In Barcelona gehen Tausende Menschen auf die Straßen. Sie fordern ein unabhängiges Katalonien – unabhängig von Spanien, ihrem Nationalstaat. Und in Schottland macht Ministerpräsident Alex Salmond schon seit Jahren offen Wahlkampf mit einem Referendum über die schottische Unabhängigkeit.
Der Separatismus geht um in Europa. Denn es sind nicht nur die Schotten und die Katalanen. Galizien, das Baskenland, Flandern oder auch Süd-Tirol: Viele Regionen Europas denken mal leise, mal sehr laut über ihre Unabhängigkeit nach – oder wollen sie gleich ausrufen. So wie es 2014 vielleicht die Schotten tun werden.
"Dafür gibt es eine Million verschiedener Gründe. Meine persönliche Motivation ist, dass Schottland ein historisch europäischer Staat ist. Und ich glaube, Westminster ist kein guter Ort, irgendein Land zu regieren, am allerwenigsten meines."
Sagt Alyn Smith, schottischer Abgeordneter der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament. "Schottland zeigt bisher den Weg auf", pflichtet der spanische Europa-Abgeordnete Raul Romeva i Rueda bei. Genauer: der katalanische Europa-Abgeordnete.
"Es geht doch grundsätzlich um das Recht einer Bevölkerungsgruppe, über ihre eigene Zukunft zu entscheiden. 80 bis 85 Prozent der Katalanen befürworten ein Referendum. Das bedeutet, dass die meisten Menschen das traditionelle System als überholt ansehen."
In Katalonien will man es den Schotten gleichtun. Bei den morgigen Regionalwahlen gilt Artur Mas, der Chef der "Convergència Democràtica de Catalunya", der Partei Demokratische Konvergenz Kataloniens, als klarer Favorit. Das oberste Wahlversprechen des überzeugten Katalanen: ein Referendum über die Unabhängigkeit. Auf welchem Boden aber gedeiht der Separatismus? Er hat viele Wurzeln, meint der Schotte Alyn Smith, unter anderem politische:
"Die ersten grünen Parlamentarier im gesamten Vereinigten Königreich wurden in Schottland gewählt. Wir stehen kurz davor, die gleichgeschlechtliche Ehe einzuführen. Wir sind einfach ein fortschrittlicheres, ökologisches, nordisches Land. Im Gegensatz zu unserer britischen Regierung, die das nicht widerspiegelt."
Und der Katalane Romeva verweist auf kulturelle Gründe.
"Es ist wahr, dass es eine Frage des Gefühls ist. Es ist wahr, dass es eine Frage der Identität ist. Ich bin Katalane, ich spreche Katalanisch. Und bin sehr entrüstet, dass die Sprache von neun Millionen Menschen nicht anerkannt wird. Hätten die spanischen Behörden die Mehrsprachigkeit des Landes anerkannt, dann hätte dieses Problem schon längst gelöst werden können."
Warum die Separatismusbestrebungen einiger europäischer Regionen aber ausgerechnet jetzt aufkeimen, dafür hat der Süd-Tiroler Herbert Dorfmann eine einfache Erklärung:
"Nun ich denke, solange es allen, jetzt sage ich es ein bisschen salopp, allen recht gut gegangen ist, war das für alle auch recht okay. Wenn es schlechter geht, dann beginnt der Verteilungskampf."
Herbert Dorfmann ist der einzige Süd-Tiroler im Europäischen Parlament. Er stammt also aus einer Region, die selbst immer wieder mit der Unabhängigkeit liebäugelt. Er glaubt, die allgegenwärtige Krise habe dem Separatismus erst den richtigen Nährboden gegeben.
"Ich denke, wenn ich mir die Situation in Spanien anschaue, dass eine aufstrebende, wirtschaftlich starke Region, wie es die Katalanen sind, jetzt irgendwann halt sagen: Wieso sollen wir jetzt eigentlich unseren Wohlstand infrage stellen, weil der Staat Spanien doch einigen Mist gebaut hat."
Und gerade in den letzten beiden Krisenjahren habe sich die exakt deckungsgleiche Diskussion auch in Süd-Tirol wieder deutlich verschärft. Dorfmann definiert sich als Süd-Tiroler. Aber eben auch als Europäer. Insofern beobachtet ausgerechnet ein überzeugter Regionalist den Separatismus ganz genau – und zwar mit einem sehr skeptischen Auge.
"Dieser Separatismus, der jetzt um sich greift, ist ja in Wirklichkeit kein Regionalismus, das ist ein Nationalismus - wiedererstarkender Nationalismus in Europa. Und meine Idee von Europa war eigentlich immer die gewesen, die Bedeutung der Nationalstaaten hinunterzufahren und Souveränität nach Brüssel zu verschieben. Wenn wir jetzt zukünftig in Europa neue Staaten haben und links und rechts in Regionen neue Staaten entstehen – ich denke, das nutzt weder der europäischen Idee, noch den Menschen, die in diesen Regionen leben."
Stahl: "Also, ich habe ein bisschen Probleme mit dem Stichwort Separatismus. Wenn man Separatismus hört, dann denkt man an Scheidung."
Sagt Gerhard Stahl. Generalsekretär des Ausschusses der Regionen der Europäischen Union. Im Ausschuss sind Hunderte Regionen politisch organisiert. Von Scheidung, meint Stahl, könne jedoch keine Rede sein. Vielmehr suche Europa Wege, sich zwischen Regionen, Nationalstaaten und Europäischer Union selbst neu zu definieren.
"Ein Vorteil der Europäischen Union ist vielleicht, dass man eine solche Debatte angstfrei führen kann. Wer an Irland denkt, wer an das Baskenland denkt, der weiß ja, dass wir bis vor Kurzem eigentlich noch gewalttätige Konflikte hatten. Und die Europäische Union hat meiner Ansicht nach mit dazu beigetragen, dass diese Wunden der Geschichte jetzt friedlicher gelöst werden können. Ich denke, dass es sicher gut ist, dass alle Beteiligten dazu beitragen, diese Themen nicht zu dramatisieren."
In den betroffenen Ländern sind viele Menschen längst nicht so gelassen. Zum Beispiel in Katalonien: Dort reden die einen von der Ausbeutung durch Spanien, andere werfen den Nationalisten vor, sie würden sich die Region aneignen.
Seit 1977 ist Katalonien weitgehend autonom, mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und als Nation innerhalb Spaniens anerkannt. Die katalanische Sprache ist nach einer aktiven Sprachpolitik überall zu hören. Mit dieser Dezentralisierung wollte Spanien dem Selbstbewusstsein vieler Regionen gerecht werden.
Noch vor wenigen Jahren sprachen sich nur wenige Katalanen für die Unabhängigkeit aus. Auch die nationalistische Regierungspartei Demokratische Konvergenz war keine separatistische Kraft.
Doch im Zuge der Wirtschaftskrise musste Regierungschef Artur Mas empfindlich kürzen. Todesfälle in Krankenhäusern wurden den Einsparmaßnahmen zugeschrieben. Tausende demonstrierten gegen den Ministerpräsidenten. Bis dieser die Zentralregierung in Madrid vor die Wahl stellte: Entweder sie überlässt der mit 42 Milliarden Euro hoch verschuldeten Region sämtliche Steuereinnahmen. Katalonien würde dann selbst entscheiden, wie viel es Spanien gibt. Oder der Weg in die Unabhängigkeit wäre nicht mehr aufzuhalten.
"Katalonien ist wie Litauen, doch Spanien ist nicht die Sowjetunion", hatte hingegen einst der langjährige Landesvater Jordi Pujol erklärt, warum Katalonien nicht unabhängig werden müsse. Immerhin haben auch die Katalanen 1978 für die spanische Verfassung gestimmt.
Doch nach dieser Verfassung können Referenden nur im Einvernehmen mit der Zentralregierung abgehalten werden, eine Unabhängigkeit einzelner Regionen wäre nur nach einer Verfassungsreform möglich. Generalsekretär der mächtigen nationalistischen Partei "Konvergenz und Union" ist heute Pujols Sohn, Oriol Pujol. Zum umstrittenen Referendum über die Unabhängigkeit meint er:
"Das könnte im Einvernehmen mit Spanien geschehen. Wenn das nicht geht, suchen wir die katalanische Legalität. Und wenn dies auch nicht möglich ist, appellieren wir an das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Wir streben aber zuerst ein Referendum im Rahmen des spanischen Rechts an, im Einvernehmen mit der spanischen Regierung. So, wie es ja auch ein Abkommen zwischen England und Schottland für ein Referendum im Jahr 2014 gegeben hat."
Soll Katalonien ein eigener Staat innerhalb der Europäischen Union sein? Diese Frage wollen die katalanischen Nationalisten stellen. Es ist unwahrscheinlich, dass Spaniens Regierung einem solchen Volksentscheid zustimmen würde. Strittig ist auch, ob ein katalanischer Staat auch automatisch Mitglied der Europäischen Union wäre. Auch ein Besuch von Artur Mas beim Think Tank der "Friends of Europe" in Brüssel brachte darüber keine Klärung. Ein schottischer Europa-Abgeordneter fand es zudem widersprüchlich, dass Mas katalanische Steuereinnahmen zwar mit der Europäischen Union teilen wolle, aber nicht mit den armen Regionen Spaniens. Oriol Pujol beschwichtigt:
"Europa wird kaum eine Position formulieren können, bevor es einen konkreten Vorschlag vorliegen hat. Was passiert, wenn die Schotten für die Unabhängigkeit stimmen? Wie soll die Union dann mit unzweifelhaft europäischen Nationen umgehen, die ihr demokratisches Grundrecht ausüben? Soll Europa dann 'Nein' dazu sagen? Sollen 7,5 Millionen Katalanen, die seit 25 Jahren zu Europa gehören, alle Anforderungen der EU erfüllen, plötzlich keine Europäer mehr sein?"
Auch der Rest Spaniens ringt heftig mit den Prinzipien der Union und des Völkerrechts. Ist es legitim, wenn innerhalb eines Landes eine Gruppe die Landesverfassung nicht mehr anerkennt? Welche Rolle kommt der Europäischen Union zu? Wie verhält es sich mit dem Selbstbestimmungsrecht? Zusammengefasst: Gibt es ein Grundrecht für einseitige Unabhängigkeitserklärungen?
Über solche Fragen hat sich der Spanier Carlos Carnero schon 2003 Gedanken gemacht. Er war damals sozialistischer Europa-Abgeordneter und Mitglied im sogenannten Konvent, der die EU-Verfassung ausarbeiten sollte. Damals schlug er einen Passus vor, der heute Teil des Vertrags der Europäischen Union ist:
"Dort heißt es, dass die Union die Außengrenzen und Verfassungen ihrer Mitgliedsstaaten respektiert. Das heißt, die EU dürfte sich nicht einmal dazu äußern, wenn es in einem ihrer Mitgliedsstaaten zu einer einseitigen Sezessionserklärung kommt. Nur die einzelnen Mitgliedsstaaten sind die Souveräne ihrer verfassungsgemäßen Ordnung. Wenn es tatsächlich zu solch einem neuen Staat kommen sollte und er Mitglied der Union werden möchte, müsste er das Verfahren zum Beitritt neuer Mitgliedsstaaten durchlaufen."
Diese Haltung hat auch EU-Justizkommissarin Viviane Reding Anfang Oktober in einem Brief an die spanische Regierung bestätigt. Am Rande eines Bürgerforums in Berlin wiederholte sie: Katalonien und Schottland müssten im Falle einer Unabhängigkeit einen Aufnahmeantrag in die Union stellen.
Carlos Carnero unterscheidet zudem: Während Schottland sich mit Großbritannien auf ein Referendum geeinigt hat, droht die katalanische Regionalregierung im Notfall mit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung. Dies würde die Aufnahme eines solchen neuen Staats in die EU unmöglich machen:
"Das Europaparlament müsste sich dazu äußern und alle Mitgliedsstaaten müssten mit der Aufnahme einverstanden sein. Ich unterstreiche hier die Einstimmigkeit. Wenn es eine einseitige Unabhängigkeitserklärung gibt, wäre diese Einstimmigkeit mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gegeben, denn der betroffene Staat würde sicher widersprechen."
Doch nicht nur formale Gründe würden Carnero zufolge gegen einen neuen katalanischen Nationalstaat in Europa sprechen. Auch das Völkerrecht sieht er nicht auf der Seite der katalanischen Separatisten.
Katalonien sei weder eine spanische Kolonie noch sei seine Situation vergleichbar mit der unterdrückter jugoslawischer Teilrepubliken zur Zeit Milosevics - oder anderen Fällen, auf die das Selbstbestimmungsrecht der Völker einst angewendet wurde, meint der langjährige Europapolitiker. Nationalistische Mythologien hingegen stütze das Völkerrecht nicht:
"Das Europa der Mythen ist Teil der Geschichte. Völkisches Denken stammt aus den Nebelschwaden der Geschichte. Ein Volk besteht aus Untertanen. Wir leben im Europa der Bürger. Ein Bürger ist ein Individuum mit individuellen Rechten. Eine unilaterale Unabhängigkeitserklärung in Europa repräsentiert heute genau das Gegenteil der Ideale der Union."
Von der Zugehörigkeit zur Union hängt nach jüngsten Umfragen aber alles ab: 46 Prozent würden sich repräsentativen Umfragen zufolge für eine Unabhängigkeit Kataloniens innerhalb der EU aussprechen, 42 Prozent dagegen. Würde ein neuer katalanischer Staat jedoch nicht automatisch zur EU gehören, wären nur noch 37 Prozent dafür.
Doch eine eindeutige Antwort auf eben diese Frage - automatische Mitgliedschaft oder neue Beitrittsverhandlungen - bleibt die Europäische Kommission bislang schuldig. Abgesehen von den Einlassungen der Justizkommissarin schweigt die EU-Kommission zu den Unabhängigkeitsbestrebungen. Auch, wenn die Brüsseler Korrespondenten in den Pressekonferenzen noch so sehr nachbohren, Sprecherin Pia Ahrenkilde Hansen wiederholt beständig ihr Mantra:
"Wir bräuchten ein Szenario, vorgelegt durch ein Mitgliedsland, das eine Stellungnahme der Europäischen Kommission einfordert. Das ist Voraussetzung dafür, dass wir uns zu den Folgen und Implikationen für die Europäischen Verträge äußern. Ich kann heute nichts zu einem bestimmten Szenario sagen, weil uns ein solches Szenario einfach nicht vorliegt."
Im Klartext heißt das: Solange kein EU-Staat offiziell nachfragt, wie man es mit möglichen Staatsneugründungen hält, mischt sich die Kommission nicht weiter ein. Das gilt für Katalonien ebenso wie für Schottland, Flandern oder Südtirol. Ende der Diskussion.
Eine Haltung, die Journalisten unzufrieden zurücklässt, unter Experten aber Zuspruch erfährt. Dass sich die Kommission offiziell noch nicht einmal zu Schottland äußern will, also zu einem Fall, in dem die Unabhängigkeit in greifbare Nähe gerückt ist, hält der Politologe Janis Emmanouilidis vom European Policy Centre in Brüssel für richtig:
"In der jetzigen Situation offen zu erklären, wie es aussehen würde, würde natürlich die EU und vor allem die Kommission zum Akteur in einer innenpolitischen Frage machen, die sehr, sehr sensibel ist. Und von daher ist es politisch schon weise, sich eher zurückzuhalten, zumindest soweit man kann."
Insbesondere zu einem Zeitpunkt, wo der Ausgang der schottischen Volksabstimmung noch vollkommen offen ist. Selbst wenn es letztlich ein "Ja" zur Unabhängigkeit gäbe, wären doch zunächst einmal die beiden betroffenen Parteien am Zug, so Emmanouilidis. Ein sogenanntes "Rumpf-UK" müsse dann mit Schottland verhandeln, wie es weitergeht und welcher der beiden Staaten der legitime Nachfolger Großbritanniens in der EU ist.
Dass Schottland sich am Ende erneut um eine EU-Mitgliedschaft bewerben und den kompletten Aufnahmeprozess durchlaufen muss, hält der schottische Europa-Abgeordnete und Jurist Alyn Smith für abwegig. Zwar sei in den Europäischen Verträgen kein Prozedere für derartige Fälle festgelegt, aber:
"Die EU ist grundsätzlich pragmatisch: Die Beamten in der Europäischen Kommission, die hatten es schon mit dem Fall der Berliner Mauer zu tun, mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, dem Zusammenbruch Jugoslawiens – also mit Dingen, die ein paar Nummern größer sind, als eine demokratische Entscheidung in Schottland."
Alles also halb so wild, versichert der junge Abgeordnete. Seiner Meinung nach hat das schottische Referendum den Rest Europas nicht weiter zu interessieren. Eine Einmischung der EU in der Angelegenheit? – Bloß nicht! Und die Ansteckungsgefahr, vor der so viele warnen, die Angst vor einer "Balkanisierung" Europas – vollkommen unberechtigt, so Smith:
"Schottlands Situation ist historisch einmalig. Unsere Geschichte als unabhängiger Staat ist länger als unsere Vergangenheit als Teil des Vereinigten Königreichs. Erst seit 1707 sind wir Teil des Königreichs. Wir kehren also zu unserem historischen Status zurück. Das ist sonst nirgendwo der Fall. Wir sind legal betrachtet sui generis, wir schaffen also in kleinster Weise einen Präzedenzfall für andere."
Doch das ist leicht gesagt. Gerade in Katalonien wird sehr genau beobachtet, was in Vereinigten Königreich vor sich geht.
"Warten wir mal ab, was in Schottland passiert. Das ist sehr interessant, wie London beziehungsweise die britische Regierung zu einer Einigung mit Edinburgh gekommen ist. So sollte so etwas ablaufen."
Findet der katalanische Europa-Abgeordnete Raul Romeva i Rueda. Seiner Meinung nach sind die Unabhängigkeitsbewegungen keine Gefahr für die Europäische Union.
"In einer Zeit, in der die Mitgliedstaaten Souveränität an die EU abgeben oder das zumindest tun sollten, verändert sich auch das Konzept der Staatlichkeit an sich. Oder anders gesagt: In zehn Jahren werden die Mitgliedstaaten sowieso nicht mehr dieselben sein wie heute."
Sprich: Auf ein, zwei Staaten mehr komme es dann auch nicht an. Letztlich, so der Abgeordnete, geht es doch nur darum, überhaupt die Wahl zu haben.
"Referendum says no – end of debate. Referendum says yes – let's start thinking about this!"
Der Separatismus geht um in Europa. Denn es sind nicht nur die Schotten und die Katalanen. Galizien, das Baskenland, Flandern oder auch Süd-Tirol: Viele Regionen Europas denken mal leise, mal sehr laut über ihre Unabhängigkeit nach – oder wollen sie gleich ausrufen. So wie es 2014 vielleicht die Schotten tun werden.
"Dafür gibt es eine Million verschiedener Gründe. Meine persönliche Motivation ist, dass Schottland ein historisch europäischer Staat ist. Und ich glaube, Westminster ist kein guter Ort, irgendein Land zu regieren, am allerwenigsten meines."
Sagt Alyn Smith, schottischer Abgeordneter der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament. "Schottland zeigt bisher den Weg auf", pflichtet der spanische Europa-Abgeordnete Raul Romeva i Rueda bei. Genauer: der katalanische Europa-Abgeordnete.
"Es geht doch grundsätzlich um das Recht einer Bevölkerungsgruppe, über ihre eigene Zukunft zu entscheiden. 80 bis 85 Prozent der Katalanen befürworten ein Referendum. Das bedeutet, dass die meisten Menschen das traditionelle System als überholt ansehen."
In Katalonien will man es den Schotten gleichtun. Bei den morgigen Regionalwahlen gilt Artur Mas, der Chef der "Convergència Democràtica de Catalunya", der Partei Demokratische Konvergenz Kataloniens, als klarer Favorit. Das oberste Wahlversprechen des überzeugten Katalanen: ein Referendum über die Unabhängigkeit. Auf welchem Boden aber gedeiht der Separatismus? Er hat viele Wurzeln, meint der Schotte Alyn Smith, unter anderem politische:
"Die ersten grünen Parlamentarier im gesamten Vereinigten Königreich wurden in Schottland gewählt. Wir stehen kurz davor, die gleichgeschlechtliche Ehe einzuführen. Wir sind einfach ein fortschrittlicheres, ökologisches, nordisches Land. Im Gegensatz zu unserer britischen Regierung, die das nicht widerspiegelt."
Und der Katalane Romeva verweist auf kulturelle Gründe.
"Es ist wahr, dass es eine Frage des Gefühls ist. Es ist wahr, dass es eine Frage der Identität ist. Ich bin Katalane, ich spreche Katalanisch. Und bin sehr entrüstet, dass die Sprache von neun Millionen Menschen nicht anerkannt wird. Hätten die spanischen Behörden die Mehrsprachigkeit des Landes anerkannt, dann hätte dieses Problem schon längst gelöst werden können."
Warum die Separatismusbestrebungen einiger europäischer Regionen aber ausgerechnet jetzt aufkeimen, dafür hat der Süd-Tiroler Herbert Dorfmann eine einfache Erklärung:
"Nun ich denke, solange es allen, jetzt sage ich es ein bisschen salopp, allen recht gut gegangen ist, war das für alle auch recht okay. Wenn es schlechter geht, dann beginnt der Verteilungskampf."
Herbert Dorfmann ist der einzige Süd-Tiroler im Europäischen Parlament. Er stammt also aus einer Region, die selbst immer wieder mit der Unabhängigkeit liebäugelt. Er glaubt, die allgegenwärtige Krise habe dem Separatismus erst den richtigen Nährboden gegeben.
"Ich denke, wenn ich mir die Situation in Spanien anschaue, dass eine aufstrebende, wirtschaftlich starke Region, wie es die Katalanen sind, jetzt irgendwann halt sagen: Wieso sollen wir jetzt eigentlich unseren Wohlstand infrage stellen, weil der Staat Spanien doch einigen Mist gebaut hat."
Und gerade in den letzten beiden Krisenjahren habe sich die exakt deckungsgleiche Diskussion auch in Süd-Tirol wieder deutlich verschärft. Dorfmann definiert sich als Süd-Tiroler. Aber eben auch als Europäer. Insofern beobachtet ausgerechnet ein überzeugter Regionalist den Separatismus ganz genau – und zwar mit einem sehr skeptischen Auge.
"Dieser Separatismus, der jetzt um sich greift, ist ja in Wirklichkeit kein Regionalismus, das ist ein Nationalismus - wiedererstarkender Nationalismus in Europa. Und meine Idee von Europa war eigentlich immer die gewesen, die Bedeutung der Nationalstaaten hinunterzufahren und Souveränität nach Brüssel zu verschieben. Wenn wir jetzt zukünftig in Europa neue Staaten haben und links und rechts in Regionen neue Staaten entstehen – ich denke, das nutzt weder der europäischen Idee, noch den Menschen, die in diesen Regionen leben."
Stahl: "Also, ich habe ein bisschen Probleme mit dem Stichwort Separatismus. Wenn man Separatismus hört, dann denkt man an Scheidung."
Sagt Gerhard Stahl. Generalsekretär des Ausschusses der Regionen der Europäischen Union. Im Ausschuss sind Hunderte Regionen politisch organisiert. Von Scheidung, meint Stahl, könne jedoch keine Rede sein. Vielmehr suche Europa Wege, sich zwischen Regionen, Nationalstaaten und Europäischer Union selbst neu zu definieren.
"Ein Vorteil der Europäischen Union ist vielleicht, dass man eine solche Debatte angstfrei führen kann. Wer an Irland denkt, wer an das Baskenland denkt, der weiß ja, dass wir bis vor Kurzem eigentlich noch gewalttätige Konflikte hatten. Und die Europäische Union hat meiner Ansicht nach mit dazu beigetragen, dass diese Wunden der Geschichte jetzt friedlicher gelöst werden können. Ich denke, dass es sicher gut ist, dass alle Beteiligten dazu beitragen, diese Themen nicht zu dramatisieren."
In den betroffenen Ländern sind viele Menschen längst nicht so gelassen. Zum Beispiel in Katalonien: Dort reden die einen von der Ausbeutung durch Spanien, andere werfen den Nationalisten vor, sie würden sich die Region aneignen.
Seit 1977 ist Katalonien weitgehend autonom, mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und als Nation innerhalb Spaniens anerkannt. Die katalanische Sprache ist nach einer aktiven Sprachpolitik überall zu hören. Mit dieser Dezentralisierung wollte Spanien dem Selbstbewusstsein vieler Regionen gerecht werden.
Noch vor wenigen Jahren sprachen sich nur wenige Katalanen für die Unabhängigkeit aus. Auch die nationalistische Regierungspartei Demokratische Konvergenz war keine separatistische Kraft.
Doch im Zuge der Wirtschaftskrise musste Regierungschef Artur Mas empfindlich kürzen. Todesfälle in Krankenhäusern wurden den Einsparmaßnahmen zugeschrieben. Tausende demonstrierten gegen den Ministerpräsidenten. Bis dieser die Zentralregierung in Madrid vor die Wahl stellte: Entweder sie überlässt der mit 42 Milliarden Euro hoch verschuldeten Region sämtliche Steuereinnahmen. Katalonien würde dann selbst entscheiden, wie viel es Spanien gibt. Oder der Weg in die Unabhängigkeit wäre nicht mehr aufzuhalten.
"Katalonien ist wie Litauen, doch Spanien ist nicht die Sowjetunion", hatte hingegen einst der langjährige Landesvater Jordi Pujol erklärt, warum Katalonien nicht unabhängig werden müsse. Immerhin haben auch die Katalanen 1978 für die spanische Verfassung gestimmt.
Doch nach dieser Verfassung können Referenden nur im Einvernehmen mit der Zentralregierung abgehalten werden, eine Unabhängigkeit einzelner Regionen wäre nur nach einer Verfassungsreform möglich. Generalsekretär der mächtigen nationalistischen Partei "Konvergenz und Union" ist heute Pujols Sohn, Oriol Pujol. Zum umstrittenen Referendum über die Unabhängigkeit meint er:
"Das könnte im Einvernehmen mit Spanien geschehen. Wenn das nicht geht, suchen wir die katalanische Legalität. Und wenn dies auch nicht möglich ist, appellieren wir an das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Wir streben aber zuerst ein Referendum im Rahmen des spanischen Rechts an, im Einvernehmen mit der spanischen Regierung. So, wie es ja auch ein Abkommen zwischen England und Schottland für ein Referendum im Jahr 2014 gegeben hat."
Soll Katalonien ein eigener Staat innerhalb der Europäischen Union sein? Diese Frage wollen die katalanischen Nationalisten stellen. Es ist unwahrscheinlich, dass Spaniens Regierung einem solchen Volksentscheid zustimmen würde. Strittig ist auch, ob ein katalanischer Staat auch automatisch Mitglied der Europäischen Union wäre. Auch ein Besuch von Artur Mas beim Think Tank der "Friends of Europe" in Brüssel brachte darüber keine Klärung. Ein schottischer Europa-Abgeordneter fand es zudem widersprüchlich, dass Mas katalanische Steuereinnahmen zwar mit der Europäischen Union teilen wolle, aber nicht mit den armen Regionen Spaniens. Oriol Pujol beschwichtigt:
"Europa wird kaum eine Position formulieren können, bevor es einen konkreten Vorschlag vorliegen hat. Was passiert, wenn die Schotten für die Unabhängigkeit stimmen? Wie soll die Union dann mit unzweifelhaft europäischen Nationen umgehen, die ihr demokratisches Grundrecht ausüben? Soll Europa dann 'Nein' dazu sagen? Sollen 7,5 Millionen Katalanen, die seit 25 Jahren zu Europa gehören, alle Anforderungen der EU erfüllen, plötzlich keine Europäer mehr sein?"
Auch der Rest Spaniens ringt heftig mit den Prinzipien der Union und des Völkerrechts. Ist es legitim, wenn innerhalb eines Landes eine Gruppe die Landesverfassung nicht mehr anerkennt? Welche Rolle kommt der Europäischen Union zu? Wie verhält es sich mit dem Selbstbestimmungsrecht? Zusammengefasst: Gibt es ein Grundrecht für einseitige Unabhängigkeitserklärungen?
Über solche Fragen hat sich der Spanier Carlos Carnero schon 2003 Gedanken gemacht. Er war damals sozialistischer Europa-Abgeordneter und Mitglied im sogenannten Konvent, der die EU-Verfassung ausarbeiten sollte. Damals schlug er einen Passus vor, der heute Teil des Vertrags der Europäischen Union ist:
"Dort heißt es, dass die Union die Außengrenzen und Verfassungen ihrer Mitgliedsstaaten respektiert. Das heißt, die EU dürfte sich nicht einmal dazu äußern, wenn es in einem ihrer Mitgliedsstaaten zu einer einseitigen Sezessionserklärung kommt. Nur die einzelnen Mitgliedsstaaten sind die Souveräne ihrer verfassungsgemäßen Ordnung. Wenn es tatsächlich zu solch einem neuen Staat kommen sollte und er Mitglied der Union werden möchte, müsste er das Verfahren zum Beitritt neuer Mitgliedsstaaten durchlaufen."
Diese Haltung hat auch EU-Justizkommissarin Viviane Reding Anfang Oktober in einem Brief an die spanische Regierung bestätigt. Am Rande eines Bürgerforums in Berlin wiederholte sie: Katalonien und Schottland müssten im Falle einer Unabhängigkeit einen Aufnahmeantrag in die Union stellen.
Carlos Carnero unterscheidet zudem: Während Schottland sich mit Großbritannien auf ein Referendum geeinigt hat, droht die katalanische Regionalregierung im Notfall mit einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung. Dies würde die Aufnahme eines solchen neuen Staats in die EU unmöglich machen:
"Das Europaparlament müsste sich dazu äußern und alle Mitgliedsstaaten müssten mit der Aufnahme einverstanden sein. Ich unterstreiche hier die Einstimmigkeit. Wenn es eine einseitige Unabhängigkeitserklärung gibt, wäre diese Einstimmigkeit mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gegeben, denn der betroffene Staat würde sicher widersprechen."
Doch nicht nur formale Gründe würden Carnero zufolge gegen einen neuen katalanischen Nationalstaat in Europa sprechen. Auch das Völkerrecht sieht er nicht auf der Seite der katalanischen Separatisten.
Katalonien sei weder eine spanische Kolonie noch sei seine Situation vergleichbar mit der unterdrückter jugoslawischer Teilrepubliken zur Zeit Milosevics - oder anderen Fällen, auf die das Selbstbestimmungsrecht der Völker einst angewendet wurde, meint der langjährige Europapolitiker. Nationalistische Mythologien hingegen stütze das Völkerrecht nicht:
"Das Europa der Mythen ist Teil der Geschichte. Völkisches Denken stammt aus den Nebelschwaden der Geschichte. Ein Volk besteht aus Untertanen. Wir leben im Europa der Bürger. Ein Bürger ist ein Individuum mit individuellen Rechten. Eine unilaterale Unabhängigkeitserklärung in Europa repräsentiert heute genau das Gegenteil der Ideale der Union."
Von der Zugehörigkeit zur Union hängt nach jüngsten Umfragen aber alles ab: 46 Prozent würden sich repräsentativen Umfragen zufolge für eine Unabhängigkeit Kataloniens innerhalb der EU aussprechen, 42 Prozent dagegen. Würde ein neuer katalanischer Staat jedoch nicht automatisch zur EU gehören, wären nur noch 37 Prozent dafür.
Doch eine eindeutige Antwort auf eben diese Frage - automatische Mitgliedschaft oder neue Beitrittsverhandlungen - bleibt die Europäische Kommission bislang schuldig. Abgesehen von den Einlassungen der Justizkommissarin schweigt die EU-Kommission zu den Unabhängigkeitsbestrebungen. Auch, wenn die Brüsseler Korrespondenten in den Pressekonferenzen noch so sehr nachbohren, Sprecherin Pia Ahrenkilde Hansen wiederholt beständig ihr Mantra:
"Wir bräuchten ein Szenario, vorgelegt durch ein Mitgliedsland, das eine Stellungnahme der Europäischen Kommission einfordert. Das ist Voraussetzung dafür, dass wir uns zu den Folgen und Implikationen für die Europäischen Verträge äußern. Ich kann heute nichts zu einem bestimmten Szenario sagen, weil uns ein solches Szenario einfach nicht vorliegt."
Im Klartext heißt das: Solange kein EU-Staat offiziell nachfragt, wie man es mit möglichen Staatsneugründungen hält, mischt sich die Kommission nicht weiter ein. Das gilt für Katalonien ebenso wie für Schottland, Flandern oder Südtirol. Ende der Diskussion.
Eine Haltung, die Journalisten unzufrieden zurücklässt, unter Experten aber Zuspruch erfährt. Dass sich die Kommission offiziell noch nicht einmal zu Schottland äußern will, also zu einem Fall, in dem die Unabhängigkeit in greifbare Nähe gerückt ist, hält der Politologe Janis Emmanouilidis vom European Policy Centre in Brüssel für richtig:
"In der jetzigen Situation offen zu erklären, wie es aussehen würde, würde natürlich die EU und vor allem die Kommission zum Akteur in einer innenpolitischen Frage machen, die sehr, sehr sensibel ist. Und von daher ist es politisch schon weise, sich eher zurückzuhalten, zumindest soweit man kann."
Insbesondere zu einem Zeitpunkt, wo der Ausgang der schottischen Volksabstimmung noch vollkommen offen ist. Selbst wenn es letztlich ein "Ja" zur Unabhängigkeit gäbe, wären doch zunächst einmal die beiden betroffenen Parteien am Zug, so Emmanouilidis. Ein sogenanntes "Rumpf-UK" müsse dann mit Schottland verhandeln, wie es weitergeht und welcher der beiden Staaten der legitime Nachfolger Großbritanniens in der EU ist.
Dass Schottland sich am Ende erneut um eine EU-Mitgliedschaft bewerben und den kompletten Aufnahmeprozess durchlaufen muss, hält der schottische Europa-Abgeordnete und Jurist Alyn Smith für abwegig. Zwar sei in den Europäischen Verträgen kein Prozedere für derartige Fälle festgelegt, aber:
"Die EU ist grundsätzlich pragmatisch: Die Beamten in der Europäischen Kommission, die hatten es schon mit dem Fall der Berliner Mauer zu tun, mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, dem Zusammenbruch Jugoslawiens – also mit Dingen, die ein paar Nummern größer sind, als eine demokratische Entscheidung in Schottland."
Alles also halb so wild, versichert der junge Abgeordnete. Seiner Meinung nach hat das schottische Referendum den Rest Europas nicht weiter zu interessieren. Eine Einmischung der EU in der Angelegenheit? – Bloß nicht! Und die Ansteckungsgefahr, vor der so viele warnen, die Angst vor einer "Balkanisierung" Europas – vollkommen unberechtigt, so Smith:
"Schottlands Situation ist historisch einmalig. Unsere Geschichte als unabhängiger Staat ist länger als unsere Vergangenheit als Teil des Vereinigten Königreichs. Erst seit 1707 sind wir Teil des Königreichs. Wir kehren also zu unserem historischen Status zurück. Das ist sonst nirgendwo der Fall. Wir sind legal betrachtet sui generis, wir schaffen also in kleinster Weise einen Präzedenzfall für andere."
Doch das ist leicht gesagt. Gerade in Katalonien wird sehr genau beobachtet, was in Vereinigten Königreich vor sich geht.
"Warten wir mal ab, was in Schottland passiert. Das ist sehr interessant, wie London beziehungsweise die britische Regierung zu einer Einigung mit Edinburgh gekommen ist. So sollte so etwas ablaufen."
Findet der katalanische Europa-Abgeordnete Raul Romeva i Rueda. Seiner Meinung nach sind die Unabhängigkeitsbewegungen keine Gefahr für die Europäische Union.
"In einer Zeit, in der die Mitgliedstaaten Souveränität an die EU abgeben oder das zumindest tun sollten, verändert sich auch das Konzept der Staatlichkeit an sich. Oder anders gesagt: In zehn Jahren werden die Mitgliedstaaten sowieso nicht mehr dieselben sein wie heute."
Sprich: Auf ein, zwei Staaten mehr komme es dann auch nicht an. Letztlich, so der Abgeordnete, geht es doch nur darum, überhaupt die Wahl zu haben.
"Referendum says no – end of debate. Referendum says yes – let's start thinking about this!"