Karin Fischer: Der neue Ko-Vorsitzende der deutsch-russischen Historiker-Kommission, Andreas Wirsching, im Hauptberuf Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, übernimmt sein Amt als Nachfolger von Horst Möller in einer Zeit, die für Historiker eine spannende Zeit sein müsste. Denn was sie erforschen, die Zeitgeschichte nämlich und die unterschiedlichen Sichtweisen auf historische Fakten, spielt sich jetzt gerade vor unser aller Augen ab: Das Verhältnis zu Russland ist so gespannt wie selten in den vergangenen zwanzig Jahren, und der Umsturz in der Ukraine, das Massaker auf dem Maidan und die anschließende Besetzung der Krim durch russische Truppen ist Anschauungsunterricht pur, wie verschieden die Interpretationen auch ganz naheliegender historischer Ereignisse sind. Erst vor Kurzem hat der russische Präsident Putin zugegeben, was der Westen immer schon behauptet hat: Er hat die Annexion der Krim befohlen und gesteuert. Andreas Wirsching, reden Sie mit ihren russischen Kollegen über diese ganz aktuelle Zeitgeschichte, und wenn ja, wie?
"Können keine aktuelle Politik betreiben"
Andreas Wirsching: Es wird zwischen den Historikern auf russischer und auf deutscher Seite schon auch über aktuelle Fragen geredet, ohne dass man aus meiner Kenntnis und Erfahrung jedenfalls sagen könnte, dass wir jetzt die von Ihnen gerade angesprochenen aktuellen, wirklich dramatischen Ereignisse jetzt gewissermaßen einer intellektuellen Lösung zuführen. Das wäre übertrieben zu sagen, denn wir sind natürlich Historiker und beschäftigen uns nicht mit der absoluten unmittelbaren Gegenwart. Insofern ist die Antwort so ein bisschen ja und nein. Es wird gesprochen, es wird auch relativ offen gesprochen, aber immer gewissermaßen eingeklammert in dem Sinne, dass wir jetzt keine aktuelle Politik betreiben können.
Fischer: Nun sind Historiker ja meistens der historischen Wahrheit verpflichtet, während inmitten einer kriegerischen Auseinandersetzung in der Politik vor allem auch die mediale Propagandamaschinerie in Stellung gebracht wird. Damit ist aber das Heute, das demnächst ja erst historisch wird, mit einer völlig anderen Quellenlage verbunden als vor 50 Jahren, nämlich zum Beispiel mit einfach zu manipulierenden Aussagen im Netz. Wie gehen Sie als Historiker mit so etwas um?
Wirsching: Die Frage ist völlig berechtigt. Man kann für die Gegenwart auch als Historiker natürlich immer nur begrenzte Aussagen machen, denn wie Sie völlig richtig andeuten: Wir brauchen im Grunde dann eine Quellenkritik und wir brauchen überhaupt Quellen, um zum Beispiel die jüngste Vergangenheit, die allerjüngste Vergangenheit und unsere Gegenwart auch mit wissenschaftlichen Für Methoden beurteilen zu können. Das, würde ich sagen, steht uns im Augenblick nicht zur Verfügung, diese Möglichkeit.
Fischer: Und die Quellen, wie gesagt, sind ja häufig manipuliert. Die Frage wäre aber: Kann man so was in 15 Jahren überhaupt noch feststellen?
Methoden der Quellenkritik entwickeln
Wirsching: Ich glaube schon, dass man feststellen kann, welche Quellen, sofern sie denn zugänglich sind. Aber gehen wir mal davon aus, sie sind weitestgehend zugänglich, dann wird man da schon Methoden der Quellenkritik entwickeln müssen, zum Beispiel Internet-Nachrichten, von denen wir wissen, dass viele auch gesteuert sind. Das ist eine Sache, die nach meiner Kenntnis für die Geschichtswissenschaft im Augenblick noch nicht so richtig auf der Agenda steht, weil wir da natürlich ein ganz anderes technisches Know-how brauchen. Was aber vielleicht wichtiger ist, ist die Tatsache, dass sich die Struktur der Öffentlichkeit natürlich verändert hat, durch das Internet insbesondere. Die großen Leitmedien, etwa wie die ARD, haben, wenn man so will, bestimmte Deutungsstärke-Positionen nicht eingebüßt, aber sie sind nicht mehr so eindeutig, wie das früher der Fall war. Das Internet ist in gewisser Weise, wenn Sie so wollen, demokratischer geworden in der Meinungsbildung. Auf der anderen Seite ist es auch sehr viel anfälliger gegenüber Manipulationen, und da ist in der Tat für künftige Historikergenerationen eine große Aufgabe, da mit dem nötigen quellenkritischen Sensorium heranzugehen. Aber das ist nichts, was uns gegenwärtig beschäftigt. Das muss ich ehrlich sagen. Wir haben große Editionsprojekte, die in den 30er-Jahren oder auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg liegen, also noch, wenn Sie so wollen, stärker klassische Quellenarbeit bedeuten.
Fischer: Um ein konkretes Beispiel aus Ihrer Arbeit anzusprechen. In Russland, so hören wir, ist seit ein paar Jahren ein regelrechter Stalin-Kult im Gange – so wie die Jugendlichen im Osten Deutschlands kaum mehr wissen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war, so lernen Schüler in Russland, dass Stalin ein Held, aber nicht, dass er auch ein Diktator war, durch dessen System zig Millionen Menschen getötet wurden. Die deutsch-russische Historikerkommission hat vor kurzem ein gemeinsames Geschichtsbuch vorgelegt. War das zu erarbeiten schwierig?
Wirsching: Es wäre jetzt gelogen zu sagen, dass das nicht ein, sagen wir mal, intensives Gespräch gewesen ist, ein langfristiges intensives Gespräch, an dessen Ende dann dieses Buch steht. Insgesamt würde ich aber sagen: Wenn man ohnehin mal davon ausgeht, dass wir sehr darauf achten müssen, dass die Kulturbeziehungen - und dazu gehören natürlich auch die Beziehungen der Geschichtswissenschaft - jetzt gerade weitergeführt werden in der schwierigen politischen Situation, dann ist das hier auch ein deutlicher Beweis dafür, dass es funktionieren kann. Das Buch ist ja so eingerichtet, dass es 20, wenn Sie so wollen, Erinnerungsorte oder 20 Module von bestimmten Ereignissen wie etwa Hitler-Stalin-Pakt 1939 oder so hat und dann jeweils ein Russe und ein Deutscher dazu schreibt. Und im Idealfall sollte es ein Artikel werden, dass die beiden Seiten sich auf einen Text einigen können.
Fischer: Aber gerade dazu gab es ja auch sehr, sehr lange Meinungsverschiedenheiten.
Wirsching: Aber es ist in der Mehrzahl der Fälle gelungen am Ende. Das muss man schon festhalten. Aber Sie haben recht: Es gibt einige, ich glaube, vier oder fünf solcher Beiträge, wo es nicht gelungen ist, und da hat man sich sozusagen dahin verständigt, dass man beide Autoren getrennt zu Wort kommen lässt, und das kann man dann in der Tat natürlich sehr genau auch vergleichen. Nehmen wir etwa Stalingrad, die Schlacht von Stalingrad 42/43, da gibt es zwei Autoren. Es gibt auch zwei Autoren über die Frage der sowjetischen Besatzungsherrschaft in Deutschland und einige andere mehr. Da hat es Auseinandersetzungen gegeben, das braucht man auch gar nicht zu leugnen, die aber insofern, glaube ich, schon konstruktiv gelöst worden sind, als wir doch dieses Buch jetzt haben. Das war phasenweise vielleicht nicht ganz selbstverständlich.
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