Diesmal ist etwas geschehen, und das ist auch etwas ganz Physisches, nämlich, dass ich unter dem Wassermangel der Gegend gelitten habe. Der Auslöser, diesen Titel zu geben und über Wahrnehmung und das Element Wasser nachzudenken, in immer neuen Variationen, das ist etwas ganz Physisches. Hier gibt es einfach wenig Wasser, in dieser Gegend, wenig fließendes oder stehendes, wenig Oberflächenwasser. Man muss hier eineinhalb Stunden mit dem Auto fahren, um an den Bodensee zu kommen. Baggerseen und das heilig nüchterne Wasser des Neckars, das ist eine poetische Ortsangabe, das konkrete Wasser des Neckars ist vergleichsweise uninteressant, weil der Neckar allerwegen aufgestaut ist und es für Bootsfahrer viel interessanter ist auf die Donau zu gehen.
Die meisten neuen Gedichte sind für weniger erfahrene Leser Uwe Kolbes zunächst schwer zugänglich. Er selbst schreibt im Gedicht mit den vielsagenden Titel "Unverständliches Gedicht", dass dieses in seiner Unverständlichkeit schon zu viele Vorgänger hatte. Außerdem habe dieses Gedicht, wenn auch ein Teil von ihm, sein Eigenleben, und gerade dies ist es wohl, was viele Gedichte beim ersten Blick so fremd erscheinen lassen. Uwe Kolbes Bilder, die er in expressionistischer Tradition aneinander reiht, formen meist keinen zusammenhängenden Ausschnitt von Welt. Sie zeigen ein sperriges Geflecht von Wirklichkeitsfetzen, die der Dichter in den für ihn bedeutsamen Augenblicken wahrgenommen hat. In seinem Gedicht "Tübingen, Juli 2000" sieht sich der Leser unvermittelt in ein mittlerweile historisches Geschehen gestellt. In den ersten drei Zeilen heißt es:
"Frankreich Europameister in den Gassen der Altstadt (Seminar)/Independence Day auf der Neckarwiese (Vorlesung)/Sommerfest der Universität (Vorankündigung)."
Auch im langen Gedicht über Berlin mit seinen 30 dreizeiligen Strophen, teilt er in unbeirrter Spontaneität Gedankenfetzen, Erinnerungspartikel und Sekundenbilder mit, deren einziger Zusammenhang und Zusammenhalt die Stadt Berlin, die Heimat des Dichters ist.
Uwe Kolbe selbst wehrt sich gegen denn Eindruck, seine Gedichte seien schwer zugänglich. Er meint, er schreibe,
die schlichtesten Gedichte, die man derzeit lesen kann von deutschen Autoren. Na, ja - in Konkurrenz mit Robert Gernhard vielleicht, aber der gehört einer anderen Schule an. Wenn ich für meine Gedichte eine Lesehilfe geben würde, würde ich immer sagen: Nimm es so verflucht konkret und profan wie es wirklich ist. Es ist kein Bild, es ist nicht aus Literatur. Die Form, der Formenkanon, mache Anspielung, aber die musst du gar nicht wissen. Das Ding muss so aufgehen, wie es da steht.
Ob diese Lesehilfe wirklich hilft, entscheidet letztlich der Leser. Doch macht es gerade die Lebendigkeit der Gedichte aus, dass Uwe Kolbe unmittelbar mit Sprache auf Ereignisse reagiert. Und dieser Funke der Unmittelbarkeit springt dann über oder nicht. Diese geheime Korrespondenz bei der Lektüre lässt sich nicht erzwingen. Dabei spricht es für die Wahrhaftigkeit der Gedichte, dass Uwe Kolbe sich gerade nicht über Gebühr bemüht, verstanden zu werden. Er präsentiert, erklärt aber nicht, denn jede erklärende Vermittlung würde seiner Poesie die lebendige Präsenz nehmen. Die Motive sind nicht gesucht, sondern kommen unvermittelt aus dem persönlichen Lebensfeld auf ihn zu:
Ich arbeite nicht Gedichtthemen ab, sondern ich habe Gründe Gedichte zu schreiben, und diese Gründe haben mit meiner Existenz zu tun und sind nicht gesucht und müssen auch nicht gesucht werden. Es gibt natürlich Leute, die können sich Themen hernehmen und die dann lyrisch abarbeiten. Das könnte ich handwerklich auch, aber das finde ich uninteressant. Und in dem Sinne - ich habe das oft genug gesagt- sind meine Gedichte Gelegenheitsgedichte, weil sie den Gelegenheiten meines Lebens entstammen.
In all diesen Gelegenheiten sucht er jedoch, ob bewusst oder unbewusst, auch sich selbst. Sein Schreiben wirkt wie das Protokoll einer Recherche nach dem, was seine Person im Wechsel der Zeiten, Ereignisse und Gedanken letzten Endes ausmachen könnte. So heißt es im Gedicht "Fragwürdige Erklärung" in der ersten Zeile: "Zu gern wäre ich, der ich nicht bin."
Bei aller Vielschichtigkeit von Formen und Inhalten befassen sich einzelne Gedichte immer wieder mit nur einem Gegenstand. "Der Hochsitz" ist nur aus wenige prägnanten Bilder geformt und erinnert in seiner schlichten Gegenwart an die stille Kraft der femöstlichen Poesie und der Kunst des Zen-Buddhismus:
"Er steht nach hinten rechts/Auf einem langen Bein Links stützt er seinen Arm/Auf einen Weidenast/ Vom halten lange Nägel/an Pfosten sieben Sprossen fest Auf deren letzter oben/Zwei Füße in Sandalen"
Eines der schönsten Gedichte ist "Der Transistor". Uwe Kolbe verbindet mit dem Radiogerät seine eigene Geschichte und die Vergangenheit der DDR. In der Mitte des Gedichtes nennt er beiläufig "Hey Jude" von den Beatles, und beim Lesen meine ich wirklich diesen wunderbaren Song zu hören, ebenso wie er beim ersten Mal vor mehr als dreißig Jahren aus meinem alten Radio erklang.
"Der Transistor"
"Von dem Gerüst/An dem kleinen hundertjährigen Haus/ Schallt ein Song herüber/ Aus einem siebziger Jahr des letzten Jahrhunderts/Zeitgefühlsgänsehaut/Das Transistorradio ist so weit aufgedreht/Dass es scheppert -Frau Highsmith überliefert Cliffies Plattenspieler,/auf dem lag immer Hey Jude./Ich höre im Weitergehen den RFT-Smaragd,/fühl das Gewicht seines Holzgehäuses/vierhundertachtzig Mark waren wirklich viel Geld in der DDR/auch in den siebziger Jahren. Ein tolles Geschenk./Und ich ging allein hinaus in die leeren und dunklen Straßen der Stadt,/Hell über mir das Firmament der Hitparaden.