Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Guten Tag, Frau Buntenbach.
Annelie Buntenbach: Guten Tag.
Dobovisek: In 20 Jahren wird jeder fünfte neue Rentner armutsgefährdet sein, prognostiziert die Bertelsmann-Stiftung. Zeichnet die Studie ein realistisches Bild?
Buntenbach: Ich denke, ja, und ich glaube, die Studie zeigt, dass wir heute handeln müssen und dass wir das nicht auf die lange Bank schieben dürfen. Denn wir haben wegen der Entwicklung am Arbeitsmarkt, des großen Niedriglohnbereichs, den wir in Deutschland haben, und den vielen Lücken in der Erwerbsbiografie, die daraus auch folgen, auf der einen Seite und den gekürzten Renten – das sind ja Entscheidungen von Anfang des Jahrtausends gewesen – eine Situation, dass wenn diese beiden Dinge zusammentreffen, dann viele in Altersarmut zu rutschen drohen. Da müssen wir gegensteuern und das müssen wir heute tun.
Agenda 2010? "Eine falsche Weichenstellung"
Dobovisek: Daran ist ja auch die Agenda 2010 der Sozialdemokraten nicht gerade unbeteiligt, gerade wenn wir auf den Niedriglohnsektor blicken. War das der größte Fehler, wenn wir jetzt auf die Renten uns konzentrieren?
Buntenbach: Das war sicherlich eine falsche Weichenstellung, die sich massiv auswirkt. Wir befinden uns da – und da war der Mindestlohn ein wichtiger Schritt, um wieder dem Druck nach unten am Arbeitsmarkt einen Riegel vorzuschieben – in einer Aufholjagd für gute Arbeit, auf dem Weg zu einer neuen Ordnung der Arbeit, die dringend nötig ist, die dazu führt, dass Menschen von ihrer Arbeit auch leben können und auch wieder in den Schutz der sozialen Sicherung zurückgeholt werden müssen oder da einbezogen werden müssen.
Das gilt für die Selbständigen, die im Moment an keiner Stelle abgesichert sind und oft in prekärer Lebenslage sind. Die müssen in den Schutz der Rentenversicherung. Und wir müssen auch die Millionen von Minijobs, die es gibt, umwandeln in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, das heißt hier wirklich ansetzen, um mehr gute Arbeit und auch mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu haben. Das ist die Voraussetzung dafür, damit es dann hinten bei der Rente auch klappen kann.
"Weichen in Richtung Erwerbstätigenversicherung"
Dobovisek: Viele Selbständige sehen das ja nicht unbedingt als Schutz durch die Rentenversicherung, sondern als Zwang, sich an der staatlichen Rente zu beteiligen. Das ist genau das, was Sie wollen.
Buntenbach: Wir wollen den Schutz erreichen und da werden wir natürlich auch mit den verschiedenen Selbständigen oder mit den verschiedenen Interessenlagen hier noch mal genau ins Gespräch gehen müssen, wie wir das denn hinbekommen können, dass zum Beispiel die Arbeitgeber oder die Auftraggeber mit einbezogen werden in die Kosten, die bei der Rentenversicherung hier entstehen, und dass es nicht zu einer Überlastung bei den Selbständigen kommt, wenn sie in die solidarischen Sozialversicherungen einbezogen werden. Aber es kann ja auch nicht sein, dass sie ihr Leben lang schuften und dann im Alter in Altersarmut fallen, und das wird sehr vielen so gehen, wenn wir hier nicht vorsorgen.
Dobovisek: Es gibt noch eine andere ganz große Gruppe an Beschäftigten, die aus der solidarischen Rente ausgeschlossen sind. Das sind die Beamten. Die wollen Sie nicht anfassen?
Buntenbach: Sie wissen ja, wie die Verfassungslage ist bei den Beamten, und das ist sicherlich kein Thema, was man gerade mal mit einem Gesetz irgendwie lösen kann, sondern uns ist klar, dass alle Weichenstellungen, die in dem Bereich der Beamten passieren, Weichenstellungen sind, die sich auf die Zukunft beziehen und nicht auf den jetzigen Bestand. Aber da müssen wir in der Tat in die Diskussion einsteigen und wir müssen die Weichen in Richtung auf eine Erwerbstätigenversicherung ziehen.
Da müssen wir die Weichen auch heute stellen, denn das ist ja ein langfristiges Projekt, und da sehen wir in Österreich oder auch in anderen Ländern, dass das durchaus erfolgreich sein kann, um die Rente auch zu stabilisieren. Und ich glaube, solche Schritte werden wir tun müssen.
"Wir müssen das Rentenniveau stabilisieren"
Dobovisek: Fasse ich das richtig zusammen, Frau Buntenbach, wenn ich sage, jeder der in Deutschland Geld verdient, soll auch in eine Rentenversicherung einbezahlen?
Buntenbach: Das ist die Langfristkonzeption, ja.
Dobovisek: Die SPD spricht ja nun, weil Sie sagen, dass jemand, der sein Leben lang malocht hat, schwer gearbeitet hat, von seiner Rente leben soll, leben können soll, die SPD spricht jetzt von einer Solidarrente. Das ist nicht ganz neu. Bei Ursula von der Leyen hieß das noch Lebensleistungsrente. Warum sollte der Staat bei jemandem aufstocken am Ende, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hat? Dann stimmt es ja so oder so im Rentensystem nicht.
Buntenbach: Was im Rentensystem nicht stimmt, das ist, dass immer noch die Illusion verbreitet wird, man könnte privat hinter den Löchern hersparen, die in der gesetzlichen Rente gerissen worden sind. Wir haben ein sinkendes Rentenniveau. Das ist sozusagen die Automatik, die im Gesetz verankert ist seit 2001. Und wenn diese Weichenstellung nicht geändert wird, diese Automatik, dann wird das Rentenniveau auch weiter sinken. Das ist der erste Schritt, wo wir ansetzen müssen.
Wir sagen als Gewerkschaften, wir müssen das Rentenniveau stabilisieren, das darf nicht noch weiter in den Keller, und wir müssen es dann im weiteren Schritt anheben. Das ist das eine, was wir tun müssen. Aber es gibt natürlich auch konkrete direkte Risiken von Altersarmut und die bestehen auch darin, wenn man langzeitarbeitslos ist, oder bestehen auch darin, wenn man über lange Jahre hinweg sehr wenig verdient hat. Auch die Menschen sollen und dürfen nicht in Altersarmut, in Grundsicherung rutschen. Deshalb haben wir vorgeschlagen, dass man am Ende des Arbeitslebens dann in der Tat aufstocken muss, wenn man jahrzehntelang wenig verdient hat. Da gibt es Vorschläge wie die Rente nach Mindesteinkommen. Das ist das, was bis 1993 schon gilt, was in der Systematik ist.
Es gibt auch andere spannende Vorschläge wie die Solidarrente, die die SPD jetzt vorschlägt. Ganz entscheidend ist, dass hier wirklich diejenigen, die über lange Jahre wenig verdient haben, am Ende nicht in der Grundsicherung landen.
"Die gewerkschaftlichen Vorschläge gehen einen Schritt weiter"
Dobovisek: Solidarrente, erste, zweite, dritte Säule, private Altersvorsorge, das alles gibt es so in Österreich zum Beispiel nicht, weil Sie Österreich vorhin erwähnt haben, Frau Buntenbach. Warum können die Österreicher das so viel besser als die Deutschen?
Buntenbach: Die Österreicher haben eine andere Geschichte mit ihrer Rentenversicherung und Entscheidungen wie zur Riester-Rente, die wir 2001 hier getroffen haben, einfach nicht getroffen, sondern sich da anders aufgestellt. Das kann man nicht eins zu eins kopieren, aber man kann, glaube ich, schon davon lernen, dass das System, in dem wir vor Altersarmut schützen müssen, wirklich die gesetzliche Rentenversicherung ist. Denn privat hinter den Lücken, die da gerissen werden, herzusparen, das funktioniert schon deshalb nicht: Wenn man wenig verdient, kann man den Eigenanteil gar nicht wuppen, und gerade alleinerziehende oder alleinstehende Frauen, die wenig verdient haben, werden das auch nicht können. Das heißt, sie sind hier auf die gesetzliche Rente und deren Stärkung angewiesen.
Dobovisek: Geht Ihnen die SPD da weit genug mit ihren Vorschlägen?
Buntenbach: Die gewerkschaftlichen Vorschläge gehen hier noch einen Schritt weiter, nämlich dahin, dass wir sagen, wir wollen das Rentenniveau stabilisieren und wollen in einem weiteren Schritt dann anheben, etwa auf 50 Prozent. Aber ich muss sagen, ich bin erst mal schon sehr froh, dass hier es Parteien gibt, die in ihrem Wahlprogramm stehen haben – ich würde mir wünschen, das sind alle Parteien –, dass die Renten nicht weiter gekürzt werden sollen, sondern dass wir hier einen Kurswechsel brauchen und dass wir hier wirklich den Schritt gehen müssen, die gesetzliche Rente wieder zu einem entsprechend breit aufgestellten und starken System zu machen.
Dobovisek: Annelie Buntenbach, Mitglied im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Buntenbach: Gerne!
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