Archiv

Deutschland und die Flüchtlinge
"Da steckt noch sehr viel Potenzial drin"

Aktuell gebe es "enormes ehrenamtliches Engagement", sagte der Migrationsforscher Jochen Oltmer im DLF. Noch deute nichts darauf hin, dass Deutschland überfordert sei mit den ansteigenden Flüchtlingszahlen. Auf Dauer allerdings müsse die Organisation der Hilfe verbessert werden.

Jochen Oltmer im Gespräch mit Benjamin Hammer |
    Ein Schild mit der Aufschrift "Welcome to Neu-Isenburg"
    Hunderte Flüchtlinge wurden im Erstaufnahmelager Neu-Isenburg willkommen geheißen (picture alliance/dpa/Frank Rumpenhorst)
    Benjamin Hammer: Deutschland hilft, es nimmt eine enorme Zahl von Flüchtlingen auf, und ich habe vor der Sendung über die Hilfsbereitschaft der Deutschen mit Jochen Oltmer gesprochen. Er ist Professor am Institut für Migrationsforschung der Uni Osnabrück. Meine erste Frage: Ist Deutschland von der großen Zahl der Flüchtlinge überfordert?
    Jochen Oltmer: Ich denke nicht, dass die Bundesrepublik Deutschland überfordert ist. Zumindest deutet im Moment vor dem Hintergrund ja schon seit vielen Monaten ansteigender Flüchtlingszahlen nichts darauf hin, dass die Bundesrepublik überfordert ist. Wir sehen, dass es in mancherlei Beziehung hakt, dass es, was insbesondere die Bearbeitung der vielen Asylanträge angeht, durchaus einen erheblichen Stau gibt, aber wir sehen gleichzeitig eben auch eine enorme Hilfsbereitschaft, eine enorme Spendenbereitschaft, ein enormes ehrenamtliches Engagement. Und wir sehen viele Bemühungen, nun tatsächlich auch von politischer Seite diese Situation zu steuern und neue Perspektiven zu entwickeln, die am Ende auch helfen, mit dieser erhöhten Zahl von Flüchtlingen umzugehen.
    Hammer: Jetzt beschäftigen sie sich seit Jahren mit der Migration. Gibt es im Moment eine besondere Kultur der Hilfsbereitschaft, eine besondere Willkommenskultur in Deutschland? Ist das was Besonderes, oder gab es das schon immer?
    Oltmer: Was wir beobachten können, ist in der Tat, wenn es um Flüchtlingsbewegungen geht, dass dann auch tatsächlich Hilfsbereitschaft da ist, dass insgesamt die Flüchtlingsarbeit gekennzeichnet ist durch sehr viele Ehrenamtliche. Man muss allerdings doch sagen, dass aktuell die Hilfsbereitschaft besonders stark ausgeprägt ist. Besonders stark ausgeprägt ist es auch im Vergleich etwa zu den 1990er-Jahren, den frühen 1990er-Jahren, als wir es auch mit einer relativ starken oder sogar sehr starken Asylzuwanderung zu tun hatten, wo zwar auch durchaus ehrenamtliches Engagement auszumachen war, aber nicht in dem Maße, wie wir es heute kennen. Von daher letztlich schon doch ein hohes, ein sehr hohes Maß an Hilfsbereitschaft.
    Hammer: Sehen Sie persönlich ein Risiko, dass sich das Blatt insofern noch mal wenden kann, als dass der Enthusiasmus, das Engagement der Menschen in ein paar Monaten abebbt?
    Oltmer: Ein solches Risiko gibt es durchaus. Ein Aspekt scheint mir zu sein, dass man ja doch den Eindruck hat, dass diverse Ehrenamtliche, diverse freiwillige Aufgaben übernehmen, Aufgaben übernehmen müssen, die an sich Behörden leisten müssen, oder ganz konkret Behörden unterstützen, so dass man sich schon fragen kann, ob in jeder Hinsicht die staatlichen Institutionen auch die Arbeit leisten, die sie leisten müssten. Das hat zur Folge oder das kann zur Folge haben, dass es auch durchaus Überlastungen gibt in diesem Feld. Und wenn sich solche Überlastungen tatsächlich über viele Wochen, über viele Monate zeigen, dann kann natürlich, denke ich, auch die Hilfsbereitschaft zurückgehen. Das wäre ein Punkt, über den man ganz explizit insbesondere deshalb nachdenken muss, weil, glaube ich, die Notwendigkeit besteht, stärker auch diese Hilfeleistung, dieses ehrenamtliche Engagement zu organisieren. Da steckt noch sehr viel Potenzial drin im Bereich der Organisation dieser Tätigkeiten.
    Hammer: Was halten Sie von der Idee der EU-Kommission, die Wirtschaftsleistung und andere wirtschaftliche Faktoren zu berücksichtigen, wenn es um die Verteilung der Flüchtlinge in Europa geht?
    Oltmer: Die EU-Kommission orientiert sich in der Hinsicht ja an dem, was beispielsweise in Deutschland schon seit langem gemacht wird, wenn es darum geht zu schauen, wohin Flüchtlinge, wohin Asylbewerberinnen und Asylbewerber verteilt werden. Wir kennen in der Bundesrepublik seit vielen Jahrzehnten den Königsteiner Schlüssel, der ganz konkret sagt, wohin solche Umverteilungen stattfinden sollen, und dieser Königsteiner Schlüssel orientiert sich auch an der Wirtschafts- beziehungsweise Steuerleistung und an anderen Kriterien. Das scheint mir grundsätzlich nicht falsch zu sein, denn es geht ja hier in diesem Zusammenhang auch darum, gegenüber den Mitgliedsstaaten, gegenüber den Bevölkerungen in Europa deutlich zu machen, dass solche Maßnahmen auch legitim sind und dass es nachvollziehbare Kriterien gibt, ganz konkret Zahlen festzulegen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.