärte der Abt den Leitern der Tempelverwaltung, wenn die Sūtren genau gesungen und die Mantras genau aufgesagt werden, wenn die Musiker genau wissen, was sie wann zu schlagen haben und wo sie leiser werden müssen, und überhaupt ist es genug, wenn alle die Struktur des Ritus verstehen und dazu angehalten werden, dessen einzelne Elemente fehlerfrei zu verrichten, das ist wirklich alles, oder eben."

    Ja, das ist ein harter Schnitt, ebenso willkürlich wie dennoch zulässig, denn diese Literatur ist entweder im Radio überhaupt nicht zitierbar – es sei denn, man nähme sich eine ganze Nacht Zeit –, oder sie gestattet den freien Umgang mit ihrer Entgrenztheit. Dann aber kann man an jedem der rund 23.000 Kommata innehalten. Das ist ja der gewünschte Effekt des Stilmittels: Dass der Sprachfluss optisch niemals versiege, nie an einen Punkt komme! Nach ein paar Dutzend Seiten hat jeder nicht unwillige Leser den meditativen Effekt am eigenen Leib erfahren: Es funktioniert! "Seiobo auf Erden" taugt zum Bad in melodiösen Wortströmen, zur Erquickung im Murmeln und Rauschen einer nie versiegenden Quelle. Was sich dem allerdings entgegenstellt, ist die Wahrnehmung von Inhalten, jenen störrischen Barrieren im gefälligen Wohlklang, die den eingelullten Geist wieder aufwecken. Denn natürlich schreibt László Krasznahorkai keinen Blindtext, bei dem es gleichgültig wäre, was da verhandelt wird. Aber man muss schon sehr gut hinhören – respektive als Leser hinsehen –, um im dichten Textgeflecht die Signalworte zu erkennen. Im obigen Beispiel sind es "genaue Ordnung" und "fehlerfrei". Dieses Buch ist eine Feier der Perfektion! Als gültig – also heilig – erweisen sich religiöse Rituale nämlich nur, wenn man keinen Millimeter von ihnen abweicht, und Gleiches gilt für die Kunst. In seinem trotzigen Widerstand gegen den Zeitgeist ist "Seiobo auf Erden" der zunächst beeindruckende Versuch, die Kunst als universales Zentrum der geistigen Welt zu behaupten. Das glückt freilich nur, wenn sie ihre alte Verbindung zur Religion wieder aufnimmt. Göttliches, sagt Krasznahorkai, findet sich nur dort, wo eine Idealvorstellung formuliert und dann in der Praxis mit diktatorischer Strenge umgesetzt wird. Perfektion, Ordnung, Fehlerlosigkeit lauten folgerichtig die drei Mantras, um die sich alles in den siebzehn Texten dreht. Nur einer, der Monolog eines exaltierten Barockmusikfreundes, fällt dabei aus dem Rahmen. Inhaltlich liegt der Barockmusikfanatiker zwar vollkommen auf der kunstreligiösen Linie des Autors, sprachlich aber vermittelt sein überzogenes Auftreten die gegenteilige Botschaft: Dass man einem derartig entflammten Ideologen niemals über den Weg trauen dürfe!

    "Es ist unbestreitbar, dass der Barock nur im Fall der ungestörten Aufführung entstehen kann, dann scheint er auf, dann erklingt er, und dann überwältigt er einen, bricht einem das Herz, schmettert einen zu Boden, und dafür genügt es, bei der Wahl des Dirigenten keinen Fehler zu machen, also – wenn wir an die heutigen Verhältnisse denken – NICHT der rohe Harnoncourt, SONDERN Christie, NICHT die flatterhafte Bartoli, SONDERN Kirkby, NICHT die schwächer gewordene Magdalena Kožená, SONDERN Dawn Upshaw, NICHT das Zugdorfer sogenannte Barockkammerorchester, SONDERN Les Arts Florissant, kurzum, mit einer fehlerfreien Auswahl erreichen wir zumindest, dass der Barock erklingt, insofern der Barock heute überhaupt noch seine Stimme erheben kann. "

    Nichts jedoch läge László Krasznahorkai ferner, als seine eigenen Kunstkoordinanten zu hinterfragen. Jenes alle Menschen berührende Wirkungsmoment schlage sich nun einmal in religiös aufgeladenen Werken wie in der Musik des Barock nieder, in der Malerei der Renaissance, in der japanischen Bildhauerei und Schnitzkunst aller Epochen. Um die Aura des Kunstwerks zu gewährleisten, empfiehlt es sich sogar, als beteiligter Handwerker sein Leben zu ritualisieren, so wie der No-Masken-Schnitzer in der Erzählung "Er steht im Morgengrauen auf".

    "Er isst größtenteils nur Pflanzen, Fleisch so gut wie nie, manchmal Fisch, meistens aber Pflanzen und wieder Pflanzen, er beginnt mit sauer eingelegtem, in kurze Streifen geschnittenem Kuramagemüse, dann kommt eine Misosuppe, danach zu dem geliebten Gemmai-Reis auf dreier- oder viererlei Art gebratene Avocado, gebratene Pilze, gebratener Tofu, gekochte Bambussprossen, oder er macht Udon oder Soba, eventuell Tofuhaut, Yuba, Sojakeime oder haarige Teebohnen."

    Auch hier scheint der Autor vom geordneten Esszeremoniell so fasziniert, dass ihn die klangvollen Namen fremder Speisen mehr interessieren als die Frage, ob sich ein europäischer Leser darunter etwas Bildhaftes vorzustellen vermag. Detailfülle erstickt Imaginationsfähigkeit – diesem Paradox erlag schon mancher Künstler, sofern er das Serielle nicht zum ästhetischen Prinzip erhob. Ganz fern davon bewegt sich László Krasznahorkai nicht, denn seine weit ausgreifenden Erzählungen sind eher Zenübungen der Geduldserprobung als verlockende Reisen in eine fremde Welt. Demütig unterdrückt der Leser so niedere Gelüste wie unterhalten zu werden, Spannungsbögen folgen zu dürfen oder einmal herzhaft zu lachen. Obwohl, manche eine Szene erinnert an Thomas Bernhards Prinzip der Bloßstellung durch monologische Übertreibung:

    "Schau, Stefano, ich brauchte aus Pappelholz, aber aus dem besten Pappelholz, du weißt, es muss dolce, ja dolcissima sein, davon brauchte ich, aber schneidet es so zu, dass nichts vom Rand des Stammes dabei ist, und sägt es längs heraus, ich brauchte also ein sechs Fuß langes und viereinhalb Fuß breites, ist gut, antwortete darauf Meister Stefano in der Tischlerwerkstatt, ein sechs Fuß breites und viereinhalb Fuß langes, nein, sagte der Maestro daraufhin, sechs Fuß lang und viereinhalb Fuß, ist gut, schnitt ihm der etwas begriffsstutzige Tischler heftig nickend das Wort ab, also sechs Fuß lang und viereinhalb Fuß breit, ja, sagte der Maestro, ein Pappelbrett diesen Ausmaßes, für ein Altarbild, für wie viel würdest du es für mich machen, fragte der Maestro, sodass ihr die Rückseite wenigstens gegen Insekten streicht, die Vorderseite aber glatthobelt, und dann geht noch ein wenig mit dem Zahnhobel drüber, hast du verstanden, Stefano, damit es ganz leicht aufgeraut ist und so der Leim dann besser einziehen kann, die Rückseite aber bearbeitet ihr mit dem Grobhobel, du weißt, Stefano, damit man die Querhölzer besser einfalzen kann, denn auch die brauchen wir natürlich, natürlich, hallte es aus dem Mund des vor dem großen Maler immer ein wenig katzbuckelnden Tischlers wider, und zwar aus Buchenholz, aus Buche, nickte Meister Stefano."

    Perfektionsansprüche ins Groteske getrieben - hier handelt es sich um die Zurichtung jenes hölzernen Bildträgers, der später ein Madonnenportrait aufnehmen soll. Aber natürlich muss die unvollkommene Praxis der Kunstausübung zu schlechter Letzt das künstlerische Ideal verfehlen, weswegen mit der Arbeit stets die Bußübung des vorhersehbaren Scheiterns einherzugehen hat. Der No-Masken-Schnitzer weiß zum Beispiel genau, welche Haltung sich geziemt:

    "Ich mache oft Fehler, hat er auch schon mehrmals den immer wieder nur für kurze Zeit zwar, aber dennoch eingelassenen Schülern gestanden, oft, sagt er lächelnd und nickend, aber er meint das absolut ernst, man spürt vielmehr, dass er sich über sich ärgert, auch wenn er lächelt, denn man darf überhaupt keinen Fehler machen, erklärt er, er aber macht trotzdem immer und oft Fehler, ganz zu schweigen von dem ihn tatsächlich mit dem völligen Zusammenbruch bedrohenden Fall, wenn am Ende die ganze fertige Maske ein einziger Fehler ist, um es so zu formulieren",

    und um damit den Punkt der Koketterie zu erreichen. Tatsächlich entrinnt László Krasznahorkai seinen eigenen Setzungen auch nicht. Er dürfte ahnen, dass "Seiobo auf Erden" nur perfekt erscheint, weil es mit zig Schichten von Trockenlack überzogen worden ist, der die Nähte und schwach gearbeiteten Stellen kunstvoll überdeckt. Schwach gearbeitete Stellen gibt es allemal, vor allem in der Erzählung "Ferne Vollmacht" über die islamische Ornamentik der Alhambra. Hier kippt Sprachkunst in leere Formalistik, um nicht zu sagen in Sprachblasen um:

    "Die Alhambra ist immer dieselbe, und immer, an jedem Punkt mit sich identisch, womit natürlich nicht gesagt sein soll, dass man wisse, was das heißt, das ist es ja gerade, dass man es nicht weiß, dass man nur stehen bleibt und sich eingestehen muss, nein, und sich das eingesteht, indem man sagt, ach, wie merkwürdig, dass die Alhambra von außen ein ganz anderes Gebäude ist als von innen, und auch von innen ein ganz anderes als von außen, und so geht das weiter, ( ... ) denn es ist, als ahnte man bereits, dass die Alhambra nicht jenes Wissen vermittelt, dass wir nichts von der Alhambra wissen, sondern dass auch sie selbst nichts von diesem Nichtwissen weiß, weil es auch das Nichtwissen nicht gibt."

    Punkt. Aber zugegeben, dem Zitat fehlt eine zwölfseitige Passage mittendrin, was allerdings – der Autor wird wütend widersprechen – der Textanmutung keinerlei Abbruch tut. Die ausgelassenen Seiten wieder eingefügt, erwiese sich deren Inhalt keineswegs als zwingend. Denn kratzt man im Buch ein bisschen am dick aufgetragenen Lack seriell aneinander gereihter Informationspartikel oder langatmiger innerer Monologe, stellt man häufig fest, dass darunter eine weitere Lackschicht liegt und noch eine und noch eine uralte japanische Technik, ins Literarische transferiert. Kunstfreunde fallen gerne auf solche Lackdöschen herein, ja man handelt sie an den literarischen Börsen zu hohen Preisen, denn was so glänzt, muss nicht mehr intellektuell durchdrungen werden. Wenn Krasznahorkai jedoch seine Meditationsübungen einmal unterbricht, um einen konkreten Aussagesatz zu wagen, kommen leider oft nur Banalitäten heraus. Oder eine verschnörkelte Plattitüde, wie sie in weniger weihevollen Büchern vom Lektor gestrichen würde:

    "Das Wesentliche ist, was du in deinem Herzen trägst, der Gott beobachtet es und sieht es und weiß alles ganz genau."

    Versuchen wir ein Resümee: Der unwillige Leser hat sich ob der visuellen Zumutungen des Textgeflechts schon auf den ersten Seiten des Buches verabschiedet, wo ihm der Autor eine mehrseitige, statische Vogelbeschreibung im Straßenbild Kytos zumutet, die eher an eine Aufnahmeprüfung zum Orden der Krasznahorkai-Jünger gemahnt als an eine offene Einladung an Neugierige:

    "Niemand beachtet ihn, niemand sieht ihn, und wenn heute nicht, dann auch eigentlich in Ewigkeit nicht, die unaussprechliche Schönheit seines Stehens bleibt verborgen, bleibt unbeachtet der außerordentliche Zauber seiner erhabenen Reglosigkeit, und so bleibt verborgen und unbeachtet, geht verloren, noch bevor es in dieser seiner Reglosigkeit, hier, inmitten des Kamo, noch bevor es in dieser seiner schneeweißen Anspannung manifest würde, geht verloren und bleibt ohne Zeugen die Erkenntnis, dass er es ist, der allem, was ihn umgibt, den Sinn verleiht."

    Aber was bleibt dem willigen, geduldigen, folgsamen Leser? Ein im Ohr nachschwingender hoher Ton, gewiss; unendlich viele, gut recherchierte Details zur europäischen Kunstgeschichte, sowie eine Erzählung, "Der Neubau des Ise-Schreins", in der die tiefe mentale Kluft zwischen Japan und Europa greifbar wird. Der hohe Ton freilich verhallt, und dann verbleiben im Gedächtnis die kürzesten Sätze des Buches. Sie stammen ausgerechnet aus der verkorksten Alhambra-Geschichte:

    "Denn etwas nicht zu wissen, ist ein komplizierter Prozess, dessen Geschichte sich im Schatten der Wahrheit abspielt. Denn Wahrheit gibt es. Gibt es doch die Alhambra. Das ist die Wahrheit."

    Wer sich damit zufriedenzugeben vermag, wird mit "Seiobo auf Erden" glücklich werden. Der Rest sucht sich eine andere Kunstreligion. Oder bleibt Atheist.

    László Krasznahorkai: "Seiobo auf Erden". Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. S.Fischer Verlag. 462 Seiten, 22,95 Euro