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Deutsche Kolonialgeschichte
Skandal in Togo

Unter den europäischen Kolonialmächten spielte das deutsche Kaiserreich eine untergeordnete Rolle. Dennoch sind die Spuren bis heute sichtbar. Die Historikerin Rebekka Habermas, Tochter des Sozialphilosophen Jürgen Habermas, hat nun über Togo eine ungewöhnliche Studie vorgelegt - sie nimmt die Gewaltexzesse der deutschen Kolonialherren in den Blick.

Von Otto Langels |
    Der Afrikaforscher und Sportfunktionär Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg-Schwerin (M) während der Jahreshauptversammlung des NOK in Frankfurt 1950. Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg-Schwerin war der letzte Gouverneur der Kolonie Togo (1912-1914). Dem Nationalen Olympischen Komitee stand er von 1949-1951 als Präsident vor, seit 1956 war er Ehrenmitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC).
    Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg-Schwerin: letzter Gouverneur der deutschen Kolonie Togo (1912-1914) und ab 1956 Ehrenmitglied des IOC (DPA)
    Am 3. Dezember 1906 fand im Berliner Reichstag eine turbulente Sitzung statt. Die Redner wurden immer wieder durch Zwischenrufe unterbrochen, das Protokoll vermerkte Heiterkeit und große Unruhe. Zeitungen schrieben tags darauf von einer Debatte, die in die Annalen des Reichstags eingehen werde. Der Anlass lag freilich bereits drei Jahre zurück: Dem Kolonialbeamten Geo Schmidt, Stationsvorsteher in dem Dorf Atakpame im Innern Deutsch-Togos, wurde vorgeworfen, ein einheimisches Mädchen vergewaltigt und einen Chief, einen Stammesführer, zu Tode geprügelt zu haben. Die Opposition sah darin einen veritablen Skandal, so die Historikerin Rebekka Habermas, die sich mit Studien zur Kolonial- und Geschlechtergeschichte einen Namen gemacht hat:
    "Der Skandal bestand darin, dass anscheinend ein deutscher Beamter in unseren deutschen Kolonien, die ja eigentlich dazu dienen sollten Zivilisation zu bringen, sich einfach wie ein Berserker aufführte. Und das empörte die öffentliche Meinung, weil damit das Selbstbild, was ja eben nicht das war, dass man sozusagen zu den Wilden gehörte, sondern man gehörte ja zu den Zivilisierten, dieses Selbstbild wurde damit in Frage gestellt."
    Anhand dieses einzelnen, in Archiven gut dokumentierten Falls hat die Göttinger Historikerin eine quellenkritische, scharfsinnige Studie über den kolonialen Alltag in Deutsch-Togo vorgelegt. Eine ihrer Schlussfolgerungen lautet: Der Gewaltexzess Geo Schmidts - Geo war eine Kurzform für Georg - war keine einmalige Entgleisung.
    "Die nahezu alltäglichen Episoden aus dem Leben eines ganz gewöhnlichen Kolonialbeamten machen deutlich, dass Kolonien Gewalträume waren, hier herrschten Gewaltkulturen, und Geo Schmidts Aktionen können nicht als Einzelfälle abgetan werden. Die Gewalt hatte keine mehr oder minder persönlichen Hintergründe, sondern war struktureller Natur."
    Kolonialbeamte schwer kontrollierbar
    Strukturelle Gewalt war in Togo Ausfluss eines alltäglichen Rassismus und implizierte staatlich verordnete Zwangsarbeit, brutale Misshandlungen sowie selbstverständliche, aber nur selten freiwillige sexuelle Kontakte zwischen Europäern und Afrikanern. Die Kolonialherren betrachteten Eingeborene als minderwertig, bemitleideten sie mit Aussagen wie "Auch der Neger ist ein Mensch" und nahmen für sich in Anspruch, "das Weib zu gebrauchen, sobald es geschlechtsreif war", wie es in einer zeitgenössischen Quelle hieß. Rebekka Habermas verweist auf eine Studie, wonach 90 Prozent der Kolonialbeamten solche Beziehungen hatten.
    "Die Reichstagsdebatte hat einen Einzelfall skandalisiert und damit zum Verschwinden gebracht, dass das kein Einzelfall war, sondern die Art und Weise, wie Geo Schmidt als Kolonialbeamter agiert hat, war etwas, was für sehr, sehr, sehr viele Kolonialbeamte typisch war, weil sie nämlich auch vor Ort überhaupt ganz schwer kontrolliert werden konnten. Logisch ist es ein Skandal, aber es ist eigentlich kein Skandal, weil es eben Alltag ist."
    Dass die Gewaltexzesse Geo Schmidts überhaupt bekannt wurden, war den katholischen Missionaren der Steyler zu verdanken, die für die Verbreitung der himmelschreienden Ungerechtigkeiten sorgten. Unter den 2.000 Einwohnern Atakpames lebten neben dem Stationsvorsteher auch einige Missionare. Diese wollten nicht nur den christlichen Glauben, sondern auch ihre Ideale von Sauberkeit und Sittlichkeit verbreiten. Sie sahen sich als Anwälte der unterdrückten Rasse, aber, so Rebekka Habermas, sie stellten die kolonialen Strukturen nicht grundsätzlich in Frage.
    "Missionarische Praxis hieß nämlich auch - ganz ähnlich wie das für die willkürliche Gewaltherrschaft der Beamten zu beobachten war -, dass man die religiösen Praktiken der lokalen Bevölkerung zerstörte. Mehr noch: Christianisierung war der Kampf gegen spezifisch ‚heidnische‘, alte ererbte Gewohnheiten."
    Mischung aus Selbstüberschätzung und Überforderung
    Am Beispiel von Atakpame analysiert Rebekka Habermas die widersprüchlichen Strukturen des deutschen Kolonialsystems: Den karrierebewussten, an der Aufrechterhaltung eines rassistischen Regimes interessierten Beamten standen humanitär eingestellte Missionare gegenüber. Beide Gruppen agierten in einem weitgehend kontroll- und rechtsfreien Raum. Lokale Beamte wie Geo Schmidt konnten ihre Macht ungehemmt ausleben, ohne ernsthafte strafrechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen, weil die Missionare zwar Gewaltorgien und Sexualexzesse punktuell skandalisieren, aber nicht unterbinden konnten.
    "Geo Schmidt war zweifellos ein alles andere als angenehmer Charakter. Und doch unterschied er sich in seiner Amtsführung kaum von den Gruners, Dörings oder Zechs, den Togoer Beamten, die von der lokalen Bevölkerung als Teufel, Drache oder Monster bezeichnet wurden. Sie zeichneten sich allesamt durch die auch in anderen Kolonien zu beobachtende Mischung aus Selbstüberschätzung, kolonialen Ängsten und objektiver Überforderung aus. Auch waren Sex und Gewalt keine persönlichen Obsessionen, sondern gehörten zum kolonialen Habitus."
    Skandal ohne Konsequenzen
    Der "Skandal in Togo" ging für Geo Schmidt glimpflich aus. Er musste das Land zwar verlassen, fand aber in Kamerun und Deutsch-Ostafrika und später in der deutschen Gesandtschaft von Mexiko eine neue Anstellung.
    An den Zuständen in den Kolonien änderte die Reichstagsdebatte vom Dezember 1906 kaum etwas, wie die Autorin in ihrer gut dokumentierten Studie nachweist. Politiker nutzten die Skandalisierung, um sich zu profilieren und Wahlkampf zu betreiben. In Togo aber, wo nur 300 Deutsche unter einer Million Afrikanern lebten, blieb alles beim Alten.
    "Es ist nicht die Prügelstrafe abgeschafft worden, die sexuellen Verhältnisse haben sich nicht verändert, die lokale Bevölkerung hat nicht mehr Rechte gehabt, also in Togo hat sich nichts verändert."
    Mit "Skandal in Togo" legt Rebekka Habermas eine fundierte Fallstudie über ein weithin unbekanntes Kapitel deutscher Kolonialgeschichte vor. Ihre Arbeit geht weit über eine rein deskriptive Abhandlung hinaus. Auch wenn an manchen Stellen eine anschaulichere Darstellung wünschenswert gewesen wäre, so widersteht sie doch der Versuchung, die Gewaltexzesse ausführlich zu beschreiben und damit voyeuristische Gelüste zu bedienen. Habermas‘ Analyse liefert erhellende Erkenntnisse über die Strukturen kolonialer Herrschaft zu Zeiten des Kaiserreichs. Sie macht aber auch deutlich, dass die Spuren des kolonialen Erbes bis in die Gegenwart reichen. So wirft der Skandal von Abu Ghraib ein Schlaglicht auf die nach wie vor vorhandenen Exzesse westlicher Gewalt in außereuropäischen Regionen.
    Rebekka Habermas: "Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft",
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, 391 Seiten, 25 Euro