Christiane Florin: Morgen beginnt der CDU-Parteitag. Angela Merkel hat vor einigen Wochen die CDU aufgefordert, auf ihren Weihnachtsfeiern christliche zu Lieder singen und das nicht Pegida und der AfD zu überlassen. Herr Rödder, "Es ist ein Ros‘ entsprungen" – statt "Schneeflöckchen, Weißröcken" – löst das die Identitätsprobleme der CDU?
Andreas Rödder: Die CDU kann es ja mal versuchen und auf dem Parteitag in Essen zum Abschluss ein Weihnachtslied statt der Nationalhymne singen. Im Ernst: Es ist vielleicht doch ein bisschen arg reduziert und zu einfach. Mit Folklore wird man die Probleme nicht lösen.
Florin: Was versteht die CDU derzeit unter christlich?
"Christliche Politik - das heißt nicht, konkret den Geboten Jesu folgen"
Andreas Rödder: Das ist ja immer eine komplizierte Frage. Das changiert zwischen Leerformel und dem, was doch etwas zu sagen hat. Was christlich jedenfalls nicht heißt, das ist eine Politik, die ganz konkret den Geboten Jesu folgen würde. Das funktioniert ja nicht einmal in der klösterlichen Gemeinschaft oder unter Klerikern. "Christlich" heißt bei der CDU immer: das Menschenbild. Aber da stellt sich auch die Frage: Was heißt das eigentlich? Frau Merkel hat kürzlich noch einmal darauf hingewiesen: Es geht um das Individuum. Man kann theologischer sagen: Es geht um die Person und nicht um das Kollektiv. Ich finde, dass etwas Anderes wichtiger ist an diesem christlichen Menschenbild. Und zwar, dass der Mensch nicht perfekt ist, aber dass er auch nicht perfektionierbar ist. Das heißt aber, dass der Mensch immer über eine begrenzte Einsicht verfügt und dass das, was wir heute für richtig halten, morgen schon als falsch gelten kann. Wenn Sie das in Politik übersetzen, dann wird es doch sehr konkret, weil es heißt, dass Politik eigentlich reversibel bleiben muss und dass sie nicht unbedingt oder absolut sein darf.
Florin: Das heißt, Angela Merkel soll irgendetwas revidieren?
Rödder: Nein, aber es geht darum, eine Politik reversibel zu halten. Es gibt schon Elemente der Unbedingtheit und der Irreversibilität: Das hat Helmut Kohl in der Europapolitik betrieben, das hat Angela Merkel in der Energiepolitik betrieben und in einer gewissen Weise – wobei da Rhetorik und Handeln auseinanderfallen – auch in der Flüchtlingspolitik. Meine Erfahrung ist, dass eine Idee immer dann schädlich wird, wenn sie sich von den Realtitäten löst. Und diese Probleme haben wir auf all den Politikfeldern, die ich gerade genannt habe, sehr deutlich zu spüren bekommen.
Die heimatlosen Konservativen
Florin: Die CDU kämpft gerade mit dem Problem der heimatlosen Konservativen. Wie hängt das Konservative mit dem Christlichen zusammen?
Rödder: Ich glaube, es gibt eine starke Berührungspunkte, was das Menschenbild – das Bild vom nicht perfekten und nicht perfekt zu machenden Menschen - anbetrifft. Überhaupt gibt es starke Berührungspunkte zwischen Christlichem und Konservativem, wenn es um die Art des Denkens geht. Wobei: Jetzt wird das Ganze gleich deshalb wieder kompliziert, weil die Frage ist: Was ist eigentlich konservativ?
Florin: Was ist denn konservativ?
Rödder: Was wir landläufig in der politischen Debatte und meistens mit einem abwertenden Unterton konservativ nennen, ist in Wahrheit traditionalistisch oder reaktionär. Es geht um die Haltung zum Wandel. Das ist das Entscheidende an dem Begriff "konservativ". Wer will, dass sich nichts ändert und alles so bleibt, wie es ist, der ist traditionalistisch. Wer einen früheren Zustand wieder herbeiführen und Wandel rückgängig machen will, der ist reaktionär. Der liberale Konservative weiß, dass er den Wandel nicht verhindern kann, aber diesen unumgänglichen Wandel menschengerecht gestalten muss.
Florin: Wohin gehört die AfD?
Rödder: Sie spannt sich über das gesamte Spektrum. Da wo die AfD angefangen hat, in diesem liberal-konservativen Spektrum um Bernd Lucke, würde ich sagen, haben wir es tatsächlich mit einem liberalen Konservatismus zu tun. Solche Elemente gibt es in der AfD bis heute. Es gibt aber auch die traditionalistischen und es gibt die offen reaktionären, ja völkischen Elemente.
"Die rechte bürgerliche Mitte sieht sich nicht mehr von der CDU integriert"
Florin: Wohin gehört die CDU? Ich habe vorhin in meiner Frage von den heimatlosen Konservativen gesprochen. Haben die einen Grund, sich heimatlos zu fühlen?
Rödder: Die CDU ist klassischerweise die Partei gewesen, die es geschafft hat, einen großen Teil der Bevölkerung zu integrieren, einschließlich des Bürgertums der rechten bürgerlichen Mitte. Das ist das, was in Weimar nicht gelungen war. Und gerade die Zersplitterung der rechten bürgerlichen Mitte ist ein massives Problem für die Weimarer Republik gewesen. Das hat die CDU bis vor kurzem geschafft und die Abspaltung der AfD zeigt, dass die CDU auf dem ureigensten politischen Feld, auf dem Sie politisch integriert hat, ein massives Integrationsproblem hat. Das halte ich nicht nur für ein parteipolitisches, sondern auch für ein erhebliches staatspolitisches Problem.
Florin: Inwiefern?
Rödder: Weil diese rechte bürgerliche Mitte sich in zunehmendem Maße nicht mehr von der CDU integriert sieht. Die CSU kann das nur teilweise abfedern. Dieses rechte bürgerliche Milieu geht entweder in so eine resignierte Noch-CDU-Wählerschaft, in die Nicht-Wählerschaft oder es wählt AfD. Da bricht, was die politische Integration angeht, ein Teil der Bevölkerung weg, der in das politische System immer integriert war.
Florin: Heißt das, die AfD lässt sich in dieses politische System nicht integrieren?
Systemparteien mit und ohne Anführungszeichen
Rödder: Das wird sich zeigen. Ich glaube, wir erleben im Moment eine ganz ähnliche Entwicklung wie wir sie in den 1980er-Jahren mit den Grünen erlebt haben und in den 90er-Jahren mit der PDS und der Linkspartei. Wenn Sie die Rhetorik der etablierten Parteien ansehen ebenso wie die kritische Rhetorik damals von Seiten der Grünen oder der Linken und heute der AfD, mit den Systemparteien nicht koalieren zu wollen, dann hat das schon enorme Ähnlichkeiten. Insofern würde ich auch nicht ausschließen, dass es der AfD erstmals als Partei von rechts gelingt, sich im politischen System neu zu etablieren und dann auch zu integrieren. Denn da wird den bestehenden Parteien nichts Anderes übrigbleiben.
Florin: Haben Sie das Wort "Systemparteien" vorhin in Anführungszeichen benutzt?
Rödder: Ja, in gedanklichen Anführungszeichen. Ich hatte etablierte Parteien … – habe ich Systemparteien gesagt?
Florin: Es ist interessant, wie dieses Wort, das in der Weimarer Republik ein diffamierendes Wort war und heute auch von der AfD und von Pegida in dieser diffamierende Bedeutung benutzt wird, in den ganz normalen Sprachgebrauch eingezogen ist.
Rödder: Wenn ich mich recht erinnere, sollte ich es nicht ohne erkennbare Anführungszeichen gesagt haben. Ich finde auch, dass diesem Begriff nach wie vor dieses Abwertende anhaftet und damit auch der Vorwurf, das gesamte politische System für illegitim zu halten. Ich finde, das sollte man sich nicht zu eigen machen.
Widerspruch zwischen Reden und Handeln bei Angela Merkel
Florin: Zurück zum C: Glauben Sie Angela Merkel, wenn sie, die Pfarrerstochter, sagt, ihre Flüchtlingspolitik vom September 2015 habe auch mit ihren christlichen Überzeugungen zu tun?
Rödder: Ja, ich würde ihr das grundsätzlich abnehmen, was die Entscheidung von September 2015 angeht. Das Problem ist, dass diese Politik dann einen zunehmenden Widerspruch erlebt hat. Nämlich auf der einen Seite passte der moralische Imperativ, von dem Angela Merkel zur Rechtfertigung ihrer Politik der offenen Grenzen im Herbst 2015 gesprochen hat, mit dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei letzten Ende nicht zusammen. Der zweite Widerspruch, den sich diese Politik eingehandelt hat, ist dann 2016 der Widerspruch zwischen einer politischen Rhetorik gewesen, die sagte, sie bleibt eigentlich bei dieser Politik des Jahres 2015, und einem politischen Handeln, das sich davon doch ganz erheblich entfernt hat.
"Kirchen sind problematisch, wenn sie ihre Positionen moralisch absolut setzen"
Florin: Die Politik hat sich geändert, die Rhetorik ist geblieben. In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung heißt es: Das ist die "Methode Merkel". Was hätten Sie der Kanzlerin stattdessen empfohlen?
Rödder: Ich glaube, dass dieses Auseinanderfallen von Rhetorik und Handeln in der Bevölkerung sehr deutlich gemerkt worden ist und ich glaube, es ist eine solche Haltung, die auch zu einem Vertrauensverlust führt. Ich glaube tatsächlich, dass vieles eine Frage der Haltung ist. Haltung ist glaubwürdig. Insofern glaube ich, dass das Problem der unaufgelöste Widerspruch ist.
Florin: Nun können wir nicht so tun, als habe Angela Merkel nur Kritiker, als gebe es nur Gegner ihrer Flüchtlingspolitik. Die Kirchen, immerhin keine ganz kleine gesellschaftliche Gruppe, unterstützen den Kurs der Kanzlerin, Bischöfe haben sich sehr positiv über Angela Merkel geäußert. Auf der anderen Seite warnen Bischöfe regelrecht vor der AfD und sagen: "Diese Partei vertritt unchristliche Positionen." Sind beide Einmischungen unzulässige parteipolitische Einmischungen?
Rödder: Ich würde differenzieren. Das öffentliche Eintreten der Kirchen auch für politische Positionen finde ich absolut in Ordnung und das ist die Aufgabe der Kirchen im öffentlichen Diskurs. Ich halte das Eintreten der Kirchen dann für problematisch, wenn sie ihre Positionen moralisch für absolut setzen und keinen Widerspruch zulassen, denn das ist letzten Ende undemokratisch. Explizit parteipolitische Einmischungen finde ich heute genauso problematisch wie in den 1980er-Jahren die Hirtenworte der katholischen Bischöfe mehr oder weniger deutlich zugunsten der CDU, die am Schluss auch nicht gut angekommen sind.
"Die AfD moralisch auszugrenzen, ist weder klug noch richtig"
Florin: Das heißt, das, was jetzt passiert, halten Sie für eine unzulässige Einmischung?
Rödder: Ich bin sehr, sehr kritisch, wenn man beginnt die AfD als ganze als unmoralisch auszugrenzen. Das ist weder klug noch demokratisch noch richtig.
Florin: Werden die Kirchen überhaupt als moralische Autoritäten akzeptiert?
Rödder: Ja, das ist ja auch in Ordnung. Die Kirchen haben etwas einzubringen, sie sind moralische und politische Autoritäten, aber sie sind keine Instanzen absoluter Moral oder Wahrheit. Ich finde, in der Flüchtlingspolitisch haben es sich die Kirchen allzu einfach gemacht. Sie haben sich auf eine gesinnungsethische Position der Nächstenliebe gestellt und alle praktischen Probleme, etwa den alten Rechtssatz: "Ultra posse nemo obligatur", also dass es Grenzen der Hilfsfähigkeit gibt, dass es auch eine ganze Reihe von praktischen Problemen in der Flüchtlingspolitik gibt, diese Verantwortungsethik haben sie sehr gerne der Politik überlassen. Ich finde, die Kirchen haben sich hier einen gesinnungsethisch schlanken Fuß gemacht.
Florin: Sie sind also derselben Ansicht wie der Sozialphilosoph Hans Joas, der hier im Deutschlandfunk gesagt hat, die Kirchen müssten Fingerspitzengefühl beweisen und dürften nicht jede politische Richtung, die von den Auffassungen der Kirchenleitungen abweicht, als tendenziell unchristlich etikettieren. Grenzen die Kirchen aus?
"Populismus ist ein Begriff der Ausgrenzung"
Rödder: Ich bin ganz der Meinung von Hans Joas. Das gilt übrigens nicht nur für die Kirchen. Ich glaube, dass wir die Grenze in der öffentlichen Debatte falsch ziehen. Und ich glaube, dass uns das im Moment massiv auf die Füße fällt. Was meine ich damit? Es gibt eine Grenze der Debatte. Und wir neigen dazu, diese Grenze der Respektabilität zwischen der AfD und den anderen Parteien zu ziehen. Ich finde, dass diese Grenze der Respektabilität mitten durch die AfD selbst hindurchläuft. Das ist die Grenze hin zum völkischen Denken. Und das ist wichtig, denn völkisches Denken bedeutet, dass ich andere Menschen herabwürdige und die Würde des einzelnen Menschen nicht achte. Das aber - die Achtung vor der Würde des einzelnen anderen Menschen – das ist die Grenze des Diskurses.
Diesseits der Grenze aber müssen wir uns eher an Habermas orientieren. Diesseits dieser Grenze zur Herabwürdigung des Anderen herrscht der herrschaftsfreie Diskurs in einer politischen Demokratie. Das heißt konkret: Ich sollte nicht sagen dürfen "Neger", weil der Begriff "Neger" einen anderen Menschen herabwürdigt. Ich muss aber offen sagen können, wenn ich dieser Meinung bin oder wäre, dass ich den Islam nicht mag. Das muss eine öffentliche Debatte aushalten können. Jenseits dessen ist es doch so – Sie fragten mich vorhin nach dem Spektrum, das die AfD abdeckt -, dass viele Positionen, die die AfD vertritt, Positionen sind, die die CDU vor zehn Jahren vertreten hat, ohne dass sie damit verfassungsfeindlich gewesen wäre, und die zum Teil noch viele CDU-Anhänger heute vertreten. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen:
Auch der Begriff Populismus, den wir heute immer verwenden, ist ein Begriff der Ausgrenzung. Denn mit Populismus sagen wir: Da sind die und hier sind wir. Damit betreiben wir diese Aus- und Abgrenzung. Da werden die Grenzen des Diskurses zu eng gezogen. Das ist nicht nur nicht richtig, sondern es ist vor allen Dingen unklug, weil es dazu führt, dieses Selbstbild als Opfer auf Seiten der AfD zu verstärken. Genau diese Abgrenzung führt dazu, dass diejenigen, die sich nicht gesehen, die sich nicht respektiert fühlen, dann ein Ventil suchen.
Florin: Aber es ist doch merkwürdig, dass diejenigen, die immer behaupten, man dürfe nicht alles sagen in Deutschland, auf allen Talkshow-Sesseln, in vielen Printmedien, in anderen Medien, dann doch alles sagen. Wer zieht denn da die Grenzen des Sagbaren?
Herablassung gegenüber der AfD
Rödder: Die Frage ist: Was heißt das eigentlich mit dem Sagen und Sagen-Dürfen? Natürlich ist das technisch richtig, dass die AfD im Grunde alles sagen darf, in einem physischen Sinne kann sie das alles sagen, schreiben und vor allem über die sozialen Medien verbreiten. Aber es gibt eine andere Form des Sagendürfens, nämlich im Sinne des gegenseitigen Respekts. Wenn Sie sagen, dass die AfD-Vertreter in den Talkshows sitzen, dann ist das richtig. Aber wie werden sie da behandelt? Sie haben immer die anderen Teilnehmer, die sie von oben herab behandeln. Sie haben dieses Publikum, das dann immer lacht. Wenn Sie Leute auslachen, nehmen Sie sie nicht ernst. Ich finde, der Diskurs im Umgang mit der AfD ist der der Herablassung. Man nimmt sie nicht ernst.
Weil Sie gerade aber fragten, wer die Grenzen des Sagbaren bestimmt: Die sind ja nicht vorgegeben. Die werden gesellschaftlich ausgehandelt und das sind immer auch Machtkonflikte. In den USA ist jetzt gerade die Rede von der sogenannten "offending language", also der beleidigenden Sprache. An kalifornischen Universitäten dürfen Sie mittlerweile nicht mehr vom "land of opportunities" reden, weil das als eine rassistische Mikro-Agression gilt, die dazu führen könnte, dass diejenigen, die ihre Chancen nicht genutzt haben, die nicht erfolgreich sind, sich durch eine solche Aussage beleidigt fühlen. Das heißt aber, derjenige, der sich beleidigt fühlt, bestimmt darüber, was als beleidigend gilt. Und derjenige setzt damit die Grenzen. Ähnliches gilt in der ganzen Politik der Gleichstellung. Die Frauenquote für Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen bedeutet, dass eine kinderlose Unternehmertochter aus München Bogenhausen den Vorzug vor einem vierfachen Familienvater mit Migrationshintergrund aus Berlin-Neukölln erhält, weil hier das Kriterium des Geschlechts als gleichstellungsberechtigt anerkannt ist, aber nicht soziale oder ethnische Herkunft.
Florin: Ein sehr zugespitztes Beispiel…
"Absolute Ansprüche sind tödlich für die liberale Demokratie"
Rödder: Ja, aber das bringt doch das Prinzip zum Ausdruck. Der Soziologe Talcott Parsons hat in den 50er Jahren gesagt: Exklusion ist immer der logische Schatten der Inklusion. Das ist unhintergehbar. Das führt dazu, dass ich nicht sagen will, dass Gleichstellung falsch wäre, aber was ich sagen will: Wenn sich eine Idee von den Realitäten löst, wird sie gefährlich. Das ist ein Plädoyer gegen absolute Ansprüche einer Position, denn die sind tödlich für eine liberale Demokratie.
Florin: Sie sagten vorhin, AfD-Politiker würden in Talkshows herablassend behandelt. Aber wir sehen die Verrohung des Diskurses. Wer die AfD kritisiert als Politiker, Journalist oder Kirchenvertreter, dem schlägt der blanke Hass entgegen. Wenn ich sage: Ich möchte diesen Hass nicht, Hass und Hetze gehören nicht zum Diskurs, dann hat das doch nichts mit Ausgrenzung zu tun.
Rödder: Dem würde ich auch nicht widersprechen, aber ich würde die Dinge auch nicht vermischen. Was ich erlebe, ist eine gegenseitige Polarisierung. Das, was Sie gerade formuliert haben, dass viele Menschen, die guten Gewissens handeln, als Lügner bezeichnet werden, das sind natürlich Formen der Debatte, der Diskussionskultur, die gerade in Teilen der AfD kultiviert werden, die ihrerseits zu diese Polarisierung beitragen. Das ist ja das Problem. Ich glaube, dass es wichtig ist, diese Polarisierung aufzulösen. Das gilt in beide Richtungen. Was aber natürlich auch heißt: Wenn ich sage, dass man die Positionen der AfD ernstnehmen und diskutieren soll, dann habe ich nicht in Frage gestellt, dass es die Grenze der Debatte gibt, von der ich vorhin gesprochen habe, die Menschenwürde. Und das, was Sie Hate-Speech nennen oder wie auch immer, das gehört alles dazu. Jenseits dieser Grenze ist die Debatte auch nicht mehr zu führen, das muss man auch zurückweisen. Tatsächlich erleben wir eine Polarisierung der Debatte. Ich kann unserer öffentlichen Diskussionskultur nur wünschen, dass wir diese Polarisierung überwinden. Aber das ist eine Entwicklung, die beide Seiten erfordert.
Hass als verbale Notwehr?
Florin: Ist Hass die Kehrseite der Political Correctness? Verbale Notwehr sozusagen?
Rödder: Ich würde das mal so sagen: Die Sozialpsychologie kennt den Begriff der Reaktanz. Das bezeichnet eine Abwehrreaktion, mit der Menschen auf eine Einschränkung reagieren, die entweder vorhanden ist oder die sie empfinden. Das ist eine Abwehrreaktion, die dann im Sprechen überzogen ausfällt. Ich glaube, schon, dass es da einen deutlichen Zusammenhang gibt. Viele Menschen fühlen sich eingeschränkt durch diese Grenzen des Sagbaren. Viele, die sich bei der AfD wiederfinden, verfügen nicht über die verbale Artikulationsfähigkeit, wie Sie sie in den philosophischen oder soziologischen Seminaren von Berkeley, Paris oder in Berlin haben und kommen dann mit dieser Art und Weise rüber, die unbeholfen und tumb oder auch hässlich und gewalttätig wirkt. Insofern: Ist das richtig, dass Hass die Kehrseite der political correctness ist? Das ist ein zugespitzter, aber doch richtiger Satz. Was nicht dagegen hilft, ist Ausgrenzung und moralisierende Herablassung. Damit macht man das Ganze nur schlimmer.
Florin: Wenn wir schon über die Sprache sprechen, über die Vokabeln, dann ist ja interessant, dass das Wort "christlich" eine Renaissance erlebt hat. Und zwar auf beiden Seiten: einerseits die christliche Nächstenliebe, bei denjenigen, die sagen: Wir müssen Flüchtlinge aus christlicher Nächstenliebe aufnehmen. Und auf der anderen Seite bei denjenigen, die das "christliche Abendland" hochhalten. Womit erklären Sie sich diese Renaissance in einem Land, das doch eher weniger als mehr Kirchenmitglieder verzeichnet?
"Rekurs auf das Christliche ist ein Fluchtpunkt für die Selbstversicherung"
Rödder: … und keine richtigen Weihnachtslieder mehr singt. Ich vermute mal - das ist ein bisschen gefühlt massenpsychologisch formuliert - , wir erleben eine Zeit der scheinbar richtungslosen Beschleunigung seit etwa 20, 25 Jahren. Eine Zeit der großen Verunsicherung. Dieser Rekurs auf das Christliche kann ein Fluchtpunkt sein für die Selbstversicherung in solchen Zeiten der beschleunigten Veränderung und der Unsicherheit. Zugleich kann das Christliche auch dazu dienen, sich gegen Unbekanntes und Fremdes, vor allem gegen den Islam abzugrenzen. Historisch gesehen ist Identitätsbildung und Abwehrreaktion nicht zwingend ein Gegensatz.
Florin: Das Neue an der CDU in der jungen Bundesrepublik war, dass sie Konfessionsgrenzen überwunden hat und das zu einer Zeit, als Katholiken und Protestanten im Alltag noch keineswegs versöhnt waren. Was ist gerade politisch notwendiger: Integration oder Streit?
Rödder: Integration durch Streit. Was die politische Öffentlichkeit in Deutschland dringend braucht, sind politische Debatten über Alternativen. Wir erleben die Exekution von großkoalitionärer Alternativlosigkeit, in diesen Zeiten der großen Koalition, gefühlt aber in den gesamten letzten zehn Jahren. Aber diese Exekution von Alternativlosigkeit lähmt die Demokratie im Sinne einer bürgergesellschaftlichen Öffentlichkeit. Und wenn die Meinungsbildung nicht in der bürgergesellschaftlichen Mitte stattfindet, dann wandert sie an die Ränder. Und das ist das, was wir im Moment erleben.
"Die Mitte ist sprachlos"
Florin: Sie sehen da eine Gemeinsamkeit zur Weimarer Republik?
Rödder: Es gibt eine Reihe von Gemeinsamkeiten: die antiparlamentarische Verachtung für Parteien und ihre Diskreditierung als "Systemparteien", auch Überschneidungen von rechts und links, diese Polarisierung der Öffentlichkeit, über die wir schon gesprochen haben. Und: eine sprachlose Mitte, die ich auch für ein großes Problem unserer politischen Entwicklung halte.
Florin: Ist es auch schon so weit wie in der Weimarer Republik? Ist es schon so gefährlich?
Rödder: Es gibt ja auch Unterschiede, vor allem die ökonomische Situation ist längst nicht so problematisch wie in der Weimarer Republik. Andererseits sollte uns der Blick auf die Weimarer Republik – immer eingedenk, dass sich die Geschichte nicht wiederholt – zeigen, dass vermeintlich stabile Ordnungen – und das haben wir vom Zusammenbruch der DDR und bis zum Zusammenbruch der Democrazia Cristiana in Italien erlebt – sehr viel schneller erodieren können, als uns das lieb ist und dass man deshalb nie zu sicher sein sollte.
"Laue Beschwörungsformeln werden immer weniger geglaubt"
Florin: Was sollte Angela Merkel sagen: "Wir schaffen das!" wahrscheinlich nicht noch einmal. "Wir haben die Lage im Griff"? Oder christlich: Fürchtet euch nicht?
Rödder: Ich glaube, dass irgendwelche lauen Beschwörungsformeln immer weniger geglaubt werden. Ich wünsche mir eine Bundeskanzlerin, die die politische Meinungsbildung und die kontroverse politische Debatte in der Bundesrepublik und innerhalb der CDU befördert.
Florin: Danke für das Gespräch.
Rödder: Sehr gerne.
Andreas Rödder, Jahrgang 1967, lehrt Neueste Geschichte an der Universität Mainz. Zuletzt erschien von ihm das Buch "21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart" (C. H. Beck).
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.