Nicht nur jeder Jeck ist anders – wir senden schließlich aus Köln -, sondern überhaupt jeder Mensch. Wir haben aber das Bedürfnis, diese Vielfalt zu strukturieren, zu gruppieren, zu typisieren. So kannte die Antike die Lehre von den Charakteren: Der Mensch war entweder Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker oder Melancholiker. Was er war und wie er das Leben nahm, hing von dem Verhältnis der vier Körpersäfte ab, die das Temperament bestimmten: Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle.
Die moderne Psychologie hat, ohne auf Körpersäfte zurückzugreifen, ein Fünf-Faktoren-Modell entwickelt. Man nennt sie auch, vielleicht als Analogie nach den fünf Großwildarten, die "Big Five". Die Persönlichkeit des Menschen macht aus, so ein international weit verbreiteter Konsens unter Psychologen, wie stark die fünf Faktoren ausgeprägt sind.
Der Faktor Neurotizismus sorgt für emotional labile Personen, der Faktor Extraversion für gesellige, begeisterungsfähige; Menschen mit ausgeprägter Offenheit für Erfahrungen sind erfinderisch, neugierig und fantasievoll; der Faktor Gewissenhaftigkeit kennzeichnet effektive, gut organisierte Persönlichkeiten, der Faktor Verträglichkeit schließlich mitfühlende, kooperative Menschen.
Beschleunigung, Verunsicherung und eine verstellte Zukunft
Der Soziologe Heinz Bude will gewiss nicht mit beiden Typologien rivalisieren, zumal er sich nicht auf Persönlichkeitstests stützen kann wie die Psychologie. Aber auch er bietet in seinem neuen Buch "Das Gefühl der Welt" mit dem "heimatlosen Antikapitalisten" und dem "entspannten Systemfatalisten" zwei Möglichkeiten an, das Verhalten von Menschen unserer Tage zu unterscheiden: Nämlich das Verhalten gegenüber der gesellschaftlichen Lage, die er gekennzeichnet sieht durch Beschleunigung, Verunsicherung und eine verstellte Zukunft.
"Wir befinden uns offenbar am Ende einer Periode von vielleicht dreißig Jahren, welche heute vielen prominenten Gegenwartsdeutungen als Endspiel zum Untergang erscheint. Es wird wieder denkbar, dass der Kapitalismus endet, eine Weltgesellschaft, die nicht mehr um Europa kreist, wird vorstellbar, und man sucht nach Bildern für ein Anthropozän, für das in Millionen Jahren der Erdgeschichte keine Entsprechung zu finden ist. Aber der Ausdruck von Empörung über die zugelassene Selbstzerstörung der Welt, so wie wir sie kennen, verdeckt nur die Angst davor, selbst nicht mehr weiter zu wissen."
Man kann es auch mit einem einzigen Wort sagen: Neoliberalismus. Bude wählt den etwas uneleganten Begriff der "Finanzialisierung der Welt", um zu beschreiben, dass das Geld nicht mehr als Mittel zum Zweck dient, sondern selbst der oberste, umfassende, einzige Zweck geworden ist; dass die Wirtschaft nicht mehr dem Menschen dient, sondern der Mensch der Wirtschaft; dass wir nicht mehr für einen Teil unserer Lebenszeit unsere Arbeitskraft gegen guten Lohn und nach fair ausgehandelten Regeln verkaufen, sondern uns der "totalen Selbstverwertung" widmen müssen, in einer Welt, in der die Regeln, Chancen und Werte ständig und unvorhersehbar wechseln können.
"Wir befinden uns offenbar am Ende einer Periode von vielleicht dreißig Jahren, welche heute vielen prominenten Gegenwartsdeutungen als Endspiel zum Untergang erscheint. Es wird wieder denkbar, dass der Kapitalismus endet, eine Weltgesellschaft, die nicht mehr um Europa kreist, wird vorstellbar, und man sucht nach Bildern für ein Anthropozän, für das in Millionen Jahren der Erdgeschichte keine Entsprechung zu finden ist. Aber der Ausdruck von Empörung über die zugelassene Selbstzerstörung der Welt, so wie wir sie kennen, verdeckt nur die Angst davor, selbst nicht mehr weiter zu wissen."
Man kann es auch mit einem einzigen Wort sagen: Neoliberalismus. Bude wählt den etwas uneleganten Begriff der "Finanzialisierung der Welt", um zu beschreiben, dass das Geld nicht mehr als Mittel zum Zweck dient, sondern selbst der oberste, umfassende, einzige Zweck geworden ist; dass die Wirtschaft nicht mehr dem Menschen dient, sondern der Mensch der Wirtschaft; dass wir nicht mehr für einen Teil unserer Lebenszeit unsere Arbeitskraft gegen guten Lohn und nach fair ausgehandelten Regeln verkaufen, sondern uns der "totalen Selbstverwertung" widmen müssen, in einer Welt, in der die Regeln, Chancen und Werte ständig und unvorhersehbar wechseln können.
Bude, gut versorgt mit Statistiken und Studien, benennt die Folgen von Finanzkrise und Finanzialisierung: So hat sich in England die ökonomische Gesamtleistung in den letzten drei Jahrzehnten verdoppelt; mehr als verdoppelt hat sich aber auch der Anteil der Haushalte, die ihre Wohnung im Winter nicht ausreichend heizen können. Der Anteil von Einnahmen durch Kapital und durch Arbeit entwickelt sich in den Gesellschaften des Westens auseinander, die Mittelschicht ebenso; ihr unterer Teil fürchtet, ins Prekariat abzufallen. Selbst unter Gutsituierten breitet sich Angst aus, und die fasst Bude so in Worte:
"Bei uns in der Firma, in meinem Betrieb, in unserer Familie und unter uns Einheimischen ist die Welt noch in Ordnung - aber da draußen tobt der Raubtierkapitalismus, der alles in Stücke reißt und dem nichts heilig ist. Wir kommen wohl noch zurecht. Aber wie unsere Kinder sich durchschlagen werden, das steht in den Sternen."
"Bei uns in der Firma, in meinem Betrieb, in unserer Familie und unter uns Einheimischen ist die Welt noch in Ordnung - aber da draußen tobt der Raubtierkapitalismus, der alles in Stücke reißt und dem nichts heilig ist. Wir kommen wohl noch zurecht. Aber wie unsere Kinder sich durchschlagen werden, das steht in den Sternen."
Der entfesselte Kapitalismus hat die Welt in eine Sackgasse geführt
Auf diese Betrachtung der Lage reagieren die Menschen auf zweierlei Weise. Auf der einen Seite stehen die, die Bude die "heimatlosen Antikapitalisten" nennt. Antikapitalisten, weil sie im Kapitalismus die Ursache ihrer Bedrängnisse identifizieren. Sie beobachten, was die "gnadenlose Selbstvermarktung" und "flächendeckende Sozialverwüstung", wie Bude es bündig zusammenfasst, mit ihnen und mit der Welt anstellt. Sie haben begriffen, dass in der Finanzkrise 2008 zwar die Banken gerettet wurden, aber in der Konsequenz sie es sind, die die Zeche zahlen: durch Arbeitsplatzverlust in der Krise, durch Sozialabbau wegen der Staatsschulden, durch das Abschmelzen ihrer Altersversorgung wegen der Nullzinspolitik.
Der entfesselte Kapitalismus hat die Welt in eine Sackgasse geführt, aus der sie keinen Ausweg mehr sehen. Jedenfalls nicht durch eine radikale Veränderung der Verhältnisse, gar eine Revolution. Hilflos sind die Antikapitalisten, weil ihnen im Unterschied zu den klassischen Marxisten die Alternative fehlt. Und weil sie wissen, dass sie Teil des Systems sind: Etwa, weil sie mit Pensions- oder Immobilienfonds selbst Anteil am Kapital haben. Ihre Interessen sind diffuser, weil sich der Widerspruch zwischen Lohn und Profit, zwischen Preis der Arbeitskraft und Rendite des Kapitals in das Individuum hinein verlagert hat.
Den hilflosen Antikapitalisten stehen in Heinz Budes neuer Typologie die "entspannten Systemfatalisten" gegenüber. Sie stellen so etwas wie eine relaxte Version des alten Sponti-Spruchs "Du hast keine Chance, aber nutze sie" dar. Dass die Berufsperspektiven prekärer, die Einkommensunterschiede größer werden, dass Terrorismus, politische Instabilität, Klimakrisen nicht nur drohen, sondern schon da sind, das haben die "entspannten Systemfatalisten" eingepreist. Sie versuchen, auf dem Strom zu surfen, den sie nicht aufhalten können.
Beide Figuren sind Idealtypen, nicht aus empirischen Daten erwachsen, sondern vom Stimmungssoziologen Bude konstruiert. Die Stimmung ist der Grund, aus dem diese beiden Figuren hervorgehen. Und Stimmung wiederum ist eine Reaktion auf die tatsächliche Lage, die aber eben sehr unterschiedlich wahrgenommen, auf die sehr unterschiedlich reagiert werden kann.
Den hilflosen Antikapitalisten stehen in Heinz Budes neuer Typologie die "entspannten Systemfatalisten" gegenüber. Sie stellen so etwas wie eine relaxte Version des alten Sponti-Spruchs "Du hast keine Chance, aber nutze sie" dar. Dass die Berufsperspektiven prekärer, die Einkommensunterschiede größer werden, dass Terrorismus, politische Instabilität, Klimakrisen nicht nur drohen, sondern schon da sind, das haben die "entspannten Systemfatalisten" eingepreist. Sie versuchen, auf dem Strom zu surfen, den sie nicht aufhalten können.
Beide Figuren sind Idealtypen, nicht aus empirischen Daten erwachsen, sondern vom Stimmungssoziologen Bude konstruiert. Die Stimmung ist der Grund, aus dem diese beiden Figuren hervorgehen. Und Stimmung wiederum ist eine Reaktion auf die tatsächliche Lage, die aber eben sehr unterschiedlich wahrgenommen, auf die sehr unterschiedlich reagiert werden kann.
Stimmung ist das Thema in "Das Gefühl der Welt", dem neuen Buch von Heinz Bude, einem der angesehensten und auffälligsten Soziologen Deutschlands. Im Umfeld der Erscheinung des Buches kam man an ihm schwer vorbei, kaum ein Medium, in dem er nicht mit einem Interview vertreten war. Das lag fast weniger am Buch selbst als an zwei gesellschaftlichen Ereignissen, über die man sich tiefere Einsichten aus dem Munde der Wissenschaft erhoffte: der große Zustrom der Flüchtlinge und die Wahlerfolge der AfD und wie beides miteinander zusammenhängt.
Die Rehabilitierung des "Gefühligen"
Antworten auf die Frage erhält man in Bude-Interviews mehr als aus der neuen Studie. "Das Gefühl der Welt" ist aber auch kein Grundlagenwerk über "Die Macht von Stimmungen", wie der Untertitel formuliert, sondern eine lose Folge von Essays, die sich unter anderem mit der Generationenabfolge in der deutschen Gesellschaft, mit dem neuen Verhältnis von Mann und Frau oder dem Strukturwandel der Öffentlichkeit durch Internet und soziale Medien beschäftigt. Jeder Essay für sich ist lesenswert, weniger wegen der harten Facts als wegen der Fülle von Denkanstößen, die sie bieten, und nicht zuletzt wegen Budes Begabung, auch im Reich der Begriffe überaus plastisch zu formulieren.
Bewundern muss man überdies den Mut, sich auf einem so wenig festen Grund zu bewegen. Was sind Stimmungen, wie bekommt man sie zu fassen, wie kann der Wissenschaftler mit ihnen arbeiten?
"Stimmungen sind Arten und Weisen des Daseins in der Welt. Eine Stimmung der Anteilnahme schlägt uns entgegen, wenn wir in den Ferien bei der Fahrt durch ein Dorf plötzlich einem Zug von Menschen begegnen, die den Sarg mit einem Toten zur Beisetzung begleiten; eine Gewitterstimmung überkommt einen in der Landschaft; man wacht morgens nach einem Traum mit Assoziationen aus der Kindheit in wehmütiger Stimmung auf; ich will mich nach einem langen Tag durch Hören eines Titels von John Contrane oder eines Streichquartetts von Franz Schubert in eine andere Stimmung versetzen. So wie man nach Paul Watzlawick nicht nicht kommunizieren kann, weil auch das Schweigen beredt ist und auch das Abwenden ein Zuwenden bedeutet, kann man nach Martin Heidegger nicht nicht gestimmt sein, weil Gelassenheit eine Stimmung ist wie Niedergeschlagenheit, Nachdenklichkeit wie Ausgelassenheit, Lethargie wie Agitiertheit."
Gerade weil man der Stimmung nicht entkommt, ist es schwer, zu sagen, was sie eigentlich ist. Im Deutschen kommt noch eine sprachliche Besonderheit dazu: "Stimmung" enthält eine innere wie eine äußere Komponente, während der Franzose sie mit "humeur" und "atmosphère" ebenso trennt wie der Engländer – hier "mood", dort "atmosphere". An der Doppelgesichtigkeit der Sache ändert das freilich nichts; "Stimmung" umfasst Subjektives wie Objektives, und Budes Gang durch die Kulturhistorie bringt zwar viel Interessantes zutage, führt aber nicht unbedingt zu mehr Klarheit.
Bewundern muss man überdies den Mut, sich auf einem so wenig festen Grund zu bewegen. Was sind Stimmungen, wie bekommt man sie zu fassen, wie kann der Wissenschaftler mit ihnen arbeiten?
"Stimmungen sind Arten und Weisen des Daseins in der Welt. Eine Stimmung der Anteilnahme schlägt uns entgegen, wenn wir in den Ferien bei der Fahrt durch ein Dorf plötzlich einem Zug von Menschen begegnen, die den Sarg mit einem Toten zur Beisetzung begleiten; eine Gewitterstimmung überkommt einen in der Landschaft; man wacht morgens nach einem Traum mit Assoziationen aus der Kindheit in wehmütiger Stimmung auf; ich will mich nach einem langen Tag durch Hören eines Titels von John Contrane oder eines Streichquartetts von Franz Schubert in eine andere Stimmung versetzen. So wie man nach Paul Watzlawick nicht nicht kommunizieren kann, weil auch das Schweigen beredt ist und auch das Abwenden ein Zuwenden bedeutet, kann man nach Martin Heidegger nicht nicht gestimmt sein, weil Gelassenheit eine Stimmung ist wie Niedergeschlagenheit, Nachdenklichkeit wie Ausgelassenheit, Lethargie wie Agitiertheit."
Gerade weil man der Stimmung nicht entkommt, ist es schwer, zu sagen, was sie eigentlich ist. Im Deutschen kommt noch eine sprachliche Besonderheit dazu: "Stimmung" enthält eine innere wie eine äußere Komponente, während der Franzose sie mit "humeur" und "atmosphère" ebenso trennt wie der Engländer – hier "mood", dort "atmosphere". An der Doppelgesichtigkeit der Sache ändert das freilich nichts; "Stimmung" umfasst Subjektives wie Objektives, und Budes Gang durch die Kulturhistorie bringt zwar viel Interessantes zutage, führt aber nicht unbedingt zu mehr Klarheit.
Jedenfalls will Bude in den neueren Humanwissenschaften eine Rehabilitierung des "Gefühligen" beobachten, im Sinne eines Menschenbildes, das nicht nur auf den Verstand, die Ratio fokussiert ist. So frage die Literaturwissenschaft nach den Abenteuern von "close reading", "distant reading" und "re-reading" wieder nach der Lektüre durch ein Subjekt, das sich von Texten auch berühren und bewegen lässt.
Wie entsteht aus individuellen Stimmungen eine kollektive Stimmung?
Auch der Ökonom und schon längst der Politologe weiß, dass sich die Subjekte, die er untersucht, nicht nur vom Verstand leiten lassen, sondern auch von Gefühlen, und dass diese nicht irgendwie aus seinem Innern kommen, sondern von äußeren Einflüssen mitgeprägt sind. Wer diese Dialektik schärfer zu fassen sucht wie Bude, der landet bei Sätzen wie dem folgenden:
"In der Stimmung der Situation erfährt sich das sich selbst hervorbringende Ich als ein schon immer von den Zumutungen der anderen hervorgebrachtes Ich."
Nun ja. Der Begriff ist offenbar, wie Bude selbst schreibt, "metaphorisch stark, aber definitorisch schwach". Stören wir uns also nicht weiter an der schweren Fassbarkeit des Begriffs, auch nicht an dem dünnen Link zwischen Empirie und Erkenntnis, und wenden wir uns lieber seiner Anwendung auf verschiedene Felder gesellschaftlicher Entwicklungen zu.
Wie entsteht aus individuellen Stimmungen eine kollektive Stimmung? Durch Vermittlungsinstanzen der Öffentlichkeit. Der bei uns fast vergessene französische Soziologe Gabriel Tarde hat Ende des 19. Jahrhunderts untersucht, wie durch Zeitungslektüre ein Publikum mit einem gemeinsamen Bewusstsein entstand. Jeder las für sich, aber im Wissen, dass Hunderttausende gleichzeitig dasselbe lasen. So konstituierte sich ein gemeinsames Interesse an Aktualität – und Aktualität ist das, was von den Redaktionen vorgegeben wird.
"Die Leidenschaft für die Aktualität, so der Ausdruck von Tarde, macht die Konsumenten der Massenmedien sensibel für Verschiebungen in den bei jeder inhaltlichen Mitteilung mitkommunizierten Beziehungsbotschaften: Ob sich Niedergangsängste ausbreiten oder Ruckobsessionen durchbrechen, ob die Kommentare und Geschichten das verbaute Ganze herausstellen oder ob das Bedürfnis für Schritte ins Offene spürbar wird, ob journalistische Aufklärung ironischer Sarkasmus oder unbekümmerte Wahrheitssuche bedeutet."
Auch die verschiedenen Medien, in die sich die Öffentlichkeit ausdifferenzierte – seriöse gegen Massenpresse, linke oder rechte Publikationen -, schufen Stimmungsräume, in denen neben den harten Nachrichten auch deren Deutung mitvermittelt wurde. Vor allem die Massenpresse, so Bude, fährt auf dieses Subkutane ab, will Emotionalität und Visualität geliefert bekommen. Die Technik des "Human Touch" bedient das Bedürfnis, anhand eines Gesichts aus der Masse vorgeführt zu bekommen, "was allen drohen kann und wonach sich alle sehnen".
"In der Stimmung der Situation erfährt sich das sich selbst hervorbringende Ich als ein schon immer von den Zumutungen der anderen hervorgebrachtes Ich."
Nun ja. Der Begriff ist offenbar, wie Bude selbst schreibt, "metaphorisch stark, aber definitorisch schwach". Stören wir uns also nicht weiter an der schweren Fassbarkeit des Begriffs, auch nicht an dem dünnen Link zwischen Empirie und Erkenntnis, und wenden wir uns lieber seiner Anwendung auf verschiedene Felder gesellschaftlicher Entwicklungen zu.
Wie entsteht aus individuellen Stimmungen eine kollektive Stimmung? Durch Vermittlungsinstanzen der Öffentlichkeit. Der bei uns fast vergessene französische Soziologe Gabriel Tarde hat Ende des 19. Jahrhunderts untersucht, wie durch Zeitungslektüre ein Publikum mit einem gemeinsamen Bewusstsein entstand. Jeder las für sich, aber im Wissen, dass Hunderttausende gleichzeitig dasselbe lasen. So konstituierte sich ein gemeinsames Interesse an Aktualität – und Aktualität ist das, was von den Redaktionen vorgegeben wird.
"Die Leidenschaft für die Aktualität, so der Ausdruck von Tarde, macht die Konsumenten der Massenmedien sensibel für Verschiebungen in den bei jeder inhaltlichen Mitteilung mitkommunizierten Beziehungsbotschaften: Ob sich Niedergangsängste ausbreiten oder Ruckobsessionen durchbrechen, ob die Kommentare und Geschichten das verbaute Ganze herausstellen oder ob das Bedürfnis für Schritte ins Offene spürbar wird, ob journalistische Aufklärung ironischer Sarkasmus oder unbekümmerte Wahrheitssuche bedeutet."
Auch die verschiedenen Medien, in die sich die Öffentlichkeit ausdifferenzierte – seriöse gegen Massenpresse, linke oder rechte Publikationen -, schufen Stimmungsräume, in denen neben den harten Nachrichten auch deren Deutung mitvermittelt wurde. Vor allem die Massenpresse, so Bude, fährt auf dieses Subkutane ab, will Emotionalität und Visualität geliefert bekommen. Die Technik des "Human Touch" bedient das Bedürfnis, anhand eines Gesichts aus der Masse vorgeführt zu bekommen, "was allen drohen kann und wonach sich alle sehnen".
Die Medienmacher beugen sich der Diktatur der Klicks
Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Hörer an den länger zurückliegenden Fall eines kleinen Jungen, der von zwei Kampfhunden zu Tode gebissen wurde. Eine Boulevardzeitung titelte darauf hin: "Hamburg trauert um Volkan" – um einen Jungen also, von dem nahezu alle Hamburger, denen mit dieser Zeile kollektive Trauer unterstellt wurde, bis dahin noch hie gehört hatten.
Internet und die sozialen Medien haben zu einem erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit geführt. Am Prinzip, dass durch affektiv aufgeladene Ereignisse eine fiktive Stimmungsgemeinschaft gebildet wird, hat sich dadurch aber nichts geändert. Nur führt heute nicht mehr der verantwortliche Redakteur das Ruder, sondern die Masse der Rezipienten, der User, steuert den Affektstrom selbst: Durch die Diktatur der Klicks, der sich die Medienmacher beugen. In immer kürzeren Abständen müssen neue "Aufreger" auf die Online-Seiten gestellt werden, um das Publikum auf diesen Seiten zu halten. Und das gelingt am besten, wenn die "Aufreger" besonders aufregend, also dramatisch, skandalös, beängstigend oder empörend ausfallen.
"Für den Moment erzielt jener Beitrag hohe Wirkung im Netz, der anprangert, sich lustig macht, beschuldigt und verletzt. Die Statistik der Klicks von Zustimmung oder Teilen zeigt, was wirkt, auch wenn es auf dezivilisierenden Affekten wie Häme oder Hass beruht. Der Umstand, dass solche Erregungen das Publikum spalten, wird von den Propagandisten des Netzjournalismus mit dem Hinweis auf das Aussterben des seriösen Qualitätsjournalismus gerne als Intensivierung des Vergesellschaftungserlebnisses begrüßt."
Aus einem aufgehetzten anonymen Publikum kann eine hetzende konkrete Masse werden, wie Bude mit Verweis auf Gabriel Tarde, aber auch auf Canettis "Masse und Macht" belegt. Der Hörer mag hier an die Pegida-Demonstrationen in Ostdeutschland denken, mit denen der im Schutz der digitalen Namenlosigkeit geäußerte Hass eine konkrete Gestalt erhält. Auch zu dem merkwürdigen Faktum, dass der Ausländerhass dort am heftigsten lodert, wo es am wenigsten Ausländer gibt, hat Heinz Budes Buch "Vom Gefühl der Welt" Interessantes zu sagen. Denn auch dieser Hass hat weniger mit handfesten Problemen als mit Ängsten zu tun – also mit Stimmungen.
In allen Einwanderungsgesellschaften, holt Bude weit aus, gibt es die "Figuration Etablierte-Außenseiter" und unvermeidliche Spannungen zwischen Einheimischen und Zuwanderern. Das "Gesetz der sozialen Zeit" gibt denen, die schon immer (oder jedenfalls länger) da waren, gewisse informelle Vorrechte; unter den Zuwanderern gibt es aber immer die sogenannten "flexiblen Außenseiter", die sich nach oben kämpfen und, wenn sie geschickter sind als die Alteingesessenen, deren Machtpositionen erobern. Oder wenigstens Ängste auslösen, dies könnte eintreten.
Internet und die sozialen Medien haben zu einem erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit geführt. Am Prinzip, dass durch affektiv aufgeladene Ereignisse eine fiktive Stimmungsgemeinschaft gebildet wird, hat sich dadurch aber nichts geändert. Nur führt heute nicht mehr der verantwortliche Redakteur das Ruder, sondern die Masse der Rezipienten, der User, steuert den Affektstrom selbst: Durch die Diktatur der Klicks, der sich die Medienmacher beugen. In immer kürzeren Abständen müssen neue "Aufreger" auf die Online-Seiten gestellt werden, um das Publikum auf diesen Seiten zu halten. Und das gelingt am besten, wenn die "Aufreger" besonders aufregend, also dramatisch, skandalös, beängstigend oder empörend ausfallen.
"Für den Moment erzielt jener Beitrag hohe Wirkung im Netz, der anprangert, sich lustig macht, beschuldigt und verletzt. Die Statistik der Klicks von Zustimmung oder Teilen zeigt, was wirkt, auch wenn es auf dezivilisierenden Affekten wie Häme oder Hass beruht. Der Umstand, dass solche Erregungen das Publikum spalten, wird von den Propagandisten des Netzjournalismus mit dem Hinweis auf das Aussterben des seriösen Qualitätsjournalismus gerne als Intensivierung des Vergesellschaftungserlebnisses begrüßt."
Aus einem aufgehetzten anonymen Publikum kann eine hetzende konkrete Masse werden, wie Bude mit Verweis auf Gabriel Tarde, aber auch auf Canettis "Masse und Macht" belegt. Der Hörer mag hier an die Pegida-Demonstrationen in Ostdeutschland denken, mit denen der im Schutz der digitalen Namenlosigkeit geäußerte Hass eine konkrete Gestalt erhält. Auch zu dem merkwürdigen Faktum, dass der Ausländerhass dort am heftigsten lodert, wo es am wenigsten Ausländer gibt, hat Heinz Budes Buch "Vom Gefühl der Welt" Interessantes zu sagen. Denn auch dieser Hass hat weniger mit handfesten Problemen als mit Ängsten zu tun – also mit Stimmungen.
In allen Einwanderungsgesellschaften, holt Bude weit aus, gibt es die "Figuration Etablierte-Außenseiter" und unvermeidliche Spannungen zwischen Einheimischen und Zuwanderern. Das "Gesetz der sozialen Zeit" gibt denen, die schon immer (oder jedenfalls länger) da waren, gewisse informelle Vorrechte; unter den Zuwanderern gibt es aber immer die sogenannten "flexiblen Außenseiter", die sich nach oben kämpfen und, wenn sie geschickter sind als die Alteingesessenen, deren Machtpositionen erobern. Oder wenigstens Ängste auslösen, dies könnte eintreten.
Ostdeutsche fühlen sich als Einwanderer, ohne sich überhaupt bewegt zu haben
Was hat das nun mit der Feindseligkeit gegenüber Ausländern und Flüchtlingen in Ostdeutschland zu tun? Die Ostdeutschen, so Budes Deutung, sehen sich als "Zugewanderte im eigenen Land". Nach der Wende sei ihnen das Regelwerk des Westens übergestülpt worden, auch in Gestalt von westlichen Vorgesetzten. Sie fühlten sich als Einwanderer, ohne sich überhaupt bewegt zu haben. Gegenüber denen, die jetzt kommen oder zu kommen drohen, hätten sie nach dem "Gesetz der sozialen Zeit" ein Vorrecht – aber ein als schwach und fragil empfundenes Vorrecht. In Westdeutschland, meint Bude, finde man dasselbe Phänomen bei Bevölkerungsgruppen, die früher eingewandert seien: russische Spätaussiedler etwa oder gut etablierte Türken, Griechen, Italiener.
"Wenn man in dieser Weise den Migrationsprozess auf der Folie der 'Etablierten-Außenseiter-Figuration' zu verstehen sucht, stößt man unweigerlich auf Gefühle von Scham, Neid, Rache und Angst, die in die Stimmung des Augenblicks eingehen."
Und eben auch in die jüngsten Wahlergebnisse der AfD. Am Anfang seines Buches "Das Gefühl der Welt" präsentierte Heinz Bude die beiden antagonistischen Figuren "hilflosen Antikapitalisten" und des "entspannten Systemfatalisten". Im letzten Essay, betitelt "Die Zukünftigen", stellt er wiederum zwei Reaktionsweisen gegenüber. Angesichts der "universellen Stimmung der Selbstmotivierung, Selbstüberprüfung und Selbstverwirklichung" gebe es nur zwei Auswege: beschleunigen oder aussteigen, die Akzeleration oder die Kontemplation. Der emblematische Ort der Beschleunigung ist für Bude Silicon Valley, wo nicht nur an neuen Technologien gearbeitet wird, die dem Menschen das Leben noch angenehmer, vor allem aber unterhaltsamer machen soll. Nein, mehr noch:
"Die digitale Bündelung von Biotechnologie, Genetik, Pharmazeutik, Robotik und Nanotechnologie lässt eine irreversible Transformation der Gattung als möglich erscheinen. Nach der Phase der Orientierungsoptimierung durch die Suchmaschine, der Gedächtnisergänzung durch Mailverwaltungs- und Bildverwaltungssoftware, der Wirklichkeitsergänzung durch imaginative Brillen und Linsen, nach der Phase der selbstlernenden Maschinen in der Künstlichen Intelligenz sowie der Hirnoptimierung durch Implantierung digitaler Verstärker soll als Krönung von allem eine Cloud entstehen, in der die Methoden des Menschheitswissens abgelegt sind und die daher als totales Bewusstsein und reiner Geist gelten kann."
Für Bude keine schöne Vorstellung, weil es eine Welt der Kontrolle sein wird, bei der "das Irdische, Körperliche und Endliche" des Selbst auf der Strecke bleibt. Die Alternative behagt ihm aber auch nicht: der Rückzug in die Kontemplation, die Abkehr von der nervösen Außenwelt, die Verweigerung der Teilhabe. Letztlich führt diese Haltung für Bude in eine Art "mystischen Egozentrismus".
"Wenn man in dieser Weise den Migrationsprozess auf der Folie der 'Etablierten-Außenseiter-Figuration' zu verstehen sucht, stößt man unweigerlich auf Gefühle von Scham, Neid, Rache und Angst, die in die Stimmung des Augenblicks eingehen."
Und eben auch in die jüngsten Wahlergebnisse der AfD. Am Anfang seines Buches "Das Gefühl der Welt" präsentierte Heinz Bude die beiden antagonistischen Figuren "hilflosen Antikapitalisten" und des "entspannten Systemfatalisten". Im letzten Essay, betitelt "Die Zukünftigen", stellt er wiederum zwei Reaktionsweisen gegenüber. Angesichts der "universellen Stimmung der Selbstmotivierung, Selbstüberprüfung und Selbstverwirklichung" gebe es nur zwei Auswege: beschleunigen oder aussteigen, die Akzeleration oder die Kontemplation. Der emblematische Ort der Beschleunigung ist für Bude Silicon Valley, wo nicht nur an neuen Technologien gearbeitet wird, die dem Menschen das Leben noch angenehmer, vor allem aber unterhaltsamer machen soll. Nein, mehr noch:
"Die digitale Bündelung von Biotechnologie, Genetik, Pharmazeutik, Robotik und Nanotechnologie lässt eine irreversible Transformation der Gattung als möglich erscheinen. Nach der Phase der Orientierungsoptimierung durch die Suchmaschine, der Gedächtnisergänzung durch Mailverwaltungs- und Bildverwaltungssoftware, der Wirklichkeitsergänzung durch imaginative Brillen und Linsen, nach der Phase der selbstlernenden Maschinen in der Künstlichen Intelligenz sowie der Hirnoptimierung durch Implantierung digitaler Verstärker soll als Krönung von allem eine Cloud entstehen, in der die Methoden des Menschheitswissens abgelegt sind und die daher als totales Bewusstsein und reiner Geist gelten kann."
Für Bude keine schöne Vorstellung, weil es eine Welt der Kontrolle sein wird, bei der "das Irdische, Körperliche und Endliche" des Selbst auf der Strecke bleibt. Die Alternative behagt ihm aber auch nicht: der Rückzug in die Kontemplation, die Abkehr von der nervösen Außenwelt, die Verweigerung der Teilhabe. Letztlich führt diese Haltung für Bude in eine Art "mystischen Egozentrismus".
Wo aber ist der Ausweg aus diesem Dilemma zweier abschreckender Idealtypen? Es sind die "Zukünftigen", wie Bude sie nennt. Sie suchen "mit sortierter Skepsis und wacher Verhaltenheit nach Wegen in einer Welt des schwindenden Raums und der vergehenden Zeit", wie er schön, aber vage formuliert. Sie führen ein "dichtes Leben nach dünnen Prinzipien". Sie praktizieren "Weltoffenheit ohne Selbstverneinung". Für die "Zukünftigen" fehlen empirische Daten. Der Leser sieht sie nur unscharf. Das hat die Zukunft so an sich. Vielleicht wolle der Autor nicht nur im Dunkeln pfeifen, sondern auch ein Licht am Ende des Tunnels präsentieren. Vielleicht kann er seinen "Zukünftigen" aber auch, in zehn Jahren etwa, eine eigene Studie widmen.
Heinz Bude: "Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen."
Hanser, München 2016, 142 Seiten, 18,90 Euro.
Hanser, München 2016, 142 Seiten, 18,90 Euro.