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Die Lange Nacht mit Dieter Hildebrandt und Volker Kühn
Gefährlich, aber gut

Mit "Notizen aus der Provinz" hoben der Kabarettist Dieter Hildebrandt und Autor Volker Kühn 1973 die subversivste Sendung aus der Taufe, die das deutsche Fernsehen bis dahin kannte. Die Lange Nacht erinnert an zwei legendäre Protagonisten des deutschen Kabaretts.

Von Oliver Kranz |
    Die Kaberettisten Dieter Hildebrandt und Volker Kühn
    Der Kabarett-Autor Volker Kühn (1933 - 2015) und Dieter Hildebrandt (1927 - 2013) (dpa/picture alliance/Fredrik von Erichsen/Andreas Weihs)
    Satire kam im Gewand eines politischen Magazins auf den Bildschirm. Dieter Hildebrandt (1927 - 2013) sagte wie ein Nachrichtensprecher Beiträge an, in denen Politiker parodiert und gesellschaftliche Reizthemen kabarettistisch kommentiert wurden.
    Die Grenzen zwischen Satire und Realität waren oft nicht auszumachen. So gelangen viele höchst wirkungsvolle Provokationen.
    Volker Kühn (1933 - 2015) hat das Konzept der Sendung entwickelt und gehörte zu den besten Kennern der deutschen Kabarettszene. Mit Dieter Hildebrandt lässt er anhand markanter Beispiele Szenen deutscher Fernsehsatire Revue passieren.
    Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendefassung hier: Manuskript als PDF / Manuskript als TXT. Die Webbegleitung zu dieser Sendung ergänzt und fokussiert das Thema der Sendung, bietet einen eigenen Zugangsweg zu dem Thema.

    Auszüge aus den Biografien von Dieter Hildebrandt und Volker Kühn
    Trailer zu "Die lange Dieter-Hildebrandt-Nacht" auf Youtube:
    Volker Kühn: "Wir wollten eine andere Republik. Wir wollten alles verändern, uns auch ein bisschen, aber doch mehr die anderen."
    Dieter Hildebrandt: "Es wird in Zukunft in unserer Republik keine Polizei mehr geben, weil bei uns dann keiner mehr kriminell sein muss. Es wird keiner mehr stehlen müssen. Es wird keiner mehr einen anderen betrügen müssen. In unserer Republik ist das nicht nötig, also brauchen wir keine Polizei."
    Beim Reichskabarett in Berlin hat Volker Kühn Texte geschrieben und Regie geführt. Das Programm, das 1968 in aller Munde war, hieß "Der Guerilla lässt grüßen".
    Szene aus Reichskabarett "Der Guerilla lässt grüßen"
    - Was haben Sie eigentlich gegen die Springer-Presse? Sie halten doch auch das Massenschlachten in Vietnam für eine tragische Verstrickung und eine eingeschlagene Fensterscheibe für brutalen Terror. Seien Sie lieber froh, wenn es jemand versteht, Ihren Zynismus einem ganzen Volk unterzujubeln.
    - Was haben Sie eigentlich gegen die Diktatur in Griechenland? Seien Sie lieber froh, dass die Obristen Ihnen die Chance geben, immer noch schön liberal zu erscheinen.
    - Was haben Sie eigentlich gegen die Notstandsgesetze? Hätten wir die eher gehabt, hätte es in Hamburg nie eine Flutkatastrophe gegeben.
    - Was haben Sie eigentlich gegen die NPD? Sie gibt Ihnen immerhin die Möglichkeit, auch mal zu jemand: "selber Faschist" zu sagen.
    - Was haben Sie eigentlich gegen den Krieg um Biafra. Seien Sie doch froh, wie vorbildlich und zukunftsweisend hier Sowjets und Briten zusammen arbeiten, wenn es um die Vernichtung lebensunwerten Menschenmaterials geht.
    - Was haben Sie eigentlich gegen den Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei?
    - Hatten Sie vielleicht was gegen den Einmarsch der Amerikaner in Vietnam?
    - Seien Sie lieber froh, dass der Albtraum eines attraktiven Sozialismus im Eimer ist und Ihr Steinzeitweltbild vom Kommunismus endlich wieder hinhaut.
    - Entweder ihr wacht endlich auf und knüppelt, was das Zeug hält oder ihr erwacht eines Tages in einer sozialistischen Welt und dürft in eurer eigenen Fabrik den Angestellten spielen.
    - Also dann vorwärts mit der Berliner Parole: Lieber tot als rot! Genauer: Lieber Tote, als Rote.
    - Los, legen Sie die Karten auf den Tisch. Haben Sie doch keine Angst. Die überwältigende Mehrheit ist auf Ihrer Seite.
    - Sie haben leuchtende Vorbilder, aufrechte Persönlichkeiten, die sich die Hände schmutzig machen. Für Sie, für Sie und für Sie. Und ganz besonders für Sie.
    Fernsehen & Was darf Satire
    Die Mitglieder des Münchner Kabaretts "Lach- und Schießgesellschaft" (l-r) Dieter Hildebrandt, Ursula Noack und Jürgen Scheller als Reporter dreier Zeitungen in einer Szene des neuen Programms namens "Halt die Presse!" (Archivbild vom 03.03.1963). 
    Mitglieder der "Lach- und Schießgesellschaft" (dpa)
    Volker Kühn: "Alles, was das Fernsehen ausstrahlt, wird vom Publikum eins zu eins als Realität genommen. Es ist die Realität an sich."
    Hildebrandt: "Also ein Filmbeitrag, der bewiesen hat, dass es die Bestrebung gibt, Äpfel viereckig zu machen, weil sie so besser zu verschicken sind. Es gab eine Riesenaufregung, weil die haben das sofort geglaubt, die Leute."
    Ansage zum Film "Hochkant":
    "Und nun liebe Zuschauer zu unserer Sendung Hochkant, einer Premiere besonderer Art im deutschen Fernsehen. Das Fernsehspiel Hochkant von Volker Kühn und Wolfgang Braune wurde vom hessischen Rundfunk in einer neuen, bisher nicht genutzten Technik produziert und zwar, wie der Titel bereits vermuten lässt im Hochformat. Dazu begrüßen wir auch die Zuschauer in Österreich sehr herzlich. Um die nachfolgende Sendung optimal genießen zu können müssen Sie Ihren Fernseher oder, falls vorhanden, ihr tragbares Zweitgerät, hochkant stellen. Und zwar von ihnen ausgesehen nach rechts gekippt im Uhrzeigersinn."
    Volker Kühn: "Eine Stunde lief das dann quer. Am nächsten Morgen in der Bild-Zeitung: eine Unverschämtheit! Ein Rentner wäre aus Verzweiflung über die mangelnde Qualität des deutschen Fernsehens aus dem dritten Stock gesprungen."
    Hildebrandt : "Nach jeder Sendung gab es im Landtag in Rheinland-Pfalz, wozu das ja gehört (das ZDF): eine Debatte: Was darf die Satire? Und der spätere Minister war der Vorsitzende des ZDF-Komitees, der hat jedes Mal Einspruch erhoben. In diesen sechs Jahren war viel Dampf unterwegs. Viel, viel."
    Als der "Scheibenwischer" 1980 beim SFB auf Sendung ging, da war sie nicht mehr Politmagazin, sondern eine live abgefilmte Kabarettproduktion:
    Dieter Hildebrandt: "Ich hätte das nicht gemacht, wenn das nicht live gewesen wäre, weil die Erfahrung war eben die mit "Notizen aus der Provinz", wenn das geschnitten wird, ist es immer möglich, dass man uns das Wort im Mund umdreht. Dann hat der damalige Intendant vom SFB, Wolfgang Haus, ein sehr anständiger Mann, ein Sozialdemokrat, ein richtiger Sozialdemokrat, so wie ich ihn mir vorgestellt habe 1948, der hat dann den Vertrag mit uns abgeschlossen, mit Sammy. Sammy hat einen guten Vertrag gemacht. Und wir hatten viel Freiheit und es passierte etwas in der ersten Sendung, nämlich ein Angriff von Gerhard Polt. Der sagte: Er sehe den Intendanten Stolte als einen Mann mit viel Humor. Er hätte mal rein gekuckt in die Sendung "Mainz, wie es singt und lacht", und da hätte er gesehen, wie Herr Stolte vor Lachen in das Tischtuch gebissen hätte."
    Trailer zur DVD "Polt&Hildebrandt" auf Youtube:
    Scheibenwischer vom 12.6.1980 - Gerhard Polt: "Der Programmdirektor von einer ganz großen deutschen Fernsehanstalt, ich komme jetzt nicht auf den Namen. Es ist eine ganz große geschlossene Anstalt, der hat gesagt: "Satire", sagt er, "soll die Wirklichkeit nicht überzogen widerspiegeln." Also auf Deutsch gesagt, Satire soll etwas Normales sein und nicht etwas überzogenes. Ob er da nicht ein bisschen überzieht, der Programmdirektor? Aber man sagt, er soll ein ganz normaler Mensch sein, mit einem ausgesprochen gesunden Menschenverstand. Ich glaube, ich hab ihn einmal gesehen in einer satirischen Sendung "Karneval in Mainz oder Köln"- eine sehr gute Sendung. Die müssen sie sich einmal anschauen. Und das war ein Alaf- Satiriker und der hat gesagt, ganz witzig, "der Willi Frahm, der soll nach Sibirien gehen, wo er hingehört." Der Programmdirektor, der hat sich zerwurzelt vor Vergnügen. Grad', dass er nicht in die Tischdecke hineingebissen hat, weil er was von Satire versteht."
    Dieter Hildebrandt: "Daraufhin kam eine Meldung zurück sofort vom Justiziar des ZDF: Herr Stolte hätte, das wird hiermit belegt, nicht in das Tischtuch gebissen. Daraufhin war der Kontakt zu Ende. Das war sehr schön. Und da hat der Wolfgang Haus nach der Sendung bei mir angerufen, hat sich bedankt für die Sendung, er fand sie sehr gut. Und dann habe ich gesagt: "Herr Haus, wie ist es denn. Sie haben ja jetzt Ärger mit dem ZDF?" Und da hat er gesagt: "Herr Hildebrandt, ich bin Intendant, lassen Sie das meine Sorge sein, ich werde dafür bezahlt. Lassen Sie das meine Sorge sein." - Donnerwetter, es geht auch so."
    Die 90er-Jahre
    Dieter Hildebrandt sitzt an einem Tisch.
    Dieter Hildebrandt (Deutschlandradio / Bettina Straub)
    Hildebrandt: "Ich empfand die 90er-Jahre als hochpolitisch, weil das die Jahre gewesen sind nach der sogenannten Wiedervereinigung. Das war eine politische Zeit, die hochbrisant war, wo man versucht haben muss, mit den Kollegen, die man von früher kannte, das man wieder zusammen arbeitete."
    Kühn: "Ich glaube auch nicht an diesen Satz, den unsere Eltern uns immer aufoktroyiert haben, dass man mit 20 Revolutionär ist, mit 30 und 40 liberal und mit 80 dann stockkonservativ. An mir entdecke ich ganz andere Geschichten - ich werde immer radikaler und unduldsamer, was die Ungerechtigkeiten in der Welt angeht."
    Dann fiel die Mauer und der Systemkonflikt war weg. Und dann kam so etwas auf, was Comedy hieß und wo Leute auf der Bühne standen, die zwar auch irgendwie in ein Mikrofon sprachen, aber die haben mehr über sich und ihre Großmutter und über die Männerklischees und über die Frauenklischees geredet – und alle fanden das toll. Comedy war auf einmal das Neue. Kabarett war das Alte. Wenn man allein das Wort Kabarett sagte, dann gehörte man zu den Alten, Verstaubten. Wie haben Sie das erlebt?
    Dieter Hildebrandt: "Ich habe das nicht zur Kenntnis genommen. Es ist auch unsinnig. Die Trennung hat es nie gegeben. Wir haben immer beides gemacht. Wir haben unseren Spaß gehabt mit völlig unpolitischen Themen auch. Wir haben uns gegenseitig Fallen gestellt und sind rein gefallen. Das ist doch alles Comedy. Comedy ist etwas sehr Schönes. Begabte Comedians, das ist für mich das Schönste was es gibt. Wir haben ja genug Gute. Ich habe diese Trennung nie gesehen. Das ist ein Journalisteneinfall. Journalisten haben ja den Nachteil, dass sie immer von sich abschreiben. Es gibt doch sehr faule Journalisten, die sagen: "Ich schreibe lieber das, was der andere schon geschrieben hat." Deswegen sind jetzt viele Beurteilungen von Comedy und dem Unterschied zwischen Comedy und Kabarett abgeschrieben aus Kollegenarbeiten vor 20 Jahren. Deswegen kommt mir das jetzt auch schon sehr alt vor."
    Volker Kühn: "Ich muss sagen, bevor wir das differenzieren, dass ich das ganz genauso sehe wie Dieter. Es ist ja auch nichts Neues. Das hat es immer schon gegeben. Man kann Tucholsky nachlesen, der wird einem klar machen, dass auch in den 20er-Jahren 85 Prozent das war, was man heute Comedy nennen würde und 15 Prozent, aber da muss man schon nachhelfen, das war, was wir Kabarett genannt hätten. Damals ging das alles miteinander und es gab halt gutes Kabarett und weniger gutes Kabarett. Tucholsky hat es auf den Nenner gebracht, dass er gesagt hat: Das, was man heute Comedy nennt, hat man damals Radaukomiker oder
    Klamotte genannt. Das gab es lange vor den Comedy-Leuten, diese Butterfahrten, wo man nach Dänemark fuhr, um Spirituosen oder Butter einzukaufen. Da gab es immer einen Conférencier, der witzbegabt sein musste und die Leute dazu bringen musste, einmal auf dem Schiff ein paar Häppchen zu sich zu nehmen und vor allen Dingen anschließend ein paar Rheumadecken zu kaufen – Sachen, die man normalerweise nicht braucht. Und das gab es immer. Das wird es auch immer geben. Was vielleicht neu ist, und insofern denke ich schon da ist was dran, was Dieter gesagt hat, dass das mehr oder weniger ein Einfall von Journalisten ist, die solche Rubriken wünschen und brauchen. Ich bin natürlich schon irritiert, dass es hier in Berlin auch Lokalitäten gibt, wo nur unpolitisches Kabarett gemacht wird, Kabarett ohne – aus meiner Sicht – großen Anspruch. Da gehe ich nicht hin und es regt mich nicht sonderlich auf. Aber dass es das immer nebenbei geben wird, ist mir klar. Ich finde nur, wenn ich jetzt schon darauf angesprochen werde, es schon ein bisschen bedenklich, welche Rolle das Fernsehen da auch gespielt hat."
    Wiederholung von 2013
    Produktion dieser Langen Nacht:
    Autor: Oliver Kranz, Regie: Rita Höhne, Redaktion: Monika Künzel, Webproduktion: Jörg Stroisch
    Über Oliver Kranz:
    Oliver Kranz, geboren 1967 in Berlin, studierte in Leipzig, Berlin und London Theaterwissenschaften, Anglistik und Kulturmanagement. Seit 1997 arbeitete er für verschiedene Medien als freier Autor und Journalist, unter anderem für die Berliner Morgenpost und den Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur.