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Die Lange Nacht über Gottfried Wilhelm Leibniz
"Die Wahrheit ist weiter verbreitet, als man glaubt..."

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716) war ein Freigeist, ein Denker, aber auch ein gesuchter Gesprächspartner. Mit mehr als 1.300 Personen stand Leibniz in internationalem Briefkontakt; mehr als 20.000 Briefe sind überliefert. Welche Spuren seines Wirkens sind in der Gegenwart zu finden?

Von Hilde Weeg und Alexander Budde |
    Norddeutschlands größter Computer HLRN-III steht in der Leibniz Universität in Hannover Niedersachsen.
    Norddeutschlands größter Computer HLRN-III steht in der Leibniz Universität in Hannover Niedersachsen. Der Rechner namens "Gottfried" ist nach dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz benannt. (picture alliance / dpa / Holger Hollemann)
    Leibniz wollte ergründen, welche Gesetze der Welt zugrunde liegen - ob im menschlichen Miteinander oder in Natur und Technik. Geboren als Sohn eines Professors las er schon als Achtjähriger griechische und lateinische Texte und absolvierte parallel zur Schulzeit ein Studium.
    Die These von der besten aller möglichen Welten, die erste Rechenmaschine, aber auch die Infinitesimalrechnung gehen auf ihn als Universalgelehrten zurück.
    Die Lange Nacht geht der Frage nach, welche Spuren von Leibniz' Leben und Werk in der Gegenwart zu finden sind und ob es stimmt, was Denis Diderot 1765 von Leibniz behauptet hat: "Dieser Mann hat allein Deutschland so viel Ruhm gebracht, wie Platon, Aristoteles und Archimedes zusammen Griechenland."

    Das Manuskript der Sendung in Auszügen:
    Er hat mit dem binären Zahlensystem die Voraussetzung für die Entwicklung von Computern geschaffen. Er entwickelte die erste Rechenmaschine für die vier Grundrechenarten und das Infinitesimalkalkül. Schrieb eine Reform für die Rechtslehre. Vermittelte im Streit zwischen Protestanten und Katholiken. Beriet Zaren, Könige und Fürsten von Bündnispolitik bis Steuerwesen. Sorgte sich um Bildung der Allgemeinheit, Rentenversicherung, Brandschutz. Führte Geistes- und Naturwissenschaften in einer Akademie zusammen, konstruierte Windmühlen oder Kutschfederungen, erforschte Sprach- und Erdgeschichte: Gottfried Wilhelm Leibniz.
    Eine Statue von Gottfried Wilhelm Leibniz auf dem Innenhof des Campus der Universität Leipzig
    Eine Statue von Gottfried Wilhelm Leibniz auf dem Innenhof des Campus der Universität Leipzig (picture alliance / dpa / Peter Endig)
    Heute ist der nach ihm benannte Keks bekannter als der Gelehrte. Dabei hat das, was er geleistet hat, großen Einfluss auf unseren Alltag, 300 Jahre nach seinem Tod am 14. November 1716.
    Umfassend, sogar universal waren die Interessen dieses Mannes, der bis in seine letzten Lebenstage hinein unermüdlich mit der Erforschung unserer Welt beschäftigt war. Er wollte ergründen, welche Gesetze dem zugrunde lagen, was ihm begegnete - ob in Staat und Gesellschaft, Natur und Technik oder im Verhältnis des Menschen zu Gott. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, das, was man als Mensch verstehen und wissen kann, zum Wohle aller anderen Menschen zu erschließen. Als Leitsterne dienten ihm dabei der Glaube an die göttliche Vernunft und die feste Überzeugung, dass in jeder Theorie ein Körnchen Wahrheit liege. Ob Philosophie, Jura, Geschichte, Technik oder Mathematik – auf allen Gebieten entwickelte dieser Freigeist Ideen und diskutierte sie mit den Koryphäen seiner Zeit. Viele seiner Ideen inspirierten sein Umfeld, andere wurden verworfen. Leibniz korrespondierte mit mehr als 1300 Zeitgenossen, darunter Jesuiten-Missionare in China, Regenten und Regentinnen, Wissenschaftler bis hin zu Isaac Newton. Seine Ideen und Erkenntnisse sind im Laufe seines 70 jährigen Lebens zu einem eigenen Wissenskosmos angewachsen. Er schreibt:
    Zitat Leibniz:
    "Mir kommen manchmal morgens während einer Stunde im Bett so viele Gedanken, dass ich den ganzen Vormittag brauche und mitunter sogar den ganzen Tag und länger, um sie genau aufzuschreiben."
    Ein Wunder, dass so viele sinnvolle Gedanken zu so unterschiedlichen Gebieten in ein einziges menschliches Hirn passten. Und von dort auf verständliche Weise in die Welt gelangten, ohne dass der Mensch, der zu diesem Hirn gehörte, für verrückt erklärt wurde. Denn Leibniz konnte nicht nur denken, er konnte darüber mit anderen reden - viel besser noch: schreiben.
    Unmöglich, all seine Ideen, Erfindungen und Impulse in einer Sendung zu präsentieren. Es bleibt eine Auswahl, die hoffentlich die Dimensionen seines Werkes nachvollziehbar macht.
    Das Leibnizhaus mit Brunnen am Holzmarkt in Hannover.
    Das Leibnizhaus mit Brunnen am Holzmarkt in Hannover. (imago/Jürgen Ritter)
    Das Leibnizhaus stand ursprünglich in der Schmiedestraße (Altstadt) und diente von 1698 bis 1719 als Hofbibliothek und Wohnhhaus von Leibniz. Im 2. Weltkrieg wurde es durch Bomben zerstört. Die Fassade wurde 1983 am Holzmarkt rekonstruiert. Das Gebäude dient heute unter anderem als Gästehaus der Leibniz-Universität.
    Stationen
    1646 (21.6.) 1.7. geboren in Leipzig als Sohn des Professors für Moral Friedrich Leibniz und seiner Frau Catharina, geb. Schmuck
    1661-66 Studium in Leipzig und Jena
    1666 Promotion zum Doktor beider Rechte an der Universität Altdorf
    1667-72 Leibniz arbeitet als Jurist in Frankfurt und Mainz für Johann Christian von Boineburg und später für den Kurfürsten von Mainz, Johann Philipp von Schönborn
    1672-76 Aufenthalt in Paris im diplomatischen Dienst, parallel dazu wissenschaftliche Arbeiten in der Mathematik (Bau der ersten Rechenmaschine), Philosophie und Theologie, Kontakte zur Royal Society und der Académie des Sciences
    1676 Ruf als herzoglicher Hofrat und Bibliothekar nach Hannover an den Hof von Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg
    1687-90 Recherche-Reise zur Erforschung der Ursprünge des Welfenhauses nach Italien
    1691 Ernennung zum Leiter der Wolfenbütteler Bibliothek
    1696 Ernennung zum braunschweig-lüneburgischen Geheimen Justizrat
    1700 Aufnahme an der Académie des Sciences in Paris; Gründung der Sozietät der Wissenschaften in Berlin und Ernennung zum brandenburgischen Geheimen Justizrat
    1711/12 Begegnungen mit Zar Peter I., Ernennung zum russischen Geheimen Justizrat
    1712-14 Aufenthalt in Wien, Treffen mit Prinz Eugen, Ernennung zum Reichshofrat
    1716 14. November: Leibniz stirbt in Hannover. Der Nachlass wird versiegelt.

    Leibniz privat: Der Unbekannte
    Über Leibniz' Familie und seine frühen Jahre ist nur wenig bekannt. Der Leibnizforscher und Mathematikhistoriker Herbert Breger hat akribisch zusammen getragen und ausgewertet, was über die Person von Leibniz, seine Gewohnheiten oder Charakterzüge überliefert ist. Sein Fazit ist nüchtern:
    "Fast alles das, was heute an berühmten Personen interessiert - jedenfalls wenn wir die Herangehensweise der Medien für maßgeblich halten - wissen wir über Leibniz nicht. Mehr noch: Leibniz würde unser Interesse an seiner Person vermutlich gar nicht verstehen. Er würde uns vermutlich eher auffordern, seine Philosophie zu lesen und gegebenenfalls zu verbessern, seine Mathematik zu verwenden und gegebenenfalls zu verbessern, seine kirchenpolitischen Überlegungen umzusetzen und so weiter".
    Die meisten der vorhandenen Beschreibungen zur Person stammen von Leibniz selbst oder auch vom Bibliothekar Johann Georg von Eckhart, der rund 20 Jahre lang als Sekretär für Leibniz tätig war und der nach dessen Tod 1716 auch die Verwaltung von Bibliothek und Nachlass in Hannover übernahm. Die bekannteste Beschreibung liefert Leibniz selbst im Jahr 1776, als er mit 30 Jahren schließlich dem Werben von Herzog Johann Friedrich von Hannover nachgibt und in seine Dienste eintritt.
    Zitat Leibniz (Selbstbeschreibung)
    "Er ist hagerer mittelmäßiger Statur, hat ein blasses Gesicht, sehr oft kalte Hände, Füße, die wie die Finger seiner Hände nach Verhältniß der übrigen Theile seines Körpers zu lang und zu dünn sind, und keine Anlage zum Schweiß. Er hat bräunliches Haar auf dem Haupte, am Leibe ist er nur sparsam damit versehen. Er hat schwache Lungen, eine trockene und hitzige Leber und Hände, die mit unzähligen Linien durchkreuzt sind. Er liebt das Süße z.B. den Zucker, womit der auch den Wein zu vermischen pflegt. (...) Sein nächtlicher Schlaf ist ununterbrochen, weil er spät zu Bette geht und das Nachtsitzen dem Arbeiten am frühen Morgen bei weitem vorzieht. Schon seit seinem Knaben-Alter führte er eine sitzende Lebensart und machte sich wenig Bewegung (...). Sein Hang zur Gesellschaft ist schwächer als derjenige, welcher ihn zum einsamen Nachdenken und zur Lectüre treibt. Befindet er sich aber in einer Gesellschaft, so weiß er sie ziemlich angenehm zu unterhalten, findet aber seine Rechnung mehr bei scherzhaften und heiteren Gesprächen als bei Spiel oder Zeitvertreiben, welche mit körperlicher Bewegung verbunden sind. Er geräth zwar leicht in Hitze, sein Zorn ist aufbrausend, geht aber schnell vorüber. Man wird ihn nie weder ausschweifend fröhlich, noch traurig sehen. Schmerz und Freude empfindet er nur mäßig. Das Lachen verändert häufiger seine Miene, als es seine innern Theile erschüttern."
    Bilder von Gottfried Wilhelm Leibniz in der von der Leibniz-Bibliothek in Hannover. 
    Bilder von Gottfried Wilhelm Leibniz in der von der Leibniz-Bibliothek in Hannover. (GWLB/Jutta Wollenberg)
    Die Porträts und Kupferstiche aus späteren Lebensphasen zeigen ihn als wohlhabenden Mann, ausgewiesen durch reich bestickte Kleidung und lange Perücken. Mit schmalem Gesicht und klugen, wach blitzenden Augen. Sein Auftreten muss durchaus selbstbewusst gewesen sein. Was ihn antreibt, das erklärt er 1673 gegenüber potentiellen Arbeitgebern. Es ginge ihm nicht darum, "so viel Geld wie möglich anzuhäufen (...) sondern meinen Geist zufriedenzustellen, indem ich etwas Greifbares und Nützliches für das allgemeine Wohl leiste. Ich gestehe auch, dass ich einen Fehler habe, der in der Welt als schwerwiegend gilt: nämlich häufig gegen das Zeremoniell zu verstoßen und bei der ersten Begegnung keinen allzu guten Eindruck zu machen. Wenn man auf diese Dinge großes Gewicht legt... und wenn es gilt zu trinken, um zu gelten, so wissen Sie selbst, daß ich dann fehl am Platze bin."
    Leibniz blieb ledig. Es gab keine Ehefrau, es gibt keine Nachweise über Affären oder Geliebte; ein Gerücht von einem unehelichen Kind bleibt unbestätigt. Ein Denker im Elfenbeinturm war er deshalb auch nicht. Ein Nachtarbeiter war er, der wohl mit nur vier Stunden Schlaf auskam. Aber kein einsamer Eigenbrötler, wie es wohl sein englischer Konkurrent Isaac Newton gewesen ist. Leibniz konnte seine Zuhörer begeistern, besaß Humor und Esprit, konnte sich in Sprache und Wortwahl seinem Gegenüber anpassen. Sein langjähriger Sekretär Eckhart schreibt: "Er war bey dem Frauenzimmer sehr beliebt."
    Das war er vor allem auch bei zwei seiner langjährigen Vertrauten: der späteren Kurfürstin Sophie und ihrer Tochter Sophie Charlotte. Beide werden ihm in seinen Jahren am Welfenhof in Hannover zu wichtigen Gesprächspartnerinnen und einflussreichen Fürsprecherinnen. Sophie Charlotte unterstützt als Königin von Preußen die Gründung der ersten Akademie.
    Der umfangreiche Briefwechsel zeugt vom breiten Spektrum der Themen, welche die Herrscherinnen mit dem Universalgelehrten diskutierten. Es ging im Philosophie ebenso wie um Politik oder Naturwissenschaften. Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Kurfürstin Sophie und ihrem Hofrat wird im Herbst 2016 erstmals auf Deutsch nachzulesen sein; die Publikation des Briefwechsels mit Sophie-Charlotte wird vorbereitet.
    Die Gesprächspartner der Sendung:
    Prof. Wenchao Li über Leibniz:
    "Er denkt beim Schreiben oder anders gesagt: Er kann wahrscheinlich nur denken, wenn er schreibt. Dieser Mensch – er war Jurist, er war Mathematiker, er war ein wunderbarer Wissenschaftler. Das ist ein Mensch, der versucht präzise zu denken. In seinem Nachlass findet man eine Unmenge Definitionstafeln – Definition heißt zu bestimmen, was ist. Was ist Gerechtigkeit? Was ist Liebe? Was ist ein Tisch?
    Zur Person: Prof. Wenchao Li, Inhaber der Leibniz-Stiftungsprofessur der Leibniz-Universität Hannover. Der Leibnizforscher und Germanist, Jahrgang 1957, ist in China geboren und aufgewachsen, im "Europa des Ostens", wie Leibniz es nennt. Li begann sein Studium in Xi'an, der Hauptstadt der chinesischen Nordprovinz Shaanxi, die vielen durch die Entdeckung der Terrakotta-Armee bekannt ist. Peking und Heidelberg und schließlich Berlin sind weitere Stationen seiner Laufbahn. Seit 2007 leitet Li die in Potsdam ansässige Arbeitsstelle der Leibniz-Edition, verantwortet dort die historisch-kritische Edition von Leibniz´ Politischen Schriften. Das Projekt wird gemeinsam von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen betreut.
    Dr. Siegmund Probst über die Arbeit am Nachlass von Leibniz
    "Es kann sein, dass wir noch auf interessante Ergebnisse stoßen. Das Interessantere im Normalfall ist aber, dass wir eben seine Gedanken nachvollziehen können, das kann man sonst in der Regel nicht. Wir haben sehr wenige Wissenschaftler, bei denen wir die Entwicklung der Gedanken und der Ergebnisse von Anfang an verfolgen können."
    Dr. Siegmund Probst. Der Mathematiker, Germanist und Wissenschaftshistoriker arbeitet in der Gottfried-Wilhelm-Leibniz Bibliothek in Hannover, wo der Nachlass aufbewahrt wird.
    Die Gottfried Wilhelm Leibnizu Bibliothek.
    Die Gottfried Wilhelm Leibnizu Bibliothek. (GWLB/Jutta Wollenberg)
    Er beschreibt das Vorhaben der Veröffentlichung sämtlicher Briefe und Schriften als eine beglückende Zumutung, als ein gewaltiges intellektuelles Puzzlespiel. Von den insgesamt 100.000 Blatt (gelegentlich als 200.000 Seiten zitiert) gehören rund 16.000 Schriftstücke zum Briefwechsel, der 2007 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe erklärt wurde. Ein Schatz und eine Herausforderung zugleich.
    Website des Leibnizarchivs
    Prof. Hans Poser über Leibniz:
    "Leibniz ist als ein Universalgelehrter eine faszinierende Persönlichkeit. Weil er sehr intensiv versucht hat, die unterschiedlichen Bereiche menschlichen Wissens und Denkens und Handelns zusammen zu bringen und eine Einheit unseres Wissens zu erreichen, soweit das möglich ist. Er ist der Letzte gewesen, der eine Einheit von Theologie, Metaphysik und Wissenschaft gestiftet hat. Ob wir diese Einheit heute noch teilen können, das steht auf einem anderen Blatt."
    Hans Poser, emeritierter Professor für Philosophie an der Technischen Universität Berlin und Mathematiker, beschäftigt sich schon seit 50 Jahren mit Leibniz und wird nicht müde, von ihm zu erzählen.
    Der Nachlass und die Jahrhundertaufgabe Leibniz-Edition
    Der Nachlass des Universalgelehrten wird in der Landesbibliothek Niedersachsens aufbewahrt, die seit 2005 Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek heißt. Damit ist eine Verbindung zu den Ursprüngen hergestellt: Denn die Bestände gehen auf die Hofbibliothek der Welfen zurück, die Leibniz einst selbst als Bibliothekar betreute.
    Wie aber wird das Leibnizsche Universum heute erschlossen? Und warum dauert es so lange, bis alles erfasst und verstanden ist? Die Herausforderungen werden an zwei konkreten Beispielen deutlich, die Dr. Siegmund Probst bearbeitet.
    Das erste Beispiel geht zurück auf einen Briefwechsel von René Descartes mit dem Mathematiker Debeaune aus dem Jahr 1639 zur Berechnung einer krummen Linie. Über Jahrzehnte hinweg war es mit den bis dahin bekannten Ansätzen nicht gelungen, das Problem zu lösen. Siegmund Probst zeigt Notizen dazu von Leibniz aus dem Jahr 1684:
    Siegmund Probst: "Hier geht es um eins der berühmtesten Probleme der damaligen Mathematik, das erste Problem, das öffentlich gestellt wurde zur Lösung, was man später eine Differentialgleichung genannt hat. Und Leibniz war sehr stolz, dass er das mit seinen Methoden in wenigen Stunden lösen konnte – und das schreibt er auch hier."
    Allerdings auf Latein. Das Beispiel zeigt, dass die heutigen Spurenleser von Leibniz nicht nur verstehen müssen, worüber er da schreibt, sondern auch viele weitere Kenntnisse brauchen: Sprachen zum Beispiel.
    Zitat Siegmung Probst: "Nun in Mathematik ist es noch relativ einfach: Wir haben hauptsächlich mit Latein zu tun, das ist der Großteil der Texte, dann Französisch spielt eine gewisse Rolle, es gibt auch ein paar Texte in niederländischer Sprache; zur späteren Zeit von Leibniz auch deutsche Texte, während der Italienreise auch italienische Texte, ein paar englische Texte kommen durch einen Briefwechsel mit englischen Kollegen da auch zustanden.[Achtung Ton auf erster Silbe] Schwieriger ist es für die Kollegen bei den anderen Reihen, die haben auch mit Griechisch, Hebräisch, Russisch oder Altrussisch oder mit asiatischen Sprachen zu tun."
    Aber auch umfassende Sprachen- und Mathe-Kenntnisse oder Kenntnisse von Leibnizens Ideen- und Gedankenwelt reichen bei Weitem nicht aus, um solche Blätter zu verstehen. Die sind zwar nummeriert, aber häufig nicht datiert oder signiert. Oft tauchen neben Leibnizens Handschrift auch die von Gesprächspartnern auf. Dies zeigt auch das zweite Beispiel, eine Art Protokoll von einem Gesprächs, das Leibniz dem Datum nach im April 1675 in Paris mit dem Mathematiker Jacques Ozanam führte.
    Siegmund Probst: "Das ist so ein Schnipsel, den wir für den jetzigen Band bearbeiten. Es hat sehr unregelmäßige Schnittkanten und ist aus einem größeren Blatt Papier herausgeschnitten worden. Wenn man Erfahrung hat, sieht man auch, dass es zwei verschiedene Hände sind, die da ihre Spuren hinterlassen haben. Und zwar ist das eine Leibniz, der da drauf geschrieben hat und das andere ist sein Freund Osanam. Das ist also eine Aufzeichnung von einem Gespräch, dass die beiden geführt haben mit Notizen von Ozanam und dann einem Text und weiteren Figuren, die Leibniz dazu geschrieben hat."
    Ein Problem: Auch wenn die Dokumente bereits 300 Jahre relativ gut überstanden haben – der Zahn der Zeit nagt auch an ihnen, trotz allerschonendster Aufbewahrung. Das Papier selbst beunruhigt die Mitarbeiter dabei nicht so sehr, wie Siegmund Probst erklärt:
    "Das Papier dieser Zeit ist sehr beständig, allerdings eben auch nicht beliebig lange. Wir haben durchaus Probleme im Lauf der Zeit: Die Tinte, die damals verwendet wurde, ist eisenhaltig und Eisen rostet mit der Zeit. Und früher oder später frisst sich die Tinte durchs Papier. Und dann fallen auch umrandete Geschichten im Lauf der Zeit aus. Solche Fälle haben wir immer wieder, vor allem, wenn es sehr dünnes Papier war. Und wir können feststellen, dass manche Teile, die vor 50 Jahren in der Sicherheitsverfilmung auf Microfilm noch vorhanden waren, später herausgefallen sind."
    Die Wissenschaftler stehen also im Wettlauf gegen die Zeit. Ein kleiner Trost: Alle mathematischen Handschriften sind mittlerweile eingescannt. Bis 2019 lautet das ehrgeizige Ziel sogar, alle Handschriften und Briefe zu scannen und auf diese Weise zumindest digital im heutigen Zustand zu dokumentieren.
    Einen Einblick in die Herausforderungen der Arbeit kann man auch direkt in der Leibniz-Bibliothek gewinnen: Noch bis zum 31. Dezember ist die Ausstellung 1716 – Leibniz' letztes Lebensjahr. Unbekanntes zu einem bekannten Universalgenie geöffnet.
    Die Ausstellung "1716 – Leibniz' letztes Lebensjahr. Unbekanntes zu einem bekannten Universalgenie" in der Leibniz-Bibliothek in Hannover.
    Die Ausstellung "1716 – Leibniz' letztes Lebensjahr. Unbekanntes zu einem bekannten Universalgenie" in der Leibniz-Bibliothek in Hannover. (GWLB/Jutta Wollenberg)
    Leibniz, Sophie und Sophie-Charlotte
    Mit Kurfürstin Sophie von Hannover sowie mit ihrer Tochter Sophie-Charlotte, der späteren Königin von Preussen, pflegte Leibniz über viele Jahre einen intensiven gedanklichen Austausch. Ein Brief aus dem Jahr 1688 etwa zeigt, welcher Ton zwischen ihm und seiner - formal jedenfalls - Dienstherrin Sophie von Hannover angeschlagen wird. Leibniz bezieht sich in dem Schreiben auf ein Treffen mit dem Komponisten und Musiker Augusto Steffani, der zur feierlichen Eröffnung des neu gebauten prunkvollen Hannoverschen Opernhauses eine Oper auf Heinrich den Löwen komponiert hatte, Enrico Leone. Leibniz hatte Steffani offenbar auf dem Weg gen Süden in Augsburg getroffen. In der dortigen Bibliothek hatte er wichtige Dokumente und Aufzeichnungen lesen können. Er schreibt: "Herr Agostino Steffani, der Eurer Hochfürstlichen Durchlaucht aufrichtig ergeben ist und nur mit großer Verehrung von Ihicht, ebenso wie von meinem Durchlauchtigsten Herrn, hat mir sehr geholfen und alle möglichen Erleichterungen verschafft, desgleichen sein Bruder, Herr Terzago, und Herr Baron Scarlati, mit dem sie mich bekannt gemacht haben. Ich bin froh, in Bayern kaum noch nach etwas forschen zu müssen. Manche der hiesigen Räte sind doch etwas primitiv. Bei Dingen, die anderen, die mit dieser Materie besser vertraut sind, eine Ehre und ein Vergnügen bedeuten würden, bekommen sie ihre Bedenken und sind wie jemand, der Pfennige mit ebenso großer Sorgfalt hüten würde wie Goldmünzen. Sechs Meilen von hier liegt eine Stadt, die Wasserburg heißt; von dort aus werde ich, so es dem lieben Gott gefällt, in sechs Tagen den Inn und die Donau hinunter nach Wien fahren.
    (...) Ich bin in Ergebenheit
    Madame Eurer Hochfürstlichen Durchlaucht untertänigster und treuester Diener
    Leibniz.
    Die Korrespondenz erstreckt sich insgesamt über einen Zeitraum von gut 30 Jahren, von der Amtsübernahme Ernst Augusts bis zum Tode Sophies im Jahr 1714. Darunter auch dieses Schreiben von Januar 1689. Leibniz ist immer noch unterwegs in Sachen Ahnenforschung. Die Kurfürstin schreibt:
    Zitat Sophie:
    Ich habe all Ihre Briefe erhalten, Monsieur, aber auf Ihre guten Wünsche zu diesem neuen Jahr habe ich nicht geantwortet, weil ich Sie unterwegs hierher glaubte, um unseren Heinrich den Löwen zu sehen, dessen Geschichte Sie schreiben wollen. Aber Sie wollen weiter reisen, wie ich sehe, und nach seinem Ursprung forschen, damit die, die nach uns kommen werden, nicht nach dem unsrigen forschen müssen. Auf diese Weise wollen Sie uns unsterblich machen, doch wenn ich Geschichte lese, kann ich kaum die Namen der Helden behalten. Daher sage ich mit Salomon, dass alles eitel ist und dass ich Ihnen eine erfolgreiche Reise wünsche, damit Sie Freude an Ihrer Mühsal haben, denn das ist unser Ziel, wie der weise König sagt. (...) Ich meinerseits bekäme gerne Gelegenheit, Ihnen zu bezeugen, dass ich zu Ihren Freunden gehöre. Sophie.
    Es geht aber auch um Staatsgeschäfte, Kriegsgeschehen, die Karrieren der Söhne in der Armee und – natürlich – auch um Leibnizens Forschung. Aus diesen Gesprächen heraus formt sich seine Monadenlehre. So notiert er etwa seitenlang seine Gedanken über die Seele und sendet sie sowohl an Sophie als auch ihre Tochter Sophie-Charlotte. Der Text beginnt mit folgenden Zeilen:
    Zitat Leibniz:
    "Wenn man urteilen will ; ob die Seele materiell oder immateriell ist, muss man begreifen, was Materie und was Seele ist. Alle sind damit einverstanden, dass Materie Teile hat und folglich eine Vielzahl von mehreren Substanzen wie eine Schafherde ; da aber jede Vielzahl wahre Einheiten voraussetzt, ist es offenbar, dass diese Einheiten nicht aus Materie sein können, es ist nötig, dass Kraft und Perception in diesen Einheiten selbst ist, sonst gäbe es sie nicht in allem, was geformt ist ; die Seelen sind tatsächlich Einheiten, und folglich sind sie streng genommen immateriel, unteilbar, unauflöslich und unsterblich. Es ist jedoch wahr, dass die Einheiten, obwohl unauflöslich, nicht alle Seelen sind ; denn es gibt Einheiten, die weniger edel sind. Aber in jedem organischen Körper ist die Seele seine wesentliche und herrschende Einheit. Das ist das Ich in uns."
    Als die Kurfürstin 1714 stirbt, schreibt Leibniz voller Trauer (Auszug):
    Zitat Leibniz:
    "Die Sich schon auf der Welt geschwungen Himmel an,
    Gott ohne falsch geliebt, dem Nächsten Guts gethan
    In Unglück nicht verzagt, im Glück sich nicht erhoben,
    Und alles angesehn als käme es ihr von oben;
    Die mit der Hoheit Glanz die Demut vergesellt
    Verstand und Tugend sich als Richtschnur vorgestellet,
    Sechs tapfere Söhne vor Europens Zier gebohren,
    Drey vor das Vaterland nicht ohne trost verlohren;
    Die ihr sonst hohes haus noch herrlicher gemacht
    Und über Moses worth der jahre Zahl gebracht:
    Die kann, wenn Gott befielt, ohn alles vorbereiten
    Beherzt, SOPHIEN gleich, zum bessern leben schreiten."
    Das Denkmal von Kurfürstin Sophie in den Herrenhäuser Gärten in Hannover: Es ist an der Stelle errichtet, an dem sie bei einem Spaziergang im Park gestorben sein soll. Sie selbst hat die Herrenhäuser Gärten nach italienischen und französischen Vorbildern in Auftrag gegeben und gestalten lassen.
    Aber nicht nur mit Sophie, sondern auch mit ihrer einzigen Tochter Sophie-Charlotte pflegt Leibniz einen intensiven Dialog. Leibniz soll über ihre Neugier gesagt haben, dass sie noch das Warum des Warums wissen wolle. Sie besprechen die Lektüre miteinander, Sophie-Charlotte nimmt lebhaft Anteil an allen Diskussionen. 1703 schreibt sie an Leibniz über das, was sie von John Locke gelesen hatte: "Ich lese gerade das Buch von Mr. Locke , von dem Sie in Ihrem Brief sprachen, und ich bin inzwischen bei den angeborenen Ideen angelangt, die mir so gut widerlegt scheinen, dass ich auf Ihre Erwiderung umso neugieriger bin."
    Manchmal war aber die 1701 zur Königin von Preußen gekrönte Sophie Charlotte verärgert über Leibniz. An eine Vertraute schreibt sie in dieser Zeit: "Ich mag diesen Mann, obgleich ich mich eigentlich über die Art, mit der er alles so oberflächlich mit mir erörtert, ärgern müsste. Ich zweifle an meinem Talent, denn selten geht er genau auf die Themen ein, die ich anschlage."
    Sicher ist, dass Leibniz eines seiner berühmtesten Werke, die 1710 veröffentlichte "Theodicée", nicht verfasst hätte ohne die Regentinnen in Hannover und Berlin. Sophie-Charlotte wird sogar ganz konkret zum Gelingen eines seiner zentralen Vorhaben zur Verbesserung der Wissenschaften beitragen: Der Gründung der ersten Akademie nach seinen Vorstellungen in Berlin.
    Rund um Leibniz im Web:
    Wer war Leibniz? Überblick der Stadt Hannover Zum Leibnitz-Jahr
    Leibniz-Bibliothek mit Leibniz-Archiv
    "Die Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft wurde im Frühjahr 1966 in Hannover gegründet. Sie hat sich die Aufgabe gestellt, die Kenntnis des Werkes und des Wirkens von Leibniz zu vertiefen, wie Leibniz Verbindungen zwischen den Disziplinen der Wissenschaften zu pflegen und sein Gedankengut weiteren Kreisen zu vermitteln. Die Gesellschaft hat ca. 400 Mitglieder im In- und Ausland."
    "Die Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft betreibt in Zusammenarbeit mit den vier Editionsstellen der Leibniz-Akademieausgabe Sämtliche Schriften und Briefe das Portal leibniz-edition.de Dort stehen dem Nutzer rund 20.000 Seiten Texte der Ausgabe zur Verfügung, ferner ein kumuliertes Sachverzeichnis (ca. 70.000 Datensätze), ein kumuliertes Personenverzeichnis (ca. 30.000 Datensätze), ein kumuliertes Schriftenverzeichnis (ca. 20.000 Datensätze) und verschiedene weitere Hilfsmittel der Forschung.
    Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften verdankt ihre Gründung Gottfried Wilhelm Leibniz. Ihre besondere Geschichte ist auf der Homepage nachzulesen.
    Literatur
    Leibniz als Autor (Auswahl)
    Projekt Leibniz Edition: Veröffentlichung sämtlicher Handschriften aus dem Nachlass
    Im Projekt Gutenberg veröffentlicht: Kleinere philosophische Schriften:
    Die Theodizee, einziges zu Lebzeiten 1710 veröffentlichtes Hauptwerk, z.B. Übers. und hg. von H.v.Kirchmann, Leipzig 1879
    Zum Briefwechsel Isaac Newton/Samuel Clarke mit Leibniz: Der Briefwechsel mit G.W. Leibniz 1715/16, Autor: Samuel Clarke, Meiner Verlag (Philosophische Bibliothek) Nachdruck on demand; Ausgabe von 1990, dt. Übersetzung des engl. Originals von 1717
    Briefwechsel Leibniz-Kurfürstin Sophie (siehe Literaturliste - über Leibniz)
    Über Leibniz:
    Eike Christian Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz, Eine Biographie, C.H.Beck 2000, neu 2016. (Der Autor hat Theologie und Philosophie studiert und war jahrzehntelang Redakteur von NDR Kultur in Hannover. In seine 630 Seiten umfassende Biografie sind jahrelange Recherchen eingeflossen. Hirsch macht dabei den Universalgelehrten auch menschlich erfahrbar.)
    Hans Poser: Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung, Junius-Verlag 2005, 3. Aufl. 2016. (Es ist eine Einführung in Leibniz' Gedankenwelt und eher an ein breit interessiertes akademisches Publikum gerichtet.)
    Reinhard Finster, Gerd van den Heuvel: Gottfried Wilhelm Leibniz, rororo-Monographie, 2016. (Ein sehr guter Überblick über Leben und Werk des Universalgelehrten, leicht verständlich und reich illustriert.)
    Wenchao Li: Briefwechsel: Gottfried Wilhelm Leibniz, Kurfürstin Sophie von Hannover, Wallstein Verlag, 800 Seiten, Auslieferung ab 15.11.2016. (Erstmals ist die rund 30 Jahre umfassende Korrespondenz vollständig ins Deutsche übersetzt worden. Die Texte umfassen dabei ein breites Themenspektrum und zeugen vom großen Respekt und der Nähe der Herrscherin zum Universalgelehrten.)
    Martina Trauschke (Hg.): Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover. Ein höfisches Lebensbild aus dem 17. Jahrhundert. Übersetzt aus dem Französischen von Ulrich Klappstein. Wallstein Verlag, Göttingen 2014.