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Die Erfindung des Balkans

Als die NATO ihre ersten Luftangriffe gegen die Bundesrepublik Jugoslawien startete, tauchten in vielen deutschen Zeitungen verwirrend buntscheckige Karten des Balkans auf. Diese Karten zeigten, wie sich die zahlreichen ethnischen Gruppen - durch Farben symbolisiert - über die Staaten der Region verteilten. Unwillkürlich hinterließen diese Abbildungen den Eindruck von Chaos und Unordnung: Als westlicher Leser fühlte man sich quasi aufgerufen, gleiche Farben einander zuzuordnen. "Die Vielzahl der Völker und eine blutige Vorgangenheit', schrieb die "Süddeutsche Zeitung"' entsprechend über eine solche Karte, "machen den Balkan zum Brandherd in Europa."

    Angesichts solcher Vorstellungen fällt es im Westen leicht, sich als Pol der Ordnung und Retter in der- Not zu inszenieren. So betonte etwa der britische Premier Tony Blair während der Intuvention im Kosovo, es handele sich "nicht nur um einen militärischen Kmflikt, sondern um eine Srhlacht zwischen Gut und Böse, zwischen Zivilisation und Barbvxoi."' Und schon Mitte Januar diesen Jahres meinte Verteidigungsminister Scharping anläßlich der Situation ün Kosovo, daß es notwendig sei, dem Balkon eine "europäische Perspektive" zu geben. Die Region, sagte er ausgerechnet bei einem Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz, habe zwar viele Erfahrungen mit Terror, Unterdrückung und Gewalt, keine dagegen mit dem zivilen Austragen von Konflikten, mit Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

    Aber nicht nur Politiker, sondern auch lntellektuelle - zumal die linksliberalen - bedienen sich solcher Rhetorik: Gleich zu Beginn des Kosovo-Konfliktes bezeichnete etwa die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jellinek die Serben unverhohlen als "krankes Volk", welches mit Hilfe einer Erziehungsdiktatur in die Zivilisation zurückgebracht werden müsse.

    Offenkundig ist es ganz selbstverständlich, den Balkan und Europa einander gegenüberzustellen. Dabei gilt der Balkan, wie man gerade in den letzten Wochen überall lesen und hören konnte, als Ort, an dem die "Gespenster der Vergangenheit imner wieder hervorkriechen, als Schauplatz nationalistischer Exzesse und männlicher Grausamkeiten. Der Balkan erscheint als "Pulverfass", während Europa für Fortschritt, Ordnung und Prosperität steht. Doch indes die westliche Öffentlichkeit auf dem Balkan die Wiederkehr der Vergangenheit zu beobachten glaubt, schnappt sie unbewußt selbst selbst in einen historisch wohlbekannten Retlex zurück. Denn die im Westen verbreitete Gegenüberstellung von Balkan und Zivilisation ist keineswegs neu; sie hat sich entwickelt während des 19. Jahrhunderts und entscheidend verfestigt im zweiten Jahrzehnt des Zwanzigsten - etwa in der Periode vom Ersten Balkankrieg 1912 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.

    Wie es im Westen zu dieser Sichtweise des Balkan kam, dem ist vo einiger Zeit eine gebürtige Bulgarin nachgegangen, die in den USA Geschichte lehrt- Auf Deutsch trägt Maria Todorovas Buch den Titel "Die Erfindung des Balkans". Und tatsächlich handelt es sich beim Balkan um eine westliche Erfindung: An der Schwelle zum 19. Jahrhundert begannen zum ersten Mal Reisende aus dem Westen jene Bergkette, die das heutige Bulgarien teilt, nicht mehr mit dem antiken Namen "Haemus" zu bezeichnen, sondem als Balkan. Daß der Begriff bald verwendet wurde, um grob den Lebensraum der europäischen Völker im Osmmüschen Reich zu charakterisieren, beruhte dabei ironischer weise auf einem geographischen Irrtum: Denn viele der Reisenden glaubten, besagte Bergkette zöge sich bis zu den Alpen hinauf und bilde daher die Nordgrenze der Halbinsel

    Von Beginn an war Balkan nicht bloß eine naive Bezeichnung, sondern wurde mit sozialen und kulturellen Bedeutungen angegereichert. Dabei waren es weniger Wissenschafler, als vielmehr -reisende Joumalisten und Touristen, welche das populäre Bild prägten. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entwickelte sich allerdings noch keine einheitliche Vorstellung des Balkans. Als sich erste Risse im Osmmdschen Reich zeigten, waren die Wahmehmungen noch weitgehend von der jeweiligen nationalen Herkunft bestimmt: Deutsche, Franzosen oder Briten hoben auf ihren Reisen jeweils andere Aspekle hervor - zumeist recht unverhohlen geleitet von den strategischen Interessen ihrer Nationen in der Region.

    Nichtsdestotrotz konnten sich die Beobachter oft bereits darauf einigen,daß der in eder Beziehung von Westeuropa abhängige Balkm im Status des "Halbbarbarischen" dahindämmere. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhhunderts verfestigte sich ein Image des Balkans als Hort des Terrorismus - insbesondere durch die Affäre der Miss Stone, einer Amerikaerin, die 1901 in Mazedonien entführt wurde. Doch als Erbsünde der Balkanvölker sollten sich schließlich die Schüsse des Gavrilo Princip in Sarajevo erweisen die den ersten Weltkrieg auslösten. Hatte es zuvor möglicherweise noch Ambivalenzen gegeben, nun waren sie wie weggewischt. Dabei war es in erster Linie und immer wieder die ethnische Komplexität, welche bei den westlichen Besuchem Frustration und Verärgerung auslöste. Mehr und mehr wurden ganz einfach sämtliche Exzesse des Nationalismus der östlichen Kultur in die Schuhe geschoben.

    In Anlehnung an Edward Saids Begriff "Orientalismus" bezeichnet Maria Todorova den Komplex von Klischeevorstellungen über den Balkan als "Balkanismus". Doch die Autorin hat aus der Kritik am einflußreichen Werk des arabisch-amerikanischen @schen Intellektuellen gelernt, und daher bleibt ihre Untersuchung nicht nur auf die westliche Vontellung vom Balkan fixiert. Todorova zeigt darüber hinaus, wie in den Nationen der Region "Balkan" als Eigenbezeichnung verwendet wird. Und schließlich geht sie auch der unangenehmen Frage nach der tatsächlichen Existenz jenes seltsamen Etwas namens Balkan nicht aus dem Wege. Zunächst stellt sich heraus, daß die balkanistischen Vorurteile in den Balkanstaaten selbst auf beachtliche Weise verinnerlicht wurden. Während dort durchaus Einigkeit darüber besteht, daß der Balkan existiert, steht man gleichzeitig ständig unter dem Druck, sich von jenem Zerrbild des Westens abzusetzen. Auch Todorova selbst streitet die Realität des Balkans nicht ab. Sie sieht die Gemeinsamkeit der Balkanstaaten in einer Mischung aus osmanischem Erbe und westlichem Einfluss.

    Tatsächlich folgten die Balkanstaaten nach ihrer Unabhängigkeit sofort dem westlichen Beispiel und bemühten sich, das in Mitteleuropa geborene Ideal des ethnisch homogenisierten Nationalstaates zu verwirklichen. Und dabei hatte der Westen ununterbrochen seine Finger im Spiel:. Manche Balkanstaaten verdanken den Erwägungen der Großmächte ihr schieres Dasein. Allerdings hatte die jahrhundertelange Pax Ottomana die gegemitige Durchdringung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen gefördert, was in manchen Nationen wie Rumänien zu einem Minderheitenanteil von dreißig Prozent führte. Die Verbindung von Einheitsansprüchen und bestehender Vielfalt führte schließlich zu zahllosen Kämpfen und geradezu unglaublichen Bevölkerungsverschiebungen.

    Daß die Nationen des Balkans immer wieder erfolglos ihrem westlichen Vorbild nacheiferten, gab der westlichen Seite die Möglichkeit, den Balkan als "unvollkommenes Eigenes" zu sehen, auf das sich insbesondere die eigenen Fehler wohlfeil projizieren ließen. Dabei erscheint es Todorova besorgniserregend, daß beim westlichen Blick auf den Balkan trotz aller Lippenbekenntnisse über Multikulturalität noch heute gerade "der Status des Übergangs, der Komplexität, der Mischung und der Mehrdeutigkeit (als) anormaler Zustand" gilt. Insofern bietet Todorovas Buch nicht nur einen unschätzbaren Fundus an Informationen, um die verfahrene Situation auf dem Bem zu verstehen, sondern es kann auch dabei helfen, die Überheblichkeit des eigenen "zivilisierten" Standpunktes zu relativieren und Ambivalenzen besser zu ertragen. Im Hinblick auf die Zukunft ist eine Auseinandersetzung mit dem Balkanismus im Westen dringend geboten: Denn die Verwicklung in Balkanangelegenheiten wird mit Europas bequemen Vorurteil wohl kaum beendet sein.