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Deutung des Islams (1)
Der barmherzige Gott

Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster, hat erstmals für den deutschsprachigen Raum eine zeitgenössische islamische Theologie vorgestellt. Er zeigt, wie der Islam sich zu einer Theologie eines barmherzigen Gottes wandeln kann.

Das Gespräch moderierte Rüdiger Achenbach |
    Koran und Gebetskette
    Muslime und Gott: "Eine dialogische Beziehung" (dpa / picture alliance / Roos Koole)
    Darüber diskutiert Rüdiger Achenbach mit Mouhanad Khorchide, Serdar Güneş (Institut für Studien der Kultur und Religion des Islams an der Universität Frankfurt am Main), Abdul Ahmad Rashid (Redakteur beim ZDF) und Abderrahmane Ammar (Soziologe und Islamwissenschaftler aus Marokko).

    Rüdiger Achenbach: Herr Khorchide, in der öffentlichen Wahrnehmung hat man oft den Eindruck, dass für viele Muslime vor allem der Gehorsam gegenüber den Forderungen Gottes im Zentrum ihrer Religiosität steht. Ist diese Vorstellung vom absoluten Gehorsam eigentlich für den Islam charakteristisch?

    Mouhanad Khorchide: Wir Muslime im Allgemeinen, wenn wir von Gott sprechen, wir projizieren sehr viel in Gott hinein. Wir projizieren vor allem eine eher patriarchalische Vorstellung von Gott. Ein Stamm, wo der Patriarch des Stammes für ganz oben an der Spitze steht und seine Anweisungen nach unten gibt und die müssen einfach unhinterfragt befolgt werden – unkritisch einfach hingenommen werden. Das ist eine menschliche Projektion. Mir ist es ein großes Anliegen, wenn wir vom Gottesbild im Islam sprechen, dass wir zum Koran zurückkehren und uns genauer anschauen, wie stellt sich dieser Gott uns Menschen vor. Und offensichtlich stellt sich dieser Gott so vor, dass er Interesse hat an einem Dialog mit den Menschen. Er möchte eine Beziehung eingehen mit den Menschen, wenn er zum Beispiel in der 5. Sure über sich selbst sagt: Er möchte Menschen erschaffen, die er liebt und die ihn lieben.

    Achenbach: Dann wäre das keine Herr-Knecht-Beziehung.

    Khorchide: Genau, auf jeden Fall kein Befehlshaber- und Befehlsempfänger-Beziehung, sondern eine Liebesbeziehung, eine dialogische Beziehung. Da kommt noch ein Aspekt dazu, auch dass Gott die Welt auch so konzipiert hat, dass er seinen Willen nach Liebe, nach Barmherzigkeit nicht alleine realisieren möchte, sondern er ist "angewiesen" – in Anführungszeichen, bitte jetzt nicht missverstehen – auf die Kooperation des Menschen, dass der Mensch sagt: Gott, ich stehe dir zur Verfügung, du willst Liebe, Barmherzigkeit – aber du greifst nicht direkt in der Welt ein, sondern du greifst durch uns Menschen ein. Das bedeutet, in jeder Geste der Liebe, der Barmherzigkeit, die ein Mensch tätigt, manifestiert sich ein Stück göttliche Liebe, göttliche Barmherzigkeit. Und so kooperieren wir eigentlich Seite an Seite mit Gott. So verstehe ich die Beziehung Mensch-Gott.

    Achenbach: Das könnte bedeuten, dass der Mensch von Gott sozusagen als Medium für seinen Plan in der Welt eingesetzt wird.

    Khorchide: Definitiv. Der Mensch ist Medium, durch das Gott eingreift in der Welt. Gott greift nicht direkt ein – aus Rücksicht auf die Freiheit der Menschen, damit auch die Welt berechenbar ist für uns Menschen. Deshalb hat Gott so die Welt konzipiert, dass er eben durch den Menschen durchgreift in dieser Welt. Und wenn der Mensch nicht mit kooperiert mit Gott, dann sucht Gott nach Plan B, den nächsten Menschen. Und macht weiter Angebote – auch für die Menschen – mit der Hoffnung, dass sie mit ihm kooperieren, um seinen Willen erfahrbare Wirklichkeit jetzt und hier zu machen.

    Achenbach: Sie haben jetzt die Beziehung Mensch zu Gott und Gott zu Mensch als ein Vertrauensverhältnis dargestellt.

    Khorchide: Ja.

    Achenbach: Wie geht das zusammen, wenn man auf der anderen Seite zum Beispiel kein kritisches Denken, kein kritisches Hinterfragen hat. Das passt nicht zusammen. Das heißt also, hier – haben Sie gesagt – muss es eine dialogische Beziehung sein, eine Beziehung im Dialog. Das heißt also, kritisches Hinterfragen muss möglich sein.

    Khorchide: Kritisches Hinterfragen muss nicht nur möglich sein, sondern dass ist die Grundvoraussetzung überhaupt für eine dialogische und aufrichtige, vor allem aufrichtige Beziehung mit Gott. Denn Gott will keine Marionetten, die einfach mitmachen, unkritisch etwas hinnehmen, sondern schon auch aus Überzeugung. Damit ich von etwas überzeugt bin, muss ich das hinterfragen, muss kritisch auch mit der Materie umgehen. Das zeigt uns auch der Koran an vielen Beispielen, auch beim Umgang mit einigen Propheten, dass sie gefördert wurden, auch zu hinterfragen, motiviert wurden, auch zu hinterfragen. Und nicht einfach etwas so hinzunehmen.

    Achenbach: Herr Günes, die dialogische Beziehung braucht ein Vertrauensverhältnis, haben wir gesagt. Gibt es denn im Koran Stellen, wo man sagen kann: Gott zeigt hier seine Nähe dem Menschen?

    Serdar Güneş: Eine der klassischen Koranstellen ist, dass Gott dem Menschen näher ist als seine Halsschlagader. Das zeigt natürlich auch: Gott kennt uns besser, als wir uns selbst. Damit will man auch sagen, dass wir uns nicht verstellen brauchen. Wir können Gott nicht belügen. Alles, was wir denken oder was wir fühlen, ist für Gott ein offenes Buch. Die Ehrlichkeit resultiert hier daraus. Je besser und je ehrlicher wir uns an Gott binden, desto freier sind wir auch gegenüber den Abhängigkeiten der Gesellschaft und gegenüber anderen Menschen oder Abhängigkeitsverhältnissen, sei es politischer oder sozialer Art. Und ich denke, was Mouhanad Khorchide auch gesagt hat – in Bezug auf die Propheten – ist auch Modell für die Gläubigen selbst im Umgang mit Menschen oder auch Systemen oder der Umwelt an sich.

    Achenbach: Sie haben das Thema Freiheit angesprochen, Herr Rashid. Freiheit im Verhältnis zu Gott heißt dann auch, sich für Gott zu entscheiden – in freier Entscheidung.

    Abdul Ahmad Rashid: Das ist das, was mir so an diesem Ansatz von Mouhanad Khorchide gefällt, dass ich auch sagen kann – als Mensch, ich liebe Gott, nicht nur Gott liebt uns, sondern ich liebe Gott. Das ist das, was ich so bei den Muslimen vermisse. Wir sagen immer, wir lieben den Propheten, aber wir fürchten Gott. Eine Beziehung, die auf Angst basiert und auf Ehrfurcht alleine, das ist mir nicht genug. Ich möchte sagen können, ich kann mich ja fallen lassen bei dem Gott. Das hört sich jetzt vielleicht sehr christlich an für viele Muslime, aber das ist das, was ich aus diesem Ansatz von Mouhanad Khorchide rausgehört habe. Es gibt T-Shirts, auf denen drauf gedruckt steht: I love my prophet – ich liebe meinen Propheten. Aber ich habe noch die von Muslimen gehört, dass sie sagen: Ich liebe Gott. Mir persönlich bringt das als Muslim sehr viel, wenn ich diesen Ansatz von Mouhanad Khorchide richtig verstehe. Und ich glaube, ich habe ihn richtig verstanden.

    Achenbach: Herr Ammar, können Sie diese Meinung teilen? Abschied von einem Richter-Gott, sozusagen?

    Abderrahmane Ammar: Ja, ich kann das gut nachvollziehen, denn die meisten Muslime erleben und praktizieren einen Kontakt zu Gott, wo Gott als allmächtig bezeichnet wird. Das hat aber mit der Kultur zu tun. Damals zum Beispiel, als der Koran offenbart wurde, unter den Arabern damals, gab es viel Krieg und es waren viele Piraten unterwegs. Denn wie könnte man einem Araber damals beibringen, dass das unmoralisch ist? Das geht nur, wenn man ihm sagt: Passt auf, Gott ist allmächtig. Also wenn sie das und jenes machen, werden sie zur Hölle gehen. Wenn sie einen Diebstahl begehen, dann werden wir ihre Hände abhacken. Das ist wie bei einem Kind. So kann ich einem Kind erklären: Wenn sie lügen, das ist unmoralisch und das darf nicht sein. Manchmal greift man ein und sagt: Wenn sie lügen, dann kommt vielleicht morgen ein Phantom und wird dich bestrafen. Also, dieses Bild ist leider, leider verbreitet – und das ist nicht schön. Gerade bei vielen jüngeren Muslimen, die immer dieses Bild von Gott praktizieren und verbreiten, dass er allmächtig ist, dass er uns kontrolliert, dass er Rache begegnet und so weiter.

    ACHENBACH: Herr Khorchide...

    Khorchide: Ich finde diesen Aspekt auch sehr wichtig: Wie verhält sich die Strafe Gottes zu seiner Barmherzigkeit? Und es gibt auch ein Missverständnis bei vielen Muslimen, wenn man vom barmherzigen Gott spricht, dass sie meinen dann: Moment, hier wird etwas ausgeblendet. Was ist mit dem strafenden Gott, der sich als sehr strafend auch im Koran beschreibt. Es gibt einen interessanten Vers im Koran, wo Gott sagt: Meine Strafe erreicht, wen ich möchte, aber meine Barmherzigkeit umfasst alle Dinge. Das bedeutet, hier haben wir nicht auf der einen Seite den barmherzigen Gott, der manchmal barmherzig und auf der anderen Seite manchmal bestrafend ist, sondern seine Barmherzigkeit umfasst alle Dinge, das bedeutet auch seine Strafe. Und so müsste man das genauso verstehen, wie Herr Ammar das angedeutet hat: auch diese Verse im Koran, wo Gott sich als strafend zeigt im Koran, dass das eine pädagogische Maßnahme aus seiner Barmherzigkeit heraus ist. Ebenso, wie die Eltern, Vater oder Mutter, wenn sie ein Kind sanktionieren, dann meinen Sie es nicht böse, es ist kein Racheakt gegen das Kind, sondern lediglich eine pädagogische Maßnahme, um das Kind wohlmöglich zum Beispiel wachzurütteln oder an seine Verantwortlichkeit zu erinnern. Das finde ich auch sehr wichtig, diesen Aspekt.

    Achenbach: Sozusagen als Erziehungsmaßnahme, Herr Rashid?

    Rashid: Ja, wir haben uns jetzt auf den strafenden Gott fokussiert. Aber der strafende Gott hat ja auch einen anderen Aspekt, nämlich er ist auch ein belohnender Gott. So wird er ja auch oft von Muslimen verstanden. Also, das ist das, was häufig Muslime interessiert: Wenn du das und das tust, bekommst du Strafe oder bekommst du eine Belohnung. Das ist ja auch eine Rhetorik, mit der die Salafisten in Deutschland sehr gerne arbeiten. Mich würde persönlich mal interessieren, eine Frage an Professor Khorchide, wo dieses theologische Verständnis – Belohnung und Bestrafung -, wo das eigentlich herkommt. Ich selber habe eine persönliche Erfahrung. Als ich vor vielen Jahren die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht habe, um die Kaaba herum, das sieht nach außen wie eine friedliche Masse aus, wenn man es im Fernsehen sieht, aber wenn man dort unten ist, dann – muss ich leider sagen – ein Wegdrängen, ein Hauen und Stechen. Jeder möchte so nah wie möglich an die Kaaba rankommen, möchte ihn berühren. Warum? Weil man sagt, dann bekommt man Belohnung. Aber was ist das für ein Gottesdienst, den ich dort verrichte, wenn ich eine Belohnung bekommen möchte, aber mein Bruder oder meine Schwester – sage ich mal – wegstoße und eigentlich die zwischenmenschliche Beziehung missachte?

    Achenbach: Herr Khorchide...

    Khorchide: Also wichtig ist, Belohnung, Bestrafung nicht so zu verstehen als etwas, was von außen kommt. Also ich mache etwas Gutes, ich kriege von außen eine Belohnung. Oder ich habe Angst vor eine Sanktion, die von außen kommt, sondern die Belohnung oder die Bestrafung ist eigentlich die andere Seite der Medaille meine Handlung. Also, ich belohne mich oder ich bestrafe mich, wenn ich etwas Gutes mache. Ich habe ein Problem damit, wenn jemand sagt, ich mache etwas Gutes, um dafür später zum Beispiel im Paradies belohnt zu werden. Als pädagogische Maßnahme braucht man das vielleicht, wie ein kleines Kind, das das irgendwann braucht oder hoffentlich bald nicht mehr. Sondern ich gehe davon aus, das, was der Koran oder Islam erreichen möchte, ist, dass der Mensch das Gute aus gutem Willen macht und nicht, weil man dafür Belohnung erwartet. Ich kann nicht den armen Menschen auf der Straße, bevor ich ihm Geld gebe oder ihm helfe, fragen, krieg ich was dafür, wenn ja, dann mach ich das. Denn letztendlich mache ich das nicht, weil das gut ist, sondern ich drehe mich um meine eigene Achse. Ich mache das nur, weil ich selber was davon haben möchte, wenn nicht im Diesseits dann im Jenseits. Im Paradies – sei es jetzt körperliche Vergnügung oder materielle Vergnügung, die ich mir erhoffe. Das ist moralisch nicht ganz sauber. Moralisch sauber ist es, wenn man sagt, ich mache das Gute, weil es gut ist, weil das Gute eben Gott selbst, seine Liebe, seine Barmherzigkeit manifestiert. Und das ist mein Motiv und nicht eine körperliche oder in irgendeiner Form materielle Belohnung zu bekommen oder einer Bestrafung zu entgehen.

    Rashid: Das ist richtig. Man soll ja eine Tat vollbringen, um ihrer selbst willen und nicht ständig hinterfragen. Aber was ich mitbekommen habe – ein anderes Beispiel: Vor einigen Jahren war ich bei einer Veranstaltung in Bonn unter Muslimen. Da war eine junge, muslimische Frau und sie sagte: Wir müssen für Gott etwas tun – sie hat bewusst Allah gesagt, nicht Gott – um mehr Wohltaten im Paradies zu erlangen. Wo dann mir sich die Frage ausdrängte: Ist Gott eigentlich ein Buchhalter, der nur ständig aufschreibt, was wir tun? Und das bewertet nach guten und schlechten Taten? Das ist eine für mich befremdliche Vorstellung.

    Achenbach: Das ist natürlich eine Vorstellung, die es in anderen Religionen so auch gibt. Dass man versucht, gute Werke zu tun, wie man auch in Christentum sagt, um sich damit etwas zu verdienen. Das Problem ist nur, und ich glaube, das hat jetzt hier gehört, es darf nicht bei Äußerlichkeiten stehen bleiben. Sie haben das, Herr Khorchide, deutlich gemacht, man muss das Gute tun, um des Guten selbst Willen. Das heißt also, das ist eine innere Einstellung. Im Grunde genommen ist es eine religiöse Haltung, eine Haltung, die zur Lebenshaltung wird. Das heißt, aus mir selbst erkenne ich in meiner Beziehung zu Gott, wie ich zu leben habe, wie ich mein Leben zu gestalten habe.

    Khorchide: Genau. Kant würde von der Selbstverpflichtung sprechen. Ich verpflichte mich innerlich, es ist nicht eine von außen getragene Verpflichtung, die ich bringen möchte oder abhake - aus Angst oder was immer -, sondern es ist eben eine Lebenshaltung. Ich glaube, das ist das, was Religionen letztlich erreichen wollen, dass wir eben diese innere Haltung haben – in jeder Lebensphase, egal ob wir kontrolliert, sozial kontrolliert, juristisch kontrolliert sind oder nicht.

    Achenbach: Man könnte es auf die einfache Formel bringen: Man muss die Religion verinnerlichen.

    Khorchide: Definitiv. Ja.

    Achenbach: Würden Sie dem zustimmen, Herr Güneş?

    Güneş: Wenn man von diesem Kaufmannsaspekt spricht, dann hat das natürlich damit zu tun, dass das kulturell geprägt ist. Also die Religion kommt aus einer Kultur, die – wie schon vorher gesagt wurde – patriarchal geprägt ist. Man ist wahrscheinlich auch kaufmännisch unterwegs. Selbst die zwischenmenschlichen Beziehungen werden mit diesen Ausdrücken geprägt und auch bewertet. Da ist das auch ganz normal. Oder man kann auch nicht sagen, das sollte man abstellen. Das ist ein Prozess, der mit der Zeit auch einsetzt. Nehmen wir mal die Situation in Deutschland. Die meisten Menschen, die hier aufwachsen, werden die kulturellen Phänomene – also in der Sprache und in der Redewendung – automatisch übernehmen, wenn sie hier aufwachsen. Das heißt, kulturelle Prägung in der Sprache, die auch vielleicht christlicher Natur sind, werden dadurch Eingang in den Islam finden oder in die islamische Betrachtung. Ganz normal, das nennt man ja Inkulturation. Das heißt, der Islam ist sozusagen als Religion in jeder Gesellschaft beheimatet – nimmt eine bestimmte Farbe an. Dass meine Eltern noch so sprechen mit Verboten oder Geboten, das ist etwas, was man den Leuten nicht verbieten kann. Die neuen Generationen, die hier aufwachsen oder auch in ganz Europa, die werden sich mit der Zeit anders ausdrücken. Das ist ein Prozess.

    Ammar: Es ist sehr wichtig, was sie gesagt haben. Das wäre dann machbar, aber unter einer Voraussetzung, dass man unabhängig ist. Also, viele Muslime erleben den Islam in einer Gemeinde. Also, viele sind nicht frei, wie sie denken und wie sie Gott auch kennenlernen. Das hat auch damit zu tun, dass die Masse einen Druck ausübt. Zum Beispiel als junger Muslime müssen wir dem Imam zuhören. Wir dürfen nicht über Gott sprechen, über den Koran sprechen, weil wir noch klein sind. Da muss man warten, bis man graue Haare hat, dann darf man zu Gott etwas sagen. Das ist das Muster "Meister und Schüler". Und das wäre falsch, weil Gott nicht für bestimmte Theologen oder für bestimmte Generationen da ist. Gott ist für uns alle da. Und da müsste es möglich sein, Gott für sich selbst zu interpretieren, zu lieben und sogar den Koran für sich zu interpretieren und lesen. Was mir Gott selber bedeutet, da natürlich bin ich marokkanischer Abstammung, ohne es zu wollen, da habe ich viele marokkanische Elemente, die ich in mir trage. Aber ich muss auch in der Lage sein, zu sagen: Ich muss auch meine eigene Position haben, ich will Gott individuell erleben. Und da muss ich nicht immer alles machen, was meine Gemeinde, meine Familie macht.

    Achenbach: Nun gibt es ja im Islam keinen Klerus. Es gibt im Islam auch keine religiöse Hierarchie. Heißt das, dass jeder einzelne Gläubige ohne irgendeine Zwischeninstanz – Sie haben es ja gerade angedeutet – in der Beziehung zu Gott steht. Das heißt also, auch alleine in Verantwortung vor Gott steht. Herr Khorchide.

    Khorchide: Definitiv. Es gibt eine Erzählung. Da kam ein Mann vom Prophet Mohammed und hat ihn etwas gefragt und der Prophet hat ihm als Hinweis auf diesen individuellen Aspekt gesagt: Fragt dein Herz – und hat das dreimal wiederholt. Egal, was sie dir an Rechtsgutachten geben. Damit wollte der Prophet einen Hinweis geben. Letztendlich ist jeder Mensch für sich selbst, für seine Entscheidungen verantwortlich. Man kann das nicht delegieren an einen Klerus oder Gelehrten oder Iman oder was immer. Man kann selbstverständlich recherchieren, gucken, sich die Meinungen anhören, aber letztendlich, was verbindlich ist, ist das, wofür ich mich entscheide. Ich kann nicht vor Gott stehen und meine Verantwortlichkeit delegieren und sagen: Ich habe das so gemacht, weil mir gesagt wurde, dass das richtig ist. Sondern ich muss dazu stehen und sagen: Ich habe es für mich gefunden, dass das das Richtige ist, was ich dann verantworte.

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