"Wir hatten dort unsere täglichen Gottesdienste, aber ihnen fehlte das Heimische…"
Ein ehemaliger deutscher Kriegsgefangener berichtete 1963 im Westdeutschen Rundfunk von seinen Erlebnissen in Rimini. Unter den dort Inhaftierten waren auch einige Studenten der Theologie und der Kirchenmusik. Ein schwäbischer Orgelbauer - Werner Renkewitz - hatte eines Tages die Idee, eine Orgel im Lager zu bauen. Unter den primitivsten Verhältnissen und mit den einfachsten Mitteln.
"Das Holz sind alte Einpackkisten, Apfelsinenkisten usw., die auch eben vom Abfall kamen",
erzählte Renkewitz einem Reporter des damaligen Südwestfunks, der ihn 1950 in Rimini besucht hat. Dort lebte er damals noch und betrieb eine provisorische Werkstatt.
"502 Pfeifen und zwölf Register - eine Orgel, die auch in einer größeren Dorfkirche sich alle Ehre machen würde!"
Auf den Spuren der Kriegsgefangenenorgel
"Die Geschichte hat mich so fasziniert, dass ich dreimal nach Rimini gefahren bin auf der Suche nach diesem interessanten Instrument."
Michael Grüber, Organist und Betreiber der einzigen privaten PR-Agentur in Deutschland für das Instrument Orgel und für Orgelmusik.
"Ich habe mir die alten Lagerlisten über die vielen Jahre hinweg besorgt und habe mit vielen, vielen Lagerinsassen persönlichen Kontakt hergestellt: Alte Herren, das sind alles Herren um die 90."
Einer dieser Überlebenden berichtete bereits im Jahr 1963 über den Bauprozess.
"Es waren 86 Kekskanister, 35 Verpackungskisten, acht Benzinfässer, 50 Meter Draht, zwei alte Fassreifen für Zungen und vierzig Portionen Öl der Zusatzverpflegung, die Mitgefangene für den Bau stifteten. Jegliche Fachunterlagen fehlten. Einzig war dem Orgelbauer das Maß der Pfeife "C" bekannt. Alle übrigen Masse wurden nach dieser bekannten Größe umständlich errechnet. Zinn wurde durch Ablöten von Kanistern gewonnen. Der Orgelbaumeister selbst vertauschte seine Uhr gegen Zigaretten, um mit diesen wieder eine Lederhose zu erhalten, deren Leder als Dichtungsmaterial für die Ventile dienen sollte."
Ein Elektromotor für die Windversorgung des Instruments war freilich nicht zu bekommen. Aber auch hier erwies sich Werner Renkewitz als schwäbisches Tüftler-Genie. Er baute einen Mechanismus aus der Antike nach.
"Im Sinne der griechischen Wasserorgel taucht ein Blechbehälter in einen Wasserbehälter und drückt durch Herabsinken in Folge eigener Schwere die Luft in die Windkanäle der Orgel."
Die Einweihung des Instruments erregte 1945 großes Aufsehen. Die britischen und amerikanischen Militärs sorgten - das kann man rekapitulieren - für die weltweite Verbreitung des Ereignisses durch Kriegsberichterstatter und Nachrichtenagenturen. Einer der Gefangenen hat es so erlebt:
"Fast das gesamte Lager stand auf dem Kirchplatz und es erscholl aus der Orgel "Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre". Wohl alle Kameraden waren derart geführt, dass ihnen allen die Tränen in den Augen standen.
Der Erbauer Werner Renkewitz
Nach der Aufhebung des Lagers blieb Orgelbaumeister Werner Renkewitz zunächst in Rimini, um das Instrument zu schützen. In seiner provisorischen Werkstatt neben der Kirche Sant’Agostino erzählte er dem Reporter des Südwestfunks dessen weitere Geschichte.
"Als das Lager Rimini aufgelöst wurde, haben wir die Orgel dort abgebrochen und sie in aller Eile und in aller Heimlichkeit hier nach Sant’Agostino überführt und die hier versteckt. Denn es gestand die Gefahr, dass die Orgel entweder über den Ozean oder über den Ärmelkanal entführt werden sollte."
Am Ende schenkte Werner Renkewitz die Orgel dem Bischof von Rimini. Der ließ sie aber - wohl aus Platzgründen - nicht im Dom aufstellen. Sie verblieb in Sant’Agostino. Werner Renkewitz ging 1952 zurück nach Deutschland und eröffnete in Nehren, zwischen Tübingen und Sigmaringen, eine Orgelbauwerkstatt. Dort fertigte er zahlreiche Instrumente im Stil des Neobarock, vorwiegend für Kirchen im südwestdeutschen Raum. Außerdem war er etliche Jahre Vorsitzender des "Bundesverbandes der Motorradfahrer". Unter dem Pseudonym "Daniel Brustwerckle" veröffentlichte er ein heiteres autobiographisches Buch, das sich in Fachkreisen bis heute großer Beliebtheit erfreut. Seine Kriegsgefangen-Orgel wollte er selbstverständlich nach Deutschland holen, doch das scheiterte an den hohen Kosten.
Rekonstruktion der Orgel?
Die Orgel blieb also in Rimini, erzählt Michael Grüber:
"1963 hat es in dieser Kirche gebrannt - und die Orgel ist mit verbrannt. Aber es haben sich viele Teile doch erhalten, die ich im Keller dieser Kirche gefunden hab. Da liegt dann noch ein alter Blasebalg, und diese zusammengelöteten alten Pfeifen kann man wunderbar in diesem Keller noch sehen, und da liegen sie noch heute."
Orgelbaumeister Werner Renkewitz dürfte die Zerstörung seines wichtigsten Werkes schwer getroffen haben. Er verstarb 1978. Michael Grüber engagiert sich seit gut zehn Jahren privat und mit seiner Agentur für den Wiederaufbau des Instruments, der in jedem Fall möglich wäre.
"Ich habe genau die Maße der Orgel, ich hab die genaue Disposition, und ich hab viele Fotografien von dieser Orgel. Und es wäre kein großes Problem, diese Orgel wieder herzustellen."
So sammelt Michael Grüber Spenden, u.a. mittels einer Internetseite. Seine Vision: in drei Jahren soll die Kriegsgefangenen-Orgel wieder erklingen.
"Die wird hier in Deutschland gebaut werden. Und ich stelle mir vor, dass sie dem Bischof von Rimini geschenkt wird, wie das seinerzeit Werner Renkewitz auch machen wollte. Und dass es dann eben eine große Orgel im Dom zu Rimini geben wird, im Jahr 2020."
Bleibt abzuwarten, ob aus dieser Vision Wirklichkeit werden kann. Auf jeden Fall wäre die wiedergewonnene Orgel ein interessantes Dokument für die Epoche der 1940er Jahre im deutschen Orgelbau. Und ob ihrer Entstehungsgeschichte ebenso ein eindrückliches Mahnmal gegen Krieg und Gewalt. Das hatte Werner Renkewitz bereits damals schon beabsichtigt. Über dem Spieltisch brachte er nämlich dafür einen Spruch an.
"Wer es auch sei, dereinst - wir sind dann weit - die Hand wird auf die Tasten senken, mög fromm erschauernd einer dunklen Zeit und der Gefangenen gedenken."