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Die Lärche ist ein Baum des Konzentrationslagers

Der Autor schreibt in seinem zu Zyklen komponierten Werk über seine Erlebnisse im sowjetischen Straflager Kolyma. Sechzehn Jahre verbrachte Schalamow dort und überlebte wie durch ein Wunder. "Die Auferweckung der Lärche" steht als Gleichnis für die Hoffnung.

Von Brigitte van Kann |
    Sechzehn Jahre seines Lebens verbrachte der Schriftsteller Warlam Schalamow in sowjetischen Straflagern - von 1929 bis 1931 und von 1937 bis 1951. Es waren vor allem die Erfahrungen der zweiten, vierzehnjährigen Zwangsarbeit in den Lagern Nordost-Sibiriens, die den Autor nicht mehr losließen und die er in seinen "Erzählungen aus Kolyma" literarisch verewigte.

    Das Gebiet Kolyma, benannt nach dem Fluss Kolyma, liegt am Kältepol der Erde - eine lebensfeindliche Region mit bis zu 60 Grad Frost in den langen Wintern. Kurze, extrem heiße Sommer verwandeln den Dauerfrostboden an der Oberfläche in Schlamm. Hier legte das Sowjetregime ein ganzes Netz von Straflagern an, um Gold und Uran zu fördern - der stalinistische Terror sorgte für den Nachschub an immer neuen kostengünstigen Arbeitskräften. Viele der zwei Millionen Sowjetbürger, die den Gulag nicht überlebten, liegen an der Kolyma begraben.

    Zwei Wochen in diesem unerbittlichen Klima, im Lagerbergwerk, beim Schürfen von Gold, der Hunger, die permanenten Misshandlungen reichten aus, schreibt Schalamow, um einen gesunden, athletischen Mann in ein Wrack, einen Todeskandidaten zu verwandeln. Für diesen Zustand bildete der Gulag seinen eigenen Terminus aus: Dochodjaga - einer, der fertig, der am Ende ist. Zu dieser Kategorie zählte Schalamow selbst etliche Male, wie durch ein Wunder überlebte er. Gerettet hat ihn schließlich nach acht Jahren Schwerstarbeit ein Arzthelferkurs, der ihm eine vergleichsweise leichte Tätigkeit im Häftlingskrankenhaus sicherte.

    Warlam Schalamow kehrte 1956 nach Moskau zurück - die Erinnerung an die Schrecken der Lager erlaubte ihm nicht, sich in ein "normales" Leben einzufügen. Ein Schicksal, das der Autor mit vielen Leidensgenossen teilte. Zwischen 1931 und 1953 machte jeder sechste erwachsene Sowjetbürger die Erfahrung von Gefängnis- und Lagerhaft - ein kollektives Trauma, dessen Nachwirkungen bis heute spürbar sind.

    In seiner Poetik einer Literatur über die Lager schrieb Schalamow: "Der Autor der "Erzählungen aus Kolyma" hält das Lager für eine Negativerfahrung für den Menschen - von der ersten bis zur letzten Stunde. Der Mensch soll es nicht kennen, soll nicht einmal davon hören." Er selbst tat paradoxerweise zwanzig Jahre lang nichts anderes, als den Menschen vom Lager zu berichten. Bis Anfang der 70er-Jahre arbeitete er an den 2000 Seiten seiner "Erzählungen aus Kolyma", die er zu streng komponierten Zyklen zusammenstellte.

    Der vierte und letzte Band der deutschen Ausgabe beherbergt die beiden Zyklen "Die Auferweckung der Lärche" und "Der Handschuh". Die gleichnamigen Erzählungen bilden die Mittelachse des Bands - wobei man bei beiden nicht von Erzählungen im eigentlichen Sinne sprechen kann: "Die Auferweckung der Lärche" ist ein Essay über die Natur im hohen Norden und ein Gleichnis für die Hoffnung:

    Die Lärche ist ein sehr seriöser Baum. Sie - und nicht der Apfelbaum, nicht die Birke! - ist der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, der Baum, der im Paradiesgarten steht bis zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies.
    Die Lärche ist der Baum der Kolyma, der Baum der Konzentrationslager.
    An der Kolyma singen die Vögel nicht. Die Blüten an der Kolyma sind bunt, eilig, grob - sie duften nicht. ... Es duften weder das rosa, grob geformte Maiglöckchen, noch die riesigen faustgroßen Veilchen, noch der abgezehrte Wacholder, noch das immergrüne Krummholz.
    Und nur die Lärche erfüllt die Wälder mit ihrem unbestimmten Terpentingeruch. Anfangs scheint es, als wäre es der Geruch der Verwesung, Leichengeruch. Doch dann schaust du näher hin, atmest diesen Duft tiefer ein und begreifst, dass es der Duft des Lebens ist, der Duft der Auflehnung gegen den Norden, der Duft des Sieges.


    Ein Lärchenzweig von der Kolyma, den der gefangene Dichter nach Hause schickt, beginnt in einem Konservenglas mit gechlortem Moskauer Wasser zu leben, auferweckt durch die Hand einer liebenden Frau, durch ihre Kraft und Zuversicht.

    In der Erzählung "Der Handschuh" kehrt der Autor wieder an die Kolyma zurück, in ein Lagerkrankenhaus, wo sich ihm, dem Todgeweihten, die Haut von Händen und Füßen löst, sodass man sie ihm wie einen Handschuh oder einen Füßling abstreifen kann.

    Irgendwo im Eis liegen meine Ritterhandschuhe, die meine Finger ganze sechsunddreißig Jahre umschlossen haben, ... Diese Handschuhe leben im Museumseis - ein Zeugnis, ein Dokument, ein Exponat des fantastischen Realismus meiner damaligen Wirklichkeit, ...
    Ich vertraue der protokollierenden Aufzeichnung, bin selbst von Beruf Faktograf, Faktologe, aber was tun, wenn es diese Aufzeichnungen nicht mehr gibt. Es gibt keine Akten, keine Archive, keine Krankengeschichten...
    Die Dokumente unserer Vergangenheit sind vernichtet, die Wachtürme abgesägt, die Baracken dem Erdboden gleichgemacht, der rostige Stacheldraht aufgewickelt und an einen anderen Ort gebracht. Auf den Ruinen ... blüht das Waldheidenröschen - die Feuerblume, Blume des Vergessens, der Feind der Archive und des menschlichen Gedächtnisses.
    Hat es uns gegeben?
    Ich antworte: "ja" - mit der ganzen Beredsamkeit des Protokolls, mit der Haftung und Strenge des Dokuments. ...
    War das Feuer meiner neuen Haut, die rosa Flamme am zehnarmigen Leuchter meiner erfrorenen Hände etwa kein Wunder?
    Wird nicht in jenem Handschuh ... die Geschichte nicht bloß meines Körpers, meines Schicksals, meiner Seele geschrieben, sondern die Geschichte, eines Staates, einer Zeit, einer Welt?


    Warlam Schalamow erspart dem Leser nichts, keine medizinische Einzelheit seines Zustands, nicht einmal die peinlich genaue Protokollierung seiner Ausscheidungen. Wie er überhaupt in diesen beiden den Abschluss der "Erzählungen aus Kolyma" bildenden Texten zusehends zum "Faktografen" wird, der die Dichte der hochkomprimierten Erzählungen früherer Zyklen aufgibt, um der Lagerwelt und dem menschlichen Leiden mit der Genauigkeit und Ausführlichkeit eines Enzyklopäden gerecht zu werden.

    Ganze 15 Seiten widmet er zum Beispiel den Schubkarren, die an der Kolyma verwendet wurden und dem, was ihr unterschiedliches Gewicht, Fassungsvermögen und Material für den geschundenen Häftling bedeuteten, wie man sie am besten anhob und wie man damit auf hohe Stege fuhr, wie man ihren Inhalt auskippte und wie man die Arme bei der Leerfahrt zurück entlasten konnte.

    Dem enzyklopädischen Charakter dieser beiden letzten Zyklen der "Erzählungen aus Kolyma" entsprechen 70 Seiten Kommentar und Glossar, mit denen die Herausgeberin Franziska Thun-Hohenstein auch Uneingeweihten das Verstehen erleichtert.
    "Hat es uns gegeben?" fragt der Schriftsteller angesichts der mangelnden Beweislage - sein Werk ist Vergewisserung und Zeugnis zugleich. Die Sowjetmacht, vermessen wie alle totalitären Systeme, versah viele ihrer Akten mit dem Stempel "Chranit večno" / In Ewigkeit aufbewahren. Die Sowjetmacht gibt es nun schon 20 Jahre nicht mehr, aber ihre Menschenverachtung und Grausamkeit ist in Warlam Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" tatsächlich "in Ewigkeit" aufbewahrt.

    Warlam Schalamow, Die Auferweckung der Lärche. Erzählungen aus Kolyma, Band 4,
    Aus dem Russischen von Gabriele Leupold. Herausgegeben, mit einem Glossar, Anmerkungen sowie mit einem Nachwort versehen von Franziska Thun-Hohenstein. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011, 665 Seiten.