Peter Kapern: "Play it again, Peer” – allen Umfragen zum Trotz halten SPD und Grüne an ihrem Vorhaben fest, im September die Regierungsgeschäfte in Deutschland zu übernehmen. Mal abwarten, was daraus wird. Es wäre das zweite Mal, dass das ökosoziale Bündnis, diese Mehrheit links von der Mitte, die Macht erringen würde - nach 1998. Über diese erste und bislang einzige rot-grüne Bundesregierung hat sich der Heidelberger Zeithistoriker Edgar Wolfrum gebeugt. "Rot-Grün an der Macht", so heißt das Werk, das gerade an die Buchläden ausgeliefert worden ist. Guten Morgen, Herr Wolfrum.
Edgar Wolfrum: Guten Morgen.
Kapern: Herr Wolfrum, über die rot-grüne Regierung ist ja schon eine ganze Reihe von Büchern geschrieben worden, nicht zuletzt diejenigen, die Gerhard Schröder und Joschka Fischer selbst verfasst haben. Nun weist Ihr Verlag darauf hin, dass Ihr Werk die erste quellengestützte Aufarbeitung der rot-grünen Regierung sei. In welche Archive sind Sie denn gestiegen und welche Politiker haben ihre Aufzeichnungen für Sie geöffnet?
Wolfrum: Es war eine ganze Fülle von Quellen, die ich erstmals einsehen konnte. Das sind natürlich in erster Linie die jeweiligen Parteiarchive, wo es Bundesgeschäftsführungsakten, Parteivorstandsakten, Fraktionsprotokolle, Ministerbestände, Arbeitsgruppen und so weiter gibt. Das war eine Fülle von Material, das erst mal geordnet werden musste. Hinzu kamen eine ganze Reihe von Privatquellen damals Agierender, die mir zur Verfügung gestellt wurden. Das war ein wahrer Schatz, was man da herausziehen konnte. Und letztlich haben wir, meine Mitarbeiter und ich, 36 Interviews mit den damals Handelnden geführt. Das waren keine ein- oder zweiminütigen Interviews, sondern mehrstündige, manchmal auch mehrtägige, sodass wir eine ganze Fülle von Quellen haben, die zur Multiperspektivität dieses neuen Buches beitragen und an einigen Stellen zu Neujustierungen und zu neuen Ergebnissen gelangen.
Kapern: An welche denn? An welchen entscheidenden Weichenstellungen dieser Koalitionszeit – greifen wir mal eine heraus: zum Beispiel den Atomausstieg – muss die Geschichte von Rot-Grün an der Macht umgeschrieben oder zumindest in Teilen neu gedeutet werden?
Wolfrum: Es sind vor allen Dingen neben vielen kleineren Dingen drei große Bereiche. Das ist, wie Sie sagen, der Atomausstieg, dann die große Frage – das darf man nicht vergessen -, die die Zeit begleitet hat, Krieg und Frieden, und drittens natürlich auch die Agenda-2010-Politik. Zum Atomausstieg: Es wird ganz deutlich, dass der Atomausstieg eigentlich schon gescheitert war durch eine voreilige Politik, durch eine auf Verstopfung abzielende Politik des grünen Ministers. Und in letzter Minute sozusagen wurde der Atomkonsens …
Kapern: Also durch Jürgen Trittin?
Wolfrum: Jürgen Trittin. – In letzter Minute sozusagen wurde der Atomkonsens noch mal gerettet. Man hatte Schröder und dem Wirtschaftsminister Müller immer unterstellt, sie wollten den Atomausstieg nicht. Sie wollten ihn schon, nur nicht zu den Konditionen, zu den Maximalkonditionen, die von grüner Seite gekommen sind. Also die Grünen haben, um es salopp zu sagen, den Atomausstieg beinahe vor die Wand gefahren und erst als er schon beinahe tot war, ist er dann doch noch mal im Konsens jedenfalls gelungen.
Kapern: Und wie war das in der Frage von Krieg und Frieden, wie Sie sie gerade tituliert haben? Eine tiefe Zäsur war ja der 11. September 2001 und das, was daraus folgte, der Afghanistan-Krieg, an dem sich Deutschland beteiligte, und der Irak-Krieg, an dem sich Deutschland nicht beteiligte, und dieses Nein zum Irak-Krieg war ein Schachzug im Wahlkampf. So war jedenfalls die weitverbreitete Deutung damals, die sich eigentlich bis heute hält. Deckt sich das mit Ihren Erkenntnissen?
Wolfrum: Nein, das kann man so nicht sagen. Grundsätzlich muss man sagen, man muss sich das vorstellen in der Zeit: Rot-Grün tritt an, will eine Reformpolitik im Inneren machen. Beide Parteien kommen irgendwie aus der Friedensbewegung. Und jetzt war man innerhalb von sieben Jahren mit drei Kriegen konfrontiert: Kosovo, Afghanistan, Irak. Nachdem man den Kosovo-Krieg auf Druck der Amerikaner mitgemacht hat, ohne UN-Mandat, und nachdem man den Afghanistan-Krieg mit voller Inbrunst sozusagen mitgemacht hat, da mussten die Amerikaner gar nicht drücken, kam nun der dritte Krieg, der Irak-Krieg, den die Amerikaner in einer Hybris sozusagen bewerkstelligen wollten, und man erkannte sofort von Anfang an - und vor allen Dingen Schröder erkannte dies -, dass im Grunde genommen hier eigentlich es nur um eine offene Rechnung ging des jungen Bush, der im Grunde genommen die Politik des Vaters, die unvollendet geblieben war, zu Ende führen wollte. Und diese wechselnden Begründungszusammenhänge für den Irak-Krieg haben von Anfang an in Deutschland dazu geführt, dass man sich in der UN, in der internationalen Gemeinschaft am Anfang alleine gegen die Amerikaner gestellt hat. Das hat zu großen innenpolitischen Verwerfungen geführt. Aber am Ende war es so, dass durch diese Enthaltung und durch diese Nein-Politik Schröders das Selbstbewusstsein nicht nur in Deutschland, sondern die Stellung Deutschlands in der Welt gewachsen ist.
Kapern: Noch ein anderer Aspekt dieser Phase der rot-grünen Regierung, auch eine Folge aus den Anschlägen vom 11. September: die Zusammenarbeit der transatlantischen Sicherheitsbehörden. In Ihrem Buch zitieren Sie aus einem Aktenvermerk Otto Schilys, ich lese das mal kurz vor: "Habe sofort nach den Terroranschlägen alle deutschen Sicherheitsbehörden angewiesen, ihren amerikanischen Partnern alle erdenkliche Unterstützung zuteilwerden zu lassen." Daraus lässt sich möglicherweise noch kein Freibrief für Prism herauslesen, dieses Abhörprogramm, über das wir derzeit so viel lesen und hören. Gleichwohl: Wurde damals schon von Rot-Grün die Büchse der Pandora geöffnet, deren Plagen heute auf uns niedergehen?
Wolfrum: Na ja, man muss die Kirche auch im Dorf lassen, indem man die Zeit mal beleuchtet. Was haben wir denn eigentlich? 9/11 – das haben wir heute ja schon wieder beinahe vergessen. Es war ein Globalschock, ein apokalyptischer Vorbote. In Amerika sprach man vom ersten Krieg des 21. Jahrhunderts, ein Pearl Harbor der zivilisierten Welt, Ausbruch eines Dritten Weltkrieges sozusagen. Die NATO – das muss man sich vorstellen – ruft erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus, und zwar nicht, weil ein Bündnispartner angegriffen wurde und die Amerikaner ihn verteidigen müssen, sondern gerade im Gegenteil, weil Amerika angegriffen wurde und die Bündnispartner beistehen müssen. In dieser Situation ist es doch natürlich, dass man den Amerikanern jegliche Unterstützung zukommen lässt. Man muss die Akteure, denke ich, schon in der Zeit verstehen, und das war ein unerwarteter und als fundamental empfundener Bruch, dieser Anschlag.
Wer ist eigentlich der Feind? Es ist der internationale Terrorismus. Wo sitzt er? Ich kann nur mutmaßen, will aber auch nicht richtig mutmaßen, weil ich auch keine Geheimdienste-Protokolle gesehen habe. Aber dass in dieser Ausnahmesituation, wo es ja zu weiteren Anschlägen etwa in Madrid und London kam, es zu einem Zusammenhalt und zu einer Zusammenarbeit der Sicherheitskräfte kommt, liegt mir im Grunde auf der Hand, zumal man nicht vergessen darf, dass einige der Terrorpiloten aus Hamburg kamen. Das heißt, das Versagen der deutschen Sicherheitskräfte lag offen zutage.
Kapern: Herr Wolfrum, ein anderes großes Thema dieser ersten rot-grünen Bundesregierung war die Agenda 2010. Daran ist die Koalition letztlich gescheitert, oder genau gesagt an der Vermittlung beim Wähler, aber auch innerhalb der SPD. Heute hat die SPD den Begriff Agenda 2010 fast aus ihrem Wortschatz gestrichen und viele Sozialdemokraten brüsten sich damit, schon immer dagegen gewesen zu sein. Lassen sich solche Beteuerungen nach Ihren Erkenntnissen aufrechterhalten?
Wolfrum: Hart gesagt ist das Geschichtsklitterung. Diejenigen, die in der Zeit gegen die Agenda 2010 waren, lassen sich an wenigen Fingern abzählen. Man stand damals 2003 mit dem Rücken zur Wand. Es ging nicht mehr weiter. Man riss jedes Jahr die Maastricht-Kriterien. Deutschland war der kranke Mann Europas. Und in dieser Situation - man hat auch keine Bundesratsmehrheit, man stand wirklich mit dem Rücken zur Wand -, in dieser Situation die größte Strukturreform in der Geschichte der Bundesrepublik durchzuführen, wäre im Grunde genommen etwas, worauf man, ich sage es einmal, stolz sein könnte. Ich halte es für einigermaßen skandalös – ich will der SPD keine Ratschläge geben -, wie die Distanzierung von dieser Erfolgsgeschichte mittlerweile abläuft. Aus dem kranken Mann Europas ist heute das Kraftzentrum Europas geworden und die Wurzeln dieses Kraftzentrums liegen sicherlich auch, nicht nur alleine, aber auch in der Agenda 2010.
Kapern: 1998 ist Rot-Grün als Projekt gestartet, gar als Generationenprojekt. Mal angenommen, es würde doch noch für Rot-Grün im September reichen, wäre das dann vergleichbar, wäre das eine Fortsetzung dieses Projekts?
Wolfrum: Überhaupt nicht. Das wäre ein lauer Aufguss, würde ich sagen. Die Aufbruchstimmung 1998 war elementar, es hat eine richtige Euphorie geherrscht: auf der einen Seite natürlich Hoffnung, auf der anderen Seite eine genauso große Furcht vor einer ersten Linksregierung in der Bundesrepublik. Das war eine Aufbruchstimmung, eine Herbstromanze, Fischer verglich das mit einem Erdbeben – ein zweifelhafter Vergleich, wie ich finde. Das lässt sich so nicht wiederholen. Insofern ist diese erste rot-grüne Koalition von 98 bis 2005 ein abgeschlossenes Projekt. Alles andere wäre nur ein Aufguss.
Man muss sich auch vor Augen führen, dass sich damals beide Parteien, aber in Sonderheit die SPD ja ein unglaublich modernes Outfit verliehen haben. Man hat Anleihen gemacht bei der Clinton-Administration, bei deren Wahlkämpfen, oder bei Tony Blair, der als großer strahlender Held in Europa, der europäischen Sozialdemokratie galt. Das ist alles verraucht, das ist alles vorbei. Insofern: Was jetzt käme, in welcher Konstellation auch immer, wäre eine normale Koalition, aber das hat nichts mehr zu tun mit dieser Euphorie des Aufbruchs von 1998, denn es war ja nicht nur die politische Generation, sondern es war auch der bevorstehende Umzug nach Berlin, also eine neue Republik, die sozusagen hier gegründet würde: Modernisierung, in Europa herrschten fast überall Sozialdemokraten, nur in Deutschland noch nicht. Insofern ist das eine ganz, ganz andere Konstellation und Rot-Grün II oder III, egal wann auch immer, wäre etwas völlig anderes als das, was wir in der ersten Zeit hatten.
Kapern: "Rot-Grün an der Macht – Deutschland 1998 bis 2005" – so heißt das Buch, erschienen ist es bei Beck, verfasst hat es Edgar Wolfrum, Historiker aus Heidelberg, der gerade bei uns im Gespräch zu Gast war. Herr Wolfrum, vielen Dank für das Gespräch, einen schönen Tag noch. Und ein letzter Hinweis: Eine Rezension dieses Buches hören Sie am kommenden Montag in unserer Sendung "Andruck" ab 19:15 Uhr.
Edgar Wolfrum: Guten Morgen.
Kapern: Herr Wolfrum, über die rot-grüne Regierung ist ja schon eine ganze Reihe von Büchern geschrieben worden, nicht zuletzt diejenigen, die Gerhard Schröder und Joschka Fischer selbst verfasst haben. Nun weist Ihr Verlag darauf hin, dass Ihr Werk die erste quellengestützte Aufarbeitung der rot-grünen Regierung sei. In welche Archive sind Sie denn gestiegen und welche Politiker haben ihre Aufzeichnungen für Sie geöffnet?
Wolfrum: Es war eine ganze Fülle von Quellen, die ich erstmals einsehen konnte. Das sind natürlich in erster Linie die jeweiligen Parteiarchive, wo es Bundesgeschäftsführungsakten, Parteivorstandsakten, Fraktionsprotokolle, Ministerbestände, Arbeitsgruppen und so weiter gibt. Das war eine Fülle von Material, das erst mal geordnet werden musste. Hinzu kamen eine ganze Reihe von Privatquellen damals Agierender, die mir zur Verfügung gestellt wurden. Das war ein wahrer Schatz, was man da herausziehen konnte. Und letztlich haben wir, meine Mitarbeiter und ich, 36 Interviews mit den damals Handelnden geführt. Das waren keine ein- oder zweiminütigen Interviews, sondern mehrstündige, manchmal auch mehrtägige, sodass wir eine ganze Fülle von Quellen haben, die zur Multiperspektivität dieses neuen Buches beitragen und an einigen Stellen zu Neujustierungen und zu neuen Ergebnissen gelangen.
Kapern: An welche denn? An welchen entscheidenden Weichenstellungen dieser Koalitionszeit – greifen wir mal eine heraus: zum Beispiel den Atomausstieg – muss die Geschichte von Rot-Grün an der Macht umgeschrieben oder zumindest in Teilen neu gedeutet werden?
Wolfrum: Es sind vor allen Dingen neben vielen kleineren Dingen drei große Bereiche. Das ist, wie Sie sagen, der Atomausstieg, dann die große Frage – das darf man nicht vergessen -, die die Zeit begleitet hat, Krieg und Frieden, und drittens natürlich auch die Agenda-2010-Politik. Zum Atomausstieg: Es wird ganz deutlich, dass der Atomausstieg eigentlich schon gescheitert war durch eine voreilige Politik, durch eine auf Verstopfung abzielende Politik des grünen Ministers. Und in letzter Minute sozusagen wurde der Atomkonsens …
Kapern: Also durch Jürgen Trittin?
Wolfrum: Jürgen Trittin. – In letzter Minute sozusagen wurde der Atomkonsens noch mal gerettet. Man hatte Schröder und dem Wirtschaftsminister Müller immer unterstellt, sie wollten den Atomausstieg nicht. Sie wollten ihn schon, nur nicht zu den Konditionen, zu den Maximalkonditionen, die von grüner Seite gekommen sind. Also die Grünen haben, um es salopp zu sagen, den Atomausstieg beinahe vor die Wand gefahren und erst als er schon beinahe tot war, ist er dann doch noch mal im Konsens jedenfalls gelungen.
Kapern: Und wie war das in der Frage von Krieg und Frieden, wie Sie sie gerade tituliert haben? Eine tiefe Zäsur war ja der 11. September 2001 und das, was daraus folgte, der Afghanistan-Krieg, an dem sich Deutschland beteiligte, und der Irak-Krieg, an dem sich Deutschland nicht beteiligte, und dieses Nein zum Irak-Krieg war ein Schachzug im Wahlkampf. So war jedenfalls die weitverbreitete Deutung damals, die sich eigentlich bis heute hält. Deckt sich das mit Ihren Erkenntnissen?
Wolfrum: Nein, das kann man so nicht sagen. Grundsätzlich muss man sagen, man muss sich das vorstellen in der Zeit: Rot-Grün tritt an, will eine Reformpolitik im Inneren machen. Beide Parteien kommen irgendwie aus der Friedensbewegung. Und jetzt war man innerhalb von sieben Jahren mit drei Kriegen konfrontiert: Kosovo, Afghanistan, Irak. Nachdem man den Kosovo-Krieg auf Druck der Amerikaner mitgemacht hat, ohne UN-Mandat, und nachdem man den Afghanistan-Krieg mit voller Inbrunst sozusagen mitgemacht hat, da mussten die Amerikaner gar nicht drücken, kam nun der dritte Krieg, der Irak-Krieg, den die Amerikaner in einer Hybris sozusagen bewerkstelligen wollten, und man erkannte sofort von Anfang an - und vor allen Dingen Schröder erkannte dies -, dass im Grunde genommen hier eigentlich es nur um eine offene Rechnung ging des jungen Bush, der im Grunde genommen die Politik des Vaters, die unvollendet geblieben war, zu Ende führen wollte. Und diese wechselnden Begründungszusammenhänge für den Irak-Krieg haben von Anfang an in Deutschland dazu geführt, dass man sich in der UN, in der internationalen Gemeinschaft am Anfang alleine gegen die Amerikaner gestellt hat. Das hat zu großen innenpolitischen Verwerfungen geführt. Aber am Ende war es so, dass durch diese Enthaltung und durch diese Nein-Politik Schröders das Selbstbewusstsein nicht nur in Deutschland, sondern die Stellung Deutschlands in der Welt gewachsen ist.
Kapern: Noch ein anderer Aspekt dieser Phase der rot-grünen Regierung, auch eine Folge aus den Anschlägen vom 11. September: die Zusammenarbeit der transatlantischen Sicherheitsbehörden. In Ihrem Buch zitieren Sie aus einem Aktenvermerk Otto Schilys, ich lese das mal kurz vor: "Habe sofort nach den Terroranschlägen alle deutschen Sicherheitsbehörden angewiesen, ihren amerikanischen Partnern alle erdenkliche Unterstützung zuteilwerden zu lassen." Daraus lässt sich möglicherweise noch kein Freibrief für Prism herauslesen, dieses Abhörprogramm, über das wir derzeit so viel lesen und hören. Gleichwohl: Wurde damals schon von Rot-Grün die Büchse der Pandora geöffnet, deren Plagen heute auf uns niedergehen?
Wolfrum: Na ja, man muss die Kirche auch im Dorf lassen, indem man die Zeit mal beleuchtet. Was haben wir denn eigentlich? 9/11 – das haben wir heute ja schon wieder beinahe vergessen. Es war ein Globalschock, ein apokalyptischer Vorbote. In Amerika sprach man vom ersten Krieg des 21. Jahrhunderts, ein Pearl Harbor der zivilisierten Welt, Ausbruch eines Dritten Weltkrieges sozusagen. Die NATO – das muss man sich vorstellen – ruft erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus, und zwar nicht, weil ein Bündnispartner angegriffen wurde und die Amerikaner ihn verteidigen müssen, sondern gerade im Gegenteil, weil Amerika angegriffen wurde und die Bündnispartner beistehen müssen. In dieser Situation ist es doch natürlich, dass man den Amerikanern jegliche Unterstützung zukommen lässt. Man muss die Akteure, denke ich, schon in der Zeit verstehen, und das war ein unerwarteter und als fundamental empfundener Bruch, dieser Anschlag.
Wer ist eigentlich der Feind? Es ist der internationale Terrorismus. Wo sitzt er? Ich kann nur mutmaßen, will aber auch nicht richtig mutmaßen, weil ich auch keine Geheimdienste-Protokolle gesehen habe. Aber dass in dieser Ausnahmesituation, wo es ja zu weiteren Anschlägen etwa in Madrid und London kam, es zu einem Zusammenhalt und zu einer Zusammenarbeit der Sicherheitskräfte kommt, liegt mir im Grunde auf der Hand, zumal man nicht vergessen darf, dass einige der Terrorpiloten aus Hamburg kamen. Das heißt, das Versagen der deutschen Sicherheitskräfte lag offen zutage.
Kapern: Herr Wolfrum, ein anderes großes Thema dieser ersten rot-grünen Bundesregierung war die Agenda 2010. Daran ist die Koalition letztlich gescheitert, oder genau gesagt an der Vermittlung beim Wähler, aber auch innerhalb der SPD. Heute hat die SPD den Begriff Agenda 2010 fast aus ihrem Wortschatz gestrichen und viele Sozialdemokraten brüsten sich damit, schon immer dagegen gewesen zu sein. Lassen sich solche Beteuerungen nach Ihren Erkenntnissen aufrechterhalten?
Wolfrum: Hart gesagt ist das Geschichtsklitterung. Diejenigen, die in der Zeit gegen die Agenda 2010 waren, lassen sich an wenigen Fingern abzählen. Man stand damals 2003 mit dem Rücken zur Wand. Es ging nicht mehr weiter. Man riss jedes Jahr die Maastricht-Kriterien. Deutschland war der kranke Mann Europas. Und in dieser Situation - man hat auch keine Bundesratsmehrheit, man stand wirklich mit dem Rücken zur Wand -, in dieser Situation die größte Strukturreform in der Geschichte der Bundesrepublik durchzuführen, wäre im Grunde genommen etwas, worauf man, ich sage es einmal, stolz sein könnte. Ich halte es für einigermaßen skandalös – ich will der SPD keine Ratschläge geben -, wie die Distanzierung von dieser Erfolgsgeschichte mittlerweile abläuft. Aus dem kranken Mann Europas ist heute das Kraftzentrum Europas geworden und die Wurzeln dieses Kraftzentrums liegen sicherlich auch, nicht nur alleine, aber auch in der Agenda 2010.
Kapern: 1998 ist Rot-Grün als Projekt gestartet, gar als Generationenprojekt. Mal angenommen, es würde doch noch für Rot-Grün im September reichen, wäre das dann vergleichbar, wäre das eine Fortsetzung dieses Projekts?
Wolfrum: Überhaupt nicht. Das wäre ein lauer Aufguss, würde ich sagen. Die Aufbruchstimmung 1998 war elementar, es hat eine richtige Euphorie geherrscht: auf der einen Seite natürlich Hoffnung, auf der anderen Seite eine genauso große Furcht vor einer ersten Linksregierung in der Bundesrepublik. Das war eine Aufbruchstimmung, eine Herbstromanze, Fischer verglich das mit einem Erdbeben – ein zweifelhafter Vergleich, wie ich finde. Das lässt sich so nicht wiederholen. Insofern ist diese erste rot-grüne Koalition von 98 bis 2005 ein abgeschlossenes Projekt. Alles andere wäre nur ein Aufguss.
Man muss sich auch vor Augen führen, dass sich damals beide Parteien, aber in Sonderheit die SPD ja ein unglaublich modernes Outfit verliehen haben. Man hat Anleihen gemacht bei der Clinton-Administration, bei deren Wahlkämpfen, oder bei Tony Blair, der als großer strahlender Held in Europa, der europäischen Sozialdemokratie galt. Das ist alles verraucht, das ist alles vorbei. Insofern: Was jetzt käme, in welcher Konstellation auch immer, wäre eine normale Koalition, aber das hat nichts mehr zu tun mit dieser Euphorie des Aufbruchs von 1998, denn es war ja nicht nur die politische Generation, sondern es war auch der bevorstehende Umzug nach Berlin, also eine neue Republik, die sozusagen hier gegründet würde: Modernisierung, in Europa herrschten fast überall Sozialdemokraten, nur in Deutschland noch nicht. Insofern ist das eine ganz, ganz andere Konstellation und Rot-Grün II oder III, egal wann auch immer, wäre etwas völlig anderes als das, was wir in der ersten Zeit hatten.
Kapern: "Rot-Grün an der Macht – Deutschland 1998 bis 2005" – so heißt das Buch, erschienen ist es bei Beck, verfasst hat es Edgar Wolfrum, Historiker aus Heidelberg, der gerade bei uns im Gespräch zu Gast war. Herr Wolfrum, vielen Dank für das Gespräch, einen schönen Tag noch. Und ein letzter Hinweis: Eine Rezension dieses Buches hören Sie am kommenden Montag in unserer Sendung "Andruck" ab 19:15 Uhr.