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Die langsame Vorbeifahrt an Menschen und Dingen

Die kleine Form liebt der Autor Klaus Merz, selten ist ein Buch länger als 100 Seiten. Ihm ist die Wahrnehmung und ihre Umformung in Schrift alles. Die ersten drei Bände einer Werksausgabe über ihn sind erschienen.

Von Matthias Kußmann |
    Klaus Merz ist ein Meister der kleinen Form. Er schreibt kurze Gedichte, kurze Prosa, sogar kurze Romane. Haben die mehr als 100 Seiten, ist es eine Ausnahme, er verdichtet seine Texte aufs Äußerste. Dennoch wirken sie nie karg, im Gegenteil, sie sind reich an Bildern, Klängen, Rhythmen und Farben. Merz schreibt ernst und melancholisch, doch auch humorvoll, mit einem erfrischenden Sinn für Groteske.

    "Es geht bei mir häufig um den Versuch, in der Balance zu bleiben. Und sich aber nicht zu fürchten vor den ganz abrupten Wechseln, ins Tiefschwarze, aber auch ins heiter Helle. Ich denke, die "Umlenkrolle" dabei ist nicht nur Ironie, sondern Humor. Ich glaube, ohne schafft man´s gar nicht auf der Welt."

    Trotz der Präzision, mit der Merz die Wörter setzt, bleiben seine Texte offen: Sie sind einfach und klar, zugleich rätselhaft und poetisch. Nachzulesen jetzt in den ersten drei Bänden einer auf sieben Bände geplanten Werkausgabe im Haymon-Verlag, herausgegeben von Markus Bundi. Der erste Band heißt "Die Lamellen stehen offen", im Untertitel "Frühe Lyrik 1963-91". Donnerwetter, denkt man, Merz schrieb fast 30 Jahre lang "frühe Lyrik"!

    War er 1963, mit 18, ein junger Autor, war er es mit 46 immer noch. Aber so absurd rechnet der Literaturbetrieb ja. Bis 50 gilt man als "jung", zehn Jahre später beginnt das "Alterswerk". Bleiben wir beim ganz jungen Klaus Merz. Was hat er geschrieben? Das hier zum Beispiel:

    "Winter

    Der Himmel flockt aus
    ich gehe auf Eis.
    Kein offenes Haus
    die Nächte sind weiß.

    Die Liebe ein Hund
    treibt mich fort.
    Schneesterne im Mund
    halte ich Wort."

    Was für ein Gedicht für einen 18-Jährigen! Einfach, liedhaft, anschaulich. Schon mit 16 hatte Merz Lyrik von Benn, Bachmann und Celan gelesen, eine Überwältigung durch Sprache. Wenig später begegnete er der großen Schweizer Dichterin Erika Burkart, die ihn förderte. Und doch fand der 18-Jährige einen eigenen Ton, eine eigene Haltung. Seine frühesten Gedichte, in der Werkausgabe erstmals gedruckt, waren ein poetisches Versprechen – und Merz hat ja, wie man an den späteren Büchern sieht, Wort gehalten.

    "Für mich war das der Ausgangspunkt des Schreibens: Dass ich mich schreibend des Lebens versichern und auch vor allem Fremdheit abbauen kann – auch lesend ein bisschen weniger fremd und allein bin auf der Welt. Die Welt begreifen, in dem man sie sich gegenüber hält, in Zeichen, in Bildern, in Buchstaben."

    Vor sechs Jahren gab Merz seinen literarischen Vorlass an das Schweizer Bundesarchiv, ein "kleines Lastwägelchen voll Manuskripten und Briefen", wie er sagt. Darin hat Markus Bundi nicht nur die ganz frühen Gedichte, sondern auch sonst gutes Ungedrucktes gefunden, und nach Absprache mit dem Autor in die Ausgabe aufgenommen. 1975 erschien Merz´ Prosadebüt "Obligatorische Übung", aber er hatte schon vorher Erzählungen geschrieben und teilweise auch veröffentlicht, in Zeitschriften etwa. Auch daraus gibt es jetzt eine Auswahl, im zweiten Band der Werkausgabe: "In der Dunkelkammer. Frühe Prosa 1971-82". Der Band enthält auch Teile aus zwei Romanmanuskripten, die schon weit gediehen waren, dann aber bis auf je ein Kapitel vernichtet wurden: ein Briefroman und die Geschichte eines nur vermeintlich blinden Mannes. Der befreundete Schriftsteller Hans Boesch las das noch nicht fertige Manuskript und wies auf die thematische Nähe zu Frischs "Gantenbein"-Roman hin, worauf Merz das Projekt einstellte.

    "Es gab auch Sachen, die ich verbrannt habe, '89 komischerweise. In der Zeit der "Wende", als viel anderes passierte in Deutschland, hab ich in der Schweiz ein Feuerchen gemacht und zwei größere Manuskripte verbrannt. Es war der Moment, als ich dachte: Soll ich alles, was nicht in den Büchern steht, verbrennen? Hab dann auf halbem Weg doch aufgehört. Heute ist das vielleicht ein bisschen schade, dass man das nicht mehr dabei hat. Auf der andern Seite ist es auch eine Erlösung. Aber es ist noch genug übrig geblieben alles in allem."

    Etwa das noch ungedruckte Theaterstück "Zschokke-Kalender". 1976 uraufgeführt, erzählt es von dem deutschen Schriftsteller Heinrich Zschokke, der maßgeblich daran beteiligt war, in der Schweiz die Gedanken der Aufklärung durchzusetzen – womit sich Merz bei all jenen Eidgenossen unbeliebt machte, die die Aufklärung als urschweizer Phänomen sehen. Außerdem bietet die Ausgabe Wiederbegegnungen mit längst vergriffenen Werken des Autors, etwa dem Erzählband "Latentes Material" von 1978. Die Titelgeschichte, ein zentraler Text seines gesamten Werks, handelt von einem Schweizer Dorffotografen und enthält zugleich bis heute gültige Grundzüge der Poetologie des Klaus Merz. Es geht um Achtsamkeit, Empathie und Genauigkeit, die "langsame Vorbeifahrt" an Menschen und Dingen, wie er später einmal schrieb.

    "Vielleicht gibt es so etwas wie den fotografischen Blick. Manchmal glaube ich, ihn zu besitzen. Es ist die Fähigkeit, Gegenwart als Vergangenheit sehen zu können. Zur gewohnten Sehweise stellt sich noch eine weitere ein: die Nachsicht. So entstehen die gegenwärtigsten Bilder auf Zeit. Wahrscheinlich habe ich Fotograf werden müssen, weil ich den retardierenden Blick bei mir gespürt habe. Ich sehe keine Abläufe, sondern aneinandergereihte Zustände. Auch, wenn ich Schriftsteller geworden wäre, hätte ich diesen Beruf nur so ausüben können, sozusagen fotografisch, tagebuchartig. Im Grunde beginnt man mit jedem Bild, mit jeder Eintragung wieder von vorn."

    So gibt es auch in Merz´ Romanen keine linearen Erzählverläufe, sondern kurze Abschnitte, die durchaus in verschiedenen Zeiten spielen. Er löst die Handlung, mit Arno Schmidt gesprochen, in ein "Tableau glitzernder Snapshots" auf, die zugleich eine überzeugende Einheit bilden.

    Der dritte Band der Werkausgabe schließlich heißt "Fährdienst" und versammelt Prosa von 1983-95. Man findet bekannte Titel wie "Am Fuß des Kamels" oder "Kurze Durchsage", aber auch den Erstdruck von "Die Schonung", einer Moritat "in sieben Gängen", 1989 in Zürich uraufgeführt.

    Klaus Merz ist ein Meister der kleinen Form. Und doch summieren sich die Texte mit den Jahrzehnten beachtlich. Die ersten drei Bände der Werkausgabe haben zusammen rund 850 Seiten. Vier weitere werden folgen, die auch späte Prosa und Lyrik, Romane, Essays und Texte zur Kunst enthalten. Ein Fest für Merz-Leser, jedoch kaum für Germanisten.

    Autor, Herausgeber und Verlag entschieden sich für eine reine Leseausgabe, die auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichtet. Die Texte in den drei gelben Bänden sprechen für sich – und das passt zu ihrem Autor, diesem Enkel Flauberts, dem Wahrnehmung und ihre Umformung in Schrift alles ist:

    "Über die Baulücken zieht blauer Himmel, die Schönheit der Brandmauern tritt schonungslos hervor. Eine Jakobinerin mit Einkaufstasche und Hund erobert die Ladenstraße, der Marktfahrer singt sein Auberginenlied. An der Ecke bleibt ein Dreijähriger stehen, er notiert alles, was er hört und sieht, in sein gelbes Heft, die Mutter wartet. Sie weiß, die Wirklichkeit lässt sich nicht begreifen. Außer vielleicht mit einem Bleistift in der Hand."

    Buchinfos:
    Klaus Merz: Werkausgabe.
    Band 1: Die Lamellen stehen offen. Frühe Lyrik 1963-1991, 240 Seiten
    Band 2: In der Dunkelkammer. Frühe Prosa 1971-1982, 308 Seiten
    Band 3: Fährdienst. Prosa 1983-1995, 312 Seiten
    Haymon Verlag Innsbruck, Preis: je 24,90 Euro