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Die Musikerin Agnes Obel
Auf der Suche nach gläsernem Klang

Sie ist Singer-Songwriterin, Pianistin und lebt in Berlin: Agnes Obel. Die 36-jährige Dänin hat 2010 ihr Debüt veröffentlicht - eine Mischung aus Folk-Einflüssen, Klavier-Etüden und popmusikalischer Einfachheit. Für ihr aktuelles Album hat sich Obel mit dem Konzept des Gläsernen Menschen auseinandergesetzt und dafür einen ganz eigenen Klang gefunden.

Von Constanze Pilaski |
    Die dänische Singer-Songwriterin und Pianistin Agnes Obel.
    Die dänische Singer-Songwriterin und Pianistin Agnes Obel. (Alex Brüel Flagstad)
    Die Sendung können Sie sieben Tage online nachhören. (Diese Möglichkeit funktioniert nicht in der Mobilversion, sondern nur in der Desktopansicht.)
    Musik "Chord Left" (Aventine)
    "Es war ein wunderbarer Ort für den Start. In der Johanneskirche Düsseldorf war es das erste Mal, dass wir ein Konzert mit dem neuen Album gespielt haben. Ich habe wirklich eine lange Zeit mit diesen Songs verbracht. Es fühlt sich an, als waren sie lange in meinem Kopf, deswegen ist es unglaublich sie nun in einem so großen Raum zu hören."
    Klavier, dazu ihre sanfte, klare Stimme. - Melancholische Kleinode.
    "Es fühlt sich wie eine sehr lange Zeit an. Es sind nur zwei Jahre – seit ich zuletzt auf Tour war. Aber es fühlt sich wirklich wie eine lange Zeit an. (Lachen)"
    "In Berlin wird eine Menge elektronische Musik gemacht und viele Leute arbeiten dadurch alleine an ihrer Musik. Diese Art des Arbeitens habe ich quasi adaptiert – auch wenn ich keine elektronische Musik mache. Außerdem passt es auch sehr gut zu meinem Temperament und meinem Charakter."
    Auf der Suche nach einem gläsernen Klang – Die Musikerin Agnes Obel. Eine Sendung von Constanze Pilaski.
    Musik "Riverside" (Aventine)
    Agnes Obel in der Johanniskirche Düsseldorf bleuchtet mit Mustern
    Agnes Obel beim New Fall Festival in Düsseldorf (Markus Luigs)
    Die Johanniskirche in Düsseldorf, Ende Oktober 2016: In einem kühlen Büro im ersten Stock sitzt Agnes Obel bereit zum Interview. Ihre blonden Haare sind locker zusammengebunden. In ihrem übergroßen grauen Strickpullover scheint die schmale Person fast zu versinken. Vor ihr eine Tasse Ingwer-Tee. Sie ist erkältet, bangt um ihre Stimme. An diesem Abend wird sie beim New Fall Festival das zweite Konzert mit ihrem neuen Album "Citizen of Glass" spielen. Die Dänin gilt als zurückhaltend und scheu. Doch im Interview nimmt sie sich Zeit, schließt nach Ablauf der vereinbarten Zeit die Tür ab: Wir können länger sprechen, ohne von der Tourmanagerin gestört zu werden. Sie lacht viel. Und erzählt ganz entspannt über ihr Leben als Künstlerin.
    "Ich habe schon immer Musik gemacht, schon seitdem ich ein Kind war. Als Kind begann ich Klavier zu spielen und später dann auch in einigen Bands. Ich setzte mich mit dem Aufnehmen von Musik auseinander und verließ die Schule für eine Zeit nur um mich mit dem Aufnehmen von Musik zu befassen."
    "Eigentlich habe ich studiert, um es mir zu ermöglichen, Musik zu machen"
    In Agnes Obels Elternhaus wurde viel musiziert: Ihre Mutter spielte vor allem Klassische Musik und hielt sich an Partituren. Ihr Vater hingegen liebte Jazz und das Improvisieren. Aber auch Blues und Rock, die Rolling Stones, oder experimentellere Musik - etwa von Laurie Anderson begleiteten Obels Kindheit und Jugend. Auch wenn Musik für die 36-Jährige schon immer ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens war – ein Musik-Studium strebte sie nicht an. Sie begann in Dänemark Literatur- und Kulturwissenschaften zu studieren.
    "Eigentlich habe ich studiert, um es mir zu ermöglichen, Musik zu machen. Natürlich habe ich studieren geliebt, aber es war nie meine Hauptaufgabe. Ich wusste eigentlich gar nicht, wofür ich das Studium später verwenden sollte. Mir war schon zu einem ziemlich frühen Zeitpunkt klar, dass ich nur Musik machen wollte. In gewisser Weise war meine Musik meine Arbeit und das Studium mein Hobby. (Lachen)"
    Musik "Avenue" (Philharmonics)
    "Ich lebe nun seit sieben Jahren in Berlin Neukölln. Und ja, ich denke, es ist meine Heimat geworden. Wenn ich dahin zurückkomme, ich reise ja viel durch meine Arbeit – wenn ich dann zurückkomme, dann fühlt sich vor allem mein Kiez nach Zuhause an. Ich bin inzwischen so daran gewöhnt an diese sehr entspannte Stimmung von Berlin."
    Als Austauschstudentin kam Agnes Obel nach Berlin, studierte an der Humboldt Universität und blieb. Dänemark zu verlassen, war für sie als Künstlerin ein wichtiger Schritt. So konnte sie einen gewissen Erwartungsdruck hinter sich lassen.
    "Keiner konnte sehen, dass ich gar nicht so viel studierte in Berlin und eigentlich nur Musik machte. So konnte ich Ruhe finden, mich auf meinen eigenen Sound zu konzentrieren. Die Leute, mit denen ich in Dänemark Musik gemacht hatte, waren alle so professionell. Es ging um Plattenverträge und wie man im Radio gespielt werden konnte. Es war wichtig für mich, von dieser Sichtweise auf Musik wegzukommen und eher eine innere Motivation fürs Musikmachen zu finden. Und herauszufinden, warum und wie meine Stimme musikalisch war. Dafür war Berlin perfekt. Wirklich perfekt. In Berlin wird eine Menge elektronische Musik gemacht und viele Leute arbeiten dadurch alleine an ihrer Musik. Diese Art des Arbeitens habe ich quasi adaptiert – auch wenn ich keine elektronische Musik mache. Außerdem passt es auch sehr gut zu meinem Temperament und meinem Charakter."
    Musik "Louretta" (Philharmonics)
    "Just So" und der pinke Konzern
    Ihre ersten Lieder hatte Obel eigentlich nur für sich aufgenommen – ohne Plattenvertrag. Doch dann wurde 2009 ein deutsches Telekommunikationsunternehmen auf sie aufmerksam. Und verwendete einige Takte ihres Songs "Just So" für einen Werbe-Spot. Das war der Start für Obel als Solokünstlerin. Im Interview kräuselt sie die Stirn bei der Frage nach "Just So" und dem pinken Konzern.
    "Ja, da gab es viel Ärger und ich konnte den Song erst nicht mit in mein Album 'Philharmonics' aufnehmen. Ich bekam wirklich eine sehr, sehr dunkle, traurige und kommerzielle Seite der Musikindustrie zu spüren. Aber ich habe auch viel daraus gelernt. Jedes Mal wenn der Werbespot erwähnt wird, ist es für mich wie ein Alptraum und ich denke: och nein, nicht schon wieder. Denn es war auch etwas, das ich bewältigen musste, damit ich mein erstes Album Philharmonics überhaupt veröffentlichen konnte. Es war nicht etwas, das mir geholfen hat. Es fühlte sich wie das Gegenteil an."
    Musik "Just So" (Philharmonics)
    Über sechseinhalb Millionen mal wurde das Video zu "Just So" inzwischen im Internet angeclickt. 2010 erschien der Titel neben elf weiteren auf Agnes Obels Debüt "Philharmonics". Darauf präsentierte sie sich mit ihrem in Berlin entwickelten Sound: eine Mischung aus Folk-Einflüssen, Klavieretüden und zugleich popmusikalischer Einfachheit. Melancholisch, gedämpft und sanft schmiegt sich Obels Stimme an ihre Kompositionen.Viele Instrumente waren damals für ihren Sound nicht nötig: Neben Cello und Harfe ist vor allem ihr Lieblingsinstrument das Klavier zu hören.
    Musik "On Powdered Ground" (Philharmonics)
    In ihrer dänischen Heimat erhielt die Musikerin für das Album "Philharmonics" fünf Mal Platin. Auch in Frankreich, Belgien und den Niederlanden war ihr Debüt ein Erfolg und kam in die Top Ten der Album-Charts. Der gleichnamige Titelsong ist düster, thematisiert den Gegenpol des Lebens: erzählt von Sterben und gewonnener Freiheit. Rhythmisch vorangetrieben wird das Stück "Philharmonics" vor allem durch ein ständig sich wiederholendes Klaviermotiv, das sich durch das ganze Stück zieht – typisch für Obels Liedstrukturen.
    Musik "Philharmonics" (Philharmonics)
    Drei Jahre nach ihrem Debüt – also 2013 - veröffentlichte Agnes Obel das Album "Aventine". Es wurde von Kritikern und Fans lang erwartet – und es enttäuschte nicht. Ihrer melancholischen Grundstimmung blieb Obel auch auf ihrem zweiten Studioalbum treu. Doch setzte sie diesmal nicht nur auf ihre Stimme und Klavier, sondern erweiterte ihre Lieder mit komplexeren Streicherarrangements. Intim bleibt die Musikerin trotzdem: "Aventine" nahm sie in ihrer Berliner Wohnung auf – unterstützt lediglich von Musikern am Cello, an Geige und Bratsche.
    Mit "Aventine" kreierte sie Klanglandschaften - düster und hoffnungsvoll zugleich. Das erinnert an den Komponisten und Pianisten Ludovico Einaudi, aber auch an zwei Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts: Claude Debussy und Erik Satie. Trotz dieser Referenzen bleiben die elf Stücke ihres zweiten Albums vor allem eins: Popmusik - eben nur etwas abseits des Mainstreams.
    Musik "Fuel to Fire" (Aventine)
    Den eigenen Klang gefunden, sich mit dem zweiten Album als Singer-Songwriterin etabliert, Erfolg bei Kritik wie Publikum – es lief nach zwei Studioalben gut für Obel. Dennoch wurde ihr 2014 auf der Tour mit "Aventine" bewusst: Beim nächsten Album will sie etwas verändern.
    Agens Obel im Porträt
    Die Songs auf "Citizen of Glass" kreisen vor allem um die Frage, ob es gut ist, dass wir heute so viel von uns preisgeben. (Alex Brüel Flagstad)
    Obels drittes Album und der Gläserne Mensch
    "Ich wollte fokussierter arbeiten. Ich hörte mehr zeitgenössische Musik und auch klassische Musik, in der oft mit einem Titel oder Thema musikalisch gearbeitet wird. Und das leitet dann den ganzen Klang und das ganze Werk. Ich habe gedacht, vielleicht kann ich das auch in meinem kleinen Universum machen: Irgendwie herausfinden, ob mich eine Leitlinie oder ein Titel zu neuen Dingen, zu anderen Formen der Instrumentierung anstoßen kann. Schließlich las ich von Überwachung und über all diese NSA-Enthüllungen, die Edward Snowden aufgedeckt hat."
    Sie verfolgte die Ereignisse um den US-amerikanischen Whistleblower Snowden. Und stieß in einem Zeitungsartikel auf das Konzept des Gläsernen Menschen. Ein Begriff, der auf das Deutsche Hygiene Museum in Dresden zurückgeht. Dort wurden um 1930 durchsichtige Menschenmodelle hergestellt und als Gläserne Menschen bezeichnet. Heute steht der Begriff vor allem als Metapher für Datenschutz. Dabei schwingt natürlich auch Kritik mit: am Staat, der seine Bürger durchleuchtet und überwacht. Ein ganz aktuelles Thema also, das Agnes Obels sich zu eigen machte und damit ihr klangliches Universum erweitern sollte. Das dritte Album stand fortan unter dem Titel "Citizen of Glass":
    "Es steckte in meinem Kopf. Ich dachte das ist so wunderschön. Ich konnte fühlen, dass ich genau wusste wie es ist ein Gläserner Mensch zu sein. Es ist so passend für uns in dieser Zeit, dass dieses harte Material gleichzeitig so fragil ist. Ich habe viel in dem Glas-Thema erkannt."
    Musik "Citizen of Glass" (Citizen of Glass)
    Die Songs auf "Citizen of Glass" kreisen vor allem um die Frage, ob es gut ist, dass wir heute so viel von uns preisgeben – so viel Privates veröffentlichen im Internet und in den Sozialen Medien. Verschiedene Szenarien spielt sie mit den zehn Songs auf "Citizen of Glass" durch. In "Trojan Horses" nimmt sie die Perspektive eines gläsernen Menschen ein. Die sozialen Medien und die neuen Technologien sind zwar reizvoll und harmlos – sie können aber auch ein unheilvolles Geschenk sein – wie das hölzerne Pferd vor den Toren Trojas.
    "Ich hoffe, andere können das Gefühl der beängstigenden Offenheit nachempfinden, wenn man etwas online oder auf eine andere Weise offenbart. Die Sensation, die dabei entsteht, von anderen beobachtet zu werden und auch eben von einem selbst - von außen. Und wie sich das dann anfühlt, dieses kalte Gefühl und dass man sich manchmal wirklich paranoid dabei fühlen kann. Das kann allerdings auch berauschend sein. Ich wollte all diese Emotionen in den Song packen."
    Musik "Trojan Horses" (Citizen of Glass)
    "Ich suchte nach Klängen, die eine Art von Spannung haben. Ich habe zum Beispiel das Klavier präpariert. Außerdem habe ich viel Perkussives sowie Unbehagliches verwendet – Klänge, die irgendwie auch auseinanderfallen. In meinem Klavierspiel neige ich zu Arpeggien. Ich bin eben durch die schönen, impressionistischen Klavierstücke geprägt, die ich als Kind spielte. Und mit dem Klavier, konnte ich den Klang, den ich mir vorstellte, nicht erreichen. Ich musste andere Instrumente für den gläsernen Klang finden."
    Ein Klang schön und zerbrechlich wie Glas
    Ihr geliebtes Klavier passte also nicht so recht zu dem gefunden Glas-Thema. Zu warm im Klang ist es für ihre musikalische Intention: für einen Klang der zwar schön sein sollte, aber gleichzeitig zerbrechlich wie Glas. Agnes Obel suchte nach anderen Tasteninstrumenten: Sie recherchierte und besuchte ein Instrumenten-Museum. Und stieß auf die Celesta.
    "Eine Celesta ist ein Instrument, das für mich ein bisschen wie Glas klingt. Die Hämmer eines Pianos schlagen auf Saiten, aber bei einer Celesta sind es Stahlplatten. Wie bei einem Vibrafon, aber die Mechanik ist innenliegend. Es klingt sehr hoch und wunderschön – ein bisschen wie ein Glockenspiel."
    Auf ihrer pinken Celesta hat Obel das eben gehörte Stück "Trojan Horses" geschrieben. Nicht wie bisher auf dem Klavier, sondern auf der Celesta zu komponieren, hat sie beeinflusst: zu mehr Lautstärke und zu mehr Wechsel in der Dynamik. Außerdem entdeckte sie: das Cembalo und die kleinere Bauform des Cembalos: das Spinett. Beides Instrumente, bei denen die Saiten im Unterschied zum Klavier gezupft werden. Cembalo und Spinett zeichnen sich durch einen hellen Klang aus und sind somit wie gemacht für Obels Glas-Thema. Selten kommen solche Instrumente in der Popmusik zum Einsatz, sie klingen ungewohnt und experimentell.
    Musik "Stretch Your Eyes" (Citizen of Glass)
    Celesta, Cembalo, Spinett: Noch seltener gespielt wird das 1930 entwickelte Trautonium. Originalinstrumente existieren nur wenige. Die Musikerin ergatterte einen Nachbau aus Bayern. Das elektronische Instrument ist ein Vorläufer vom Synthesizer. Allerdings wird das Trautonium nicht über Tasten gespielt, sondern über eine Saite, die auf eine Metallschiene gedrückt wird. Gar nicht so einfach zu spielen - Obel verrät, dass sie es bis heute nicht wirklich beherrscht. Auch wenn das Trautonium für die Tour ungeeignet ist – zu schwer und zerbrechlich – im Klang ist es für Obel faszinierend.
    "Man kann wirklich die Klänge enorm verändern, weil es ein Synthesizer ist. Das bedeutet, dass eine Note durch Oszillatoren verändert werden kann. Für mich klingt es mitunter nach Horn und Violine und sogar wie Stimmen – aber es hat immer diesen metallischen Klang (lachen)."
    Auf "Citizen of Glass" erklingt das Trautonium vor allem für hohe Töne und in Kombination mit Streichern. So auch in dem Song "Stretch your eyes":
    Musik "Stretch your eyes" (Citizen of Glass)
    "Ich habe eine Gedicht-Sammlung gelesen, die von homosexuellen Autoren verfasst wurde. Zu ihren Lebzeiten wurden die Autoren nicht akzeptiert. Ihre Liebesgedichte sind so kraftvoll, weil sie ihre Liebe geheim halten mussten. Über diese geheimen Liebesaffären habe ich nachgedacht, als ich den Song "Familiar" schrieb. Und darüber wie die Geheimnisse so groß wurden und sich zu Geistern in ihrem Leben verwandelten. Und dann habe ich versucht, wie ein Geist zu singen."
    Agnes Obel am Tasteninstrument
    Agnes Obel singt auf "Citizen of Glass" mit einer androgynen Version ihrer selbst. (Markus Luigs)
    Agens Obel im Duett mit sich selbst
    In dem Stück "Familiar" irritiert Agnes Obel mit dieser Stimme. Unweigerlich fragt man sich: Wer singt da?
    "Yeah it's me!"
    Im Studio hat sie ihre Stimme doppelt aufgenommen und mit einer Software um eine Quinte herunter gestimmt. Durch diesen Kniff singt sie im Duett mit einer androgynen Version ihrer selbst – unheimlich und bezaubernd zugleich. Zusätzlich beschwört sie mit rhythmischem Atmen und geflüsterten Einwürfen die geisterhafte Stimmung.
    "Ich wollte wirklich klingen, als ob man im Kopf oder im Körper von jemandem ist. Man kann den Körper von jemandem fühlen, wenn man jemanden atmen oder dessen Stimme hört. Deswegen mag ich auch Radio. Die Stimmen von Menschen zu hören, das hat etwas sehr Intimes. Derselbe Effekt kann in Musik verwendet werden, wenn man die Atmung und diese Art von intimen Klängen, die wir produzieren, benutzt."
    Musik "Familiar" (Citizen of Glass)
    "Familiar" ist das dichteste und spannungsvollste Stück auf "Citzien of Glass". Es klingt nach Unruhe und Unbehagen. Anders als auf den zwei Vorgängeralben: vielschichtiger im Arrangement und wechselhafter in der Dynamik. Mit dem Song "Golden Green" nimmt Obel eine weitere Perspektive ein, sie betrachtet den Gläsernen Mensch von außen. In den sozialen Netzwerken stellen wir oft eine optimierte Variante unserer Realität dar. Der Blick auf eben solche fantastischen Momente andere Menschen kann für Obel Neid auslösen.
    "Golden Green ist ein Song über Neid. Ich habe zuvor schon eine Menge Songs geschrieben, in denen ich aus einer Sehnsuchtsperspektive geschrieben habe. Dann interessierte mich das Gefühl von Neid, weil Neid ebenfalls ein Gefühl von Sehnsucht ist, aber eine negative Sehnsucht. Neid kann nur existieren, wenn man eine große Fantasie hat, weil man nur wenige Informationen hat und die Fantasie den Rest auffüllt."
    Im spielerischen "Golden Green" transportiert die Dänin also Verzweiflung, die aus dem Neid auf andere resultiert. Die Musikerin setzt wieder auf perkussives Atmen und lässt ihre Gesangsstimme in ungewohnte Höhen steigen: Sie singt im Falsett, also mit Kopfstimme.
    Musik "Golden Green" (Citizen of Glass)
    "Ich habe auch viel über die positiven Seiten von Geheimnissen nachgedacht. Das Positive von Geheimnissen ist, dass sie sich nach etwas Besonderem anfühlen – und sie gehören eben nur dir selbst. Ich verwende das auch, wenn ich Musik komponiere. Ich spiele für keinen, es ist nur für mich. Mein kleines Geheimnis."
    "Da fühlte ich mich wirklich wie aus Glas"
    Geheimnisse bergen für Agnes Obel eine Kraft. Auch sie möchte kein Gläserner Mensch sein und von sich zu viel preis geben. Doch mit jedem neuen Album wirft sie wieder die Werbetrommel an und tritt in den Fokus der Öffentlichkeit. Das gehört zum Berufsleben von Musikern dazu. Obel ist dann wieder präsent auf Facebook, Twitter, Instagram und gibt Interviews. Kein Problem, versichert sie. Das passiere ja nur ungefähr alle drei Jahre, wenn sie wieder ein neues Album veröffentliche. Bei ihren Konzerten ist es aber anders. So auch in der Johanneskirche Düsseldorf:
    "Da fühlte ich mich wirklich wie aus Glas. Ich fühlte mich als könnte das Publikum in mein Innerstes gucken. Ich glaube, das kommt, weil ich wirklich mich selbst als Material und in gewisser Weise meine Verletzlichkeit, meine Vergangenheit oder was auch immer verwende. Und das sind Dinge, die ich normalerweise noch nicht mal meinen Freunden im alltäglichen Leben zeige, aber in jedem meiner Songs nutze. Und dann fühle ich mich auf eine Weise ungeschützt, wenn ich auftrete. Es ist immer noch für mich eine absurde Sache, dass ich vor so vielen Menschen spiele. Wenn ich wirklich darüber nachdenken würde, dann würde ich derart durchdrehen, dass ich nicht auftreten könnte. Also darf ich nicht zu viel darüber nachdenken. Das ist mein Trick."
    Musik "Mary" (Citizen of Glass)
    "Natürlich versuche ich, die Liedtexte zu singen und verbringe viel Zeit mit dem Schreiben der Liedtexte. Aber Wörter verändern sich in gewisser Weise, wenn sie gesungen werden. Und dessen bin ich mir bewusst: der innere Rhythmus und die Interaktion mit Instrumenten verändern die Wörter. Ich werde - wenn es für einen Song wichtig ist – ich werde wirklich nuscheln (Lachen) und nicht alles wirklich klar aussprechen. Wenn es für den Puls eines Songs wichtig ist."
    Im Gegensatz zu ihrer vielschichtigen Musik, bleiben ihre Texte vage, bieten viel Interpretationsspielraum. Auch wenn sie mit "Citizen of Glass" Kritik äußert, ein erhobener Zeigefinger oder gar Rebellion ist nicht ihre Attitüde. Das wäre für die zurückhaltende Musikerin zu aufdringlich. Am Ende ist es eben doch Musik, und Obels Klanglandschaften sollen vor allem eins transportieren: Gefühl.
    "Mich interessiert Musik, bei der man das Gefühl hat, in den Kopf desjenigen zu blicken, der sie gemacht hat. Nach meiner Erfahrung kann man das nur erreichen, wenn man es selbst tut."
    Obel hat für "Citizen of Glass" nicht nur alle Songs komponiert, sondern auch den Aufnahmeprozess im Alleingang vollzogen. Aufgenommen, abgemischt und produziert hat sie das Album in ihrem kleinen Studio in Neukölln und in den BrandNewMusic-Studios in Berlin. Alles in ihrer Hand und unter ihrer Kontrolle.
    "Ich bewundere die handgemachte Kunst. Für eine tiefere musikalische Erfahrung erwarte ich mehr von einer Person, die die Musik geschrieben hat: Ich möchte die ganze Geschichte erzählt bekommen und nicht nur mit Wörtern, sondern auch mit dem Klang. Ich habe versucht, diesem Ideal selbst gerecht zu werden."
    Musik "Red Virgin Soil" Instrumental (Citizen of Glass)
    Blick von oben in den Kirchenraum
    Die Johanniskirche beim Konzert von Agnes Obel (Markus Luigs)
    Persönliche Auseinandersetzung mit dem Gläsernen Menschen
    Mit "Citizen of Glass" ist ihr das gelungen: Agnes Obel hat sich auf unterschiedliche Weisen mit dem Thema des Gläsernen Menschen auseinandergesetzt. Sie hat damit ihre persönliche Sicht erzählt und dafür einen ganz eigenen gläsernen Klang gefunden. Einen Klang, der fragil und unbequem ist, aber auch ästhetischen Wohlklang und Hoffnung in sich trägt.
    Im Vergleich zu ihren beiden Vorgängeralben hat sich Obel nicht neu erfunden. Ihre Musik bleibt vor allem intensiv und melancholisch. Doch sind ihre Lieder vielschichtiger und dichter geworden, haben zugunsten von Intensität ein wenig von ihrer vorherigen popmusikalischen Leichtigkeit verloren. Auch wenn Obel betont, dass sie keine elektronische Musik mache, hat sie doch einen Schritt in diese Richtung genommen: Sie hat Samples genutzt, ihre Stimme manipuliert und die Instrumentierung ihrer Musik um elektroakustische Instrumente erweitert.
    Um ihren komplexen gläsernen Klang bei Konzerten verwirklichen zu können, muss sie auf das sogenannte Live-Looping zurückgreifen. Das bedeutet, sie nimmt während eines Konzertes etwas auf, um es sofort wieder elektronisch abzuspielen. Das gelingt Obel beim Auftritt in der Johanniskirche bestens. Unterstützt wird sie dabei von ihrer rein weiblichen Band - bestehend aus zwei Cellistinnen und einer Perkussionistin. Die jungen Musikerinnen wechseln ohne Mühe die Instrumente und glänzen auch beim mehrstimmigen Gesang.
    Nicht nur ein besonderer Abend für Agnes Obel, sondern auch für das Publikum: Der eigentlich weiße Kirchenraum wird durch aufwendige Beleuchtung mit abstrakten Mustern bestrahlt und mal ganz in rot oder blau getüncht. Das Publikum lässt sich auf Obels Sphären ein, lauscht andächtig und taucht ab in ihren gläsernen Klang.
    Derzeit tourt Agnes Obel noch durch Kanada und die USA. Ab Mai ist sie wieder in Europa und spielt unter anderem in Köln, Frankfurt und Hamburg.
    Sie hörten "Rock et cetera": Die Musikerin Agnes Obel – Auf der Suche nach einem gläsernen Klang
    Eine Sendung von Constanze Pilaski, Technik: Alexis Fritz, Redaktion: Tim Schauen
    Musik "It's Happening Again" (Citizen of Glass)