Monika Dittrich: Wenn Politiker aus Regierung und Parlament über die großen Fragen des Lebens entscheiden müssen, dann bitten sie häufig den deutschen Ethikrat um eine Einschätzung. Das sind 26 Experten, darunter Mediziner, Juristen und Theologen – ausgewählt je zur Hälfte von Bundestag und Bundesregierung. Diese Sachverständigen sind gefragt, wenn es etwa um Sterbehilfe oder Babyklappen geht, um Organspende oder Beschneidung.
Heute konstituiert sich der Ethikrat in Berlin neu, mit dabei sind insgesamt 14 neue Fachleute. Spätestens nach acht Jahren endet die Amtszeit im Ethikrat, so ist es festgelegt. Das gilt auch für die bisherige Vorsitzende Christiane Woopen. Sie ist Professorin für Medizinethik an der Universität Köln und jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau Woopen!
Christiane Woopen: Guten Morgen, Frau Dittrich!
Dittrich: Wenn Sie ihre acht Jahre im Deutschen Ethikrat Revue passieren lassen, welches Thema hat Sie als Ethikerin am meisten umgetrieben?
Woopen: Wir haben eine Vielzahl von Themen bearbeitet. Es waren insgesamt elf Stück, kurze oder auch längere Empfehlungen. Und jedes dieser Themen hat mich auf eine eigene Weise sehr in Anspruch genommen. Insofern kann ich das jetzt zwischen den Themen gar nicht gewichten, sondern eigentlich nur nach der jeweiligen Bedeutung.
"Fortpflanzungsmedizin ist ein drängendes Thema"
Dittrich: Und welches Thema hatte die größte Bedeutung?
Woopen: Also ich glaube, die langfristigste Bedeutung jedenfalls, mit einem immer noch aktuellen Handlungsbedarf für Gesetzgeber und Politik, ist die Zukunft der genetischen Diagnostik. Die Entwicklung in dem Bereich ist so schnell und so umfangreich und tiefgreifend und das Hineinwirken in das Medizinsystem auf so vielfältige Weise gegeben, dass ich da die Empfehlungen, die der Ethikrat 2013 gegeben hatte, für aktueller denn je halte und hoffe, dass die Politik sie auch tatsächlich aufgreift und noch weiter umsetzt.
Ein anderes Thema ist der Hirntod und die Entscheidung zur Organspende. Da hat ja der Ethikrat unter anderem darauf hingewiesen, dass die Aufklärungsmaterialen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung weiterentwickelt werden müssen. Das hoffe ich natürlich auch noch darauf, dass das getan wird.
Dittrich: Das heißt, das sind auch so die Themen, die auch in der Zukunft den neuen Ethikrat beschäftigen werden?
Woopen: Nein, das glaube ich nicht. Dafür gibt es ja jetzt die umfangreichen Stellungnahmen. Dass das jetzt noch einmal aufgegriffen wird, halte ich nicht für dringlich. Ich hoffe, dass die beiden letzten Stellungnahmen zur Embryospende und auch zum Patientenwohl, die als ethischer Maßstab für das Krankenhaus ja erst kürzlich vorgelegt wurden, nun auch hoffentlich sehr kraftvoll von der Politik und auch vom Gesetzgeber aufgegriffen werden, denn dort sind sehr dezidierte Empfehlungen gegeben worden, die meiner Meinung nach auch dringlich sind.
Der zukünftige Ethikrat wird hoffentlich – das kann ich mir natürlich jetzt nur wünschen – das aufgreifen, was der alte Ethikrat nicht mehr weiter hat führen können, nämlich die Stellungnahme zur Big Data, zur ganzen Digitalisierung im Gesundheitsbereich. Die Fortpflanzungsmedizin ist ein schon seit vielen Jahren drängendes Thema, das einer umfassenden Modernisierung bedarf. Wobei ich jetzt mit modern nicht besonders liberal meine, sondern einfach den modernen Technologien, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt haben, tatsächlich gerecht wird.
"Der Ethikrat kann einen langen Atem haben"
Dittrich: Was hatten Sie denn für einen Eindruck, wie wichtig die Empfehlungen des Ethikrates für die Politik sind? Setzen die das dann auch um, was Sie empfohlen haben?
Woopen: Das Verhältnis des Ethikrates zur Politik ist in den letzten vier Jahren deutlich intensiver geworden – sowohl der Austausch mit der Bundesregierung als auch derjenige mit dem Bundestag auf unterschiedlichen Ebenen. Manche Empfehlungen werden sehr dankbar und umfassend aufgenommen. Andere Empfehlungen werden wiederum nicht aufgenommen, weil sie gerade entweder nicht in die politische Meinungsbildung passen oder ins thematische Profil.
Jetzt kann aber auch der Deutsche Ethikrat einen langen Atem haben. Manche von diesen Empfehlungen werden dann eben erst Jahre später umgesetzt, wie beispielsweise das Gesetz zur vertraulichen Kindesabgabe. Insofern muss man unterscheiden, ob es einen sehr kurzfristigen oder einen mittelfristigen Handlungsbedarf gibt.
Dittrich: So war es etwa auch beim Inzestverbot. Da hat der Ethikrat eine Lockerung empfohlen und das kam in der Politik nicht so gut an. Sie haben das jetzt eben schon angesprochen, dass es auch darauf ankommt, dass so etwas ins politische Programm passt. Heißt das, dass die Empfehlungen nur dann Geltung haben, wenn sie ins politische Programm passen?
Woopen: Nein, das glaube ich nicht. Beim Inzestverbot war leider vergessen worden, dass der Ethikrat ja nicht nur eine gewissen Lockerung, sondern auch eine Verschärfung empfohlen hat. Aber dass das Thema nicht unmittelbar von der Politik aufgegriffen wird, damit haben wir natürlich damals gerechnet. Es geht nicht nur um die Beratung der Politik im Ethikrat. Das andere ist das Hineinwirken in die Öffentlichkeit, also Themen zu setzen und eine gewisse Nachdenklichkeit und Bewusstseinsbildung herbeizuführen, denn viele von den Themen, die der Ethikrat behandelt, ragen in das Leben der einzelnen Menschen hinein.
Und da muss auch jeder seine eigene Haltung dazu finden und bestimmte Entscheidungen treffen – beispielsweise, ob er eine genetische Diagnostik in Anspruch nehmen möchte. Das dritte ist die internationale Zusammenarbeit. Da hat der Deutsche Ethikrat gerade den Global Summit aller Ethikräte der Welt in Berlin abgehalten und veranstaltet. Und die Verständigung auf der globalen Ebene ist natürlich ganz besonders wichtig bei Themenstellungen wie der Digitalisierung oder der Bio-Sicherheit, die naturgemäß an den Grenzen der Staaten nicht Halt machen.
Dittrich: Frau Woopen, nun gibt es auch Kritik an der Zusammensetzung des neuen Rates, dass beispielsweise kein IT-Experte dabei ist, obwohl ja Big Data als Thema da ist. Teilen Sie diese Kritik?
Woopen: Ja, diese Kritik teile ist durchaus. Jetzt muss man allerdings dem neuen Ethikrat erst einmal die Chance geben, sich zu konstituieren und die Arbeitsprogramme und die Arbeitsweise für sich zu entwickeln. Der Ethikrat hat glücklicherweise die Möglichkeit – je nach dem Thema, dass er dann auswählt, für die Arbeitsgruppen externe Experten als Dauergäste mit einzubinden. Insofern, wenn da tatsächlich für ein Thema, das sie sich aussuchen, eine bestimmte Expertise fehlt, dann können sie sich von außen einladen.
Dittrich: Sagt die Medizinethikerin Christiane Woopen, bisherige Vorsitzende im Deutschen Ethikrat. Nach zwei Amtsperioden scheidet sie aus diesem Gremium aus, das sich an diesem Donnerstag neu konstituiert. Frau Woopen, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Woopen: Sehr gerne.