Risikogesellschaft, Informationsgesellschaft, Freizeitgesellschaft, Weltgesellschaft: Auf die Frage, welche Gesellschaft die unsere ist, erhalten wir zur Zeit ganz verschiedene Antworten. Dem Medienexperten erscheint das Soziale als Cyber Society, dem Ökonomen als Global Society, dem Erforscher der Popkultur als Spaßgesellschaft, den Nachfolgern Foucaults als machtdurchsetzte Kontrollgesellschaft und dem Feminismus vielleicht als mehr oder minder unemanzipiert. Alle diese Thesen zur Gesellschaft schließen an unsere Alltagserfahrung an und haben etwas für sich: Jeder kennt jemanden, dem das Internet zum Lebensinhalt geworden ist, dessen Aktiendepot leidet, weil Alan Greenspan den Leitzins erhöht, der im Fernsehpublikum nichts anders mehr sehen kann als auf Knopfdruck lachende Automaten oder der hinter jeder scheinbar freiwilligen Handlung das Ergebnis einer unsichtbaren Disziplinierung vermutet.
So evident und lebensnah dies auch sein mag vermutlich würde dennoch niemand auf die Idee kommen, zu behaupten, die Erfahrungen mit einer global operierenden Wirtschaft schließe beispielsweise Erlebnisse mit einer männerdominierten Arbeitswelt oder mit einer vom Geständniszwang geprägten Intimbeziehung aus. Aber gerade dieser Ausschluss ist symptomatisch für die zitierten Ansätze, die ihre wie immer guten und begründeten Beobachtungen einzelner Sektoren oder Diskurse der Gesellschaft zu einer Generalthese hochrechnen, der gegenüber die Bedeutung aller anderen Bereiche heruntergespielt oder sogar völlig ignoriert wird: der Theoretiker der ökonomischen Globalisierung interessiert sich nicht für Frauenfragen; oder die Beschäftigung mit der Spaßkultur der Freizeitgesellschaft scheint den gleichzeitigen Blick auf Regionen der Weltgesellschaft auszuschließen, in denen Arbeit und Freizeit noch nicht einmal unterschieden werden. Man kann als Soziologe diesem reichhaltigen Angebot etwas entnehmen, was zweifellos nicht intendiert ist, nämlich den Verdacht, dass es an einem einheitlichen Gesellschaftsbegriff fehlt, der in unser Welt alles enthält, was sozial ist: Frauenfragen und Aktienkurse, Stammesriten und postmoderne Philosophie, weltweite High-Speed-Kommunikation und folkloristische Regionalismen.
Wenn man diesen inklusiven Anspruch an eine Gesellschaftstheorie erhebt, dann bricht man abrupt mit der Geschichte des Fachs, denn es werden alle Ansätze ausgeschlossen, die mit traditionellen Gegenüberstellungen arbeiten nach dem Muster »Kirche und Gesellschaft«, »Staat und Gesellschaft«, »Wirtschaft und Gesellschaft« oder auch »Kunst und Gesellschaft«. Denn diese Titel zeigen die Überzeugung an, Kirche oder Staat seien kein Teil der Gesellschaft, sondern ihr entgegenzusetzen, ein Gedanke, der bei Klassikern von Max Weber bis Theodor Adorno anzutreffen ist und mit dieser großen Tradition bis heute weiterlebt. Ein Vorteil dieser Unterscheidung lag darin, dass man einen Standpunkt gewinnen konnte, von dem aus man glaubte, die Gesellschaft kritisieren zu können, ohne dass dieser Standpunkt selbst Teil der Gesellschaft und damit gleichfalls kritikwürdig wäre. Nach diesem Modell haben Adorno seine kritische Ästhetik und Ernst Jünger oder Carl Schmitt ihre Attacken auf die bürgerliche Gesellschaft formuliert. Noch Jürgen Habermas hat nach diesem Muster die sogenannte Lebenswelt den verdinglichten und entfremdeten Systemen der Gesellschaft entgegengestellt. Auch der Kirche wurde eine »kritische« Haltung zur Gesellschaft zugetraut, ganz als ob sie selbst nicht ein integraler Teil wäre, und dementsprechend wurde sie dann dort angegriffen, wo ihr diese Kritik misslang. Man pflegte die Vorstellung, es gäbe einen von der Gesellschaft unbefleckten Raum, von dem aus sich alles zum Besseren wenden oder doch das Schlimme objektiv benennen ließe. Aus dieser Vorstellung konnten bestimmte Gegensätze wie etwa der von Kunst und Markt unmittelbar abgeleitet werden: als Sprungbrett der Gesellschaftskritik konnte das Kunstwerk folglich nur dann taugen, wenn man seinen Warencharakter ausblendet, denn andernfalls wäre es ja als Ware Teil der Gesellschaft und nicht ihr reines Außen. Die totalitäre Variante dieses Schemas funktioniert sozusagen umgekehrt: man verwies zum Beispiel die Kirche auf ihre Position außerhalb der Gesellschaft und verbat sich jedwede Einmischung in Angelegenheiten jenes Staates, der die Gesellschaft organisierte. Autonomie, etwa die Autonomie der Kirche oder der Kunst, konnte man sich offenbar nur außerhalb der Gesellschaft vorstellen. Der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann sieht in dieser Tradition einen jahrhundertealten Denkfehler:
"Aus verständlichen Gründen haben Beschreibungen der modernen Gesellschaft spektakuläre Merkmale bevorzugt, die sich plakativ verwenden ließen, die eben deshalb aber nur Einzelphänomene ins Auge fassen konnten. Die Komplexität des Gesamtsystems lässt sich nicht anders als durch gezielte Reduktion im System zugänglich machen. Der bis vor kurzem übliche Ausweg war, auf Merkmale eines der Funktionssysteme abzustellen und dieses dann als ausschlaggebend, als dominant, als formbestimmend zu unterstellen. Das gilt vor allem für Beschreibungen wie Kapitalismus (Geldwirtschaft), Industrie (marktorientierte Produktion) oder wissenschaftsbasierte Technik. Auch die ständig wiederkehrenden Bemühungen, erneut auf Politik in der Form des nationalen Staates abzustellen, entsprechen diesem Muster. Neuerdings kommen jedoch Beschreibungen hervor, die sich dieser Beschränkung auf einzelne Funktionssysteme nicht mehr fügen, sondern statt dessen Aspekte von Kommunikation hervorheben und für die Analyse historischer Differenzen ausnutzen. Ich denke an Schlagworte wie »Informationsgesellschaft« oder »Risikogesellschaft«. Auch diese Formeln lassen sich [...] dazu verleiten, spektakuläre Einzelphänomene für repräsentativ zu halten."
Dieses Zitat stammt aus dem letzten Werk, das zu Luhmanns Lebzeiten mit dem seltsam anmutenden Titel "Die Gesellschaft der Gesellschaft" erschienen ist. Dieser sperrige Titel: "Die Gesellschaft der Gesellschaft" verweist auf die Überzeugung Luhmanns, dass jede Theorie der Gesellschaft selbst ein Teil der Gesellschaft ist und im Medium der Soziologie ein Modell ihrer selbst entwirft. Es geht also nicht um die Gesellschaft an sich, die man von außen in Ruhe beobachten und beschreiben könnte, denn wer könnte diesen point of view einnehmen außer vielleicht ein Gott; vielmehr geht es um ihre Selbstbeobachtung mittels Soziologie. Die Gesellschaft wird von einer Soziologie beschrieben, die sich als Teil der Gesellschaft versteht und daher beispielsweise berücksichtigen muss, dass sie selbst in ihrem Objekt vorkommt und ihre Beobachtungen Konsequenzen haben können, die die Grenzen des Fachs sprengen. Man könnte dieses Verhältnis vielleicht mit einer Analogie verdeutlichen: die Soziologie vollzieht mit Luhmann nach, was die Physik schon hundert Jahre zuvor in Formeln wie der Heisenbergschen Unschärferelation oder der Relativitätstheorie formuliert hat: dass nämlich die Wissenschaft keine unbeweglichen, ewigen Objekte untersucht, sondern veränderliche Konstrukte, deren Veränderung unter anderem davon abhängt, dass und wie sie untersucht werden. Der Glaube an einen archimedischen Punkt, von dem aus die Welt, wie sie ist, zu analysieren wäre, wird damit aufgegeben zugunsten der Annahme einer unhintergehbaren Perspektivität aller Beobachtungen. Diese Haltung wird neuerdings »Konstruktivismus« genannt.
In dem Wissen, dass ihre soziologischen Beschreibungen der Gesellschaft standpunktabhängig sind, also auch anders ausfallen könnten, wenn eine andere Perspektive gewählt würde, versteht sich die Systemtheorie als universale Theorie. Sie beobachtet nämlich nicht weniger als alles, sofern es nur sozial ist: Wirtschaft und Kunst, Religion und Wissenschaft, Recht und Erziehung. Dieser Anspruch hat sich in so programmatischen Titeln Luhmanns wie "Die Wissenschaft der Gesellschaft", "Das Recht der Gesellschaft", "Die Wirtschaft der Gesellschaft" oder auch "Die Kunst der Gesellschaft" niedergeschlagen. Vor kurzem sind zwei Werke aus dem Nachlass hinzugekommen. Zum 50. Geburtstag des Suhrkamp Verlages erschienenen zwei Jahre nach Luhmanns Tod "Die Religion der Gesellschaft" und "Die Politik der Gesellschaft". Was man den Titeln dieser kleinen Auswahl von Publikationen ansehen kann, ist der Verzicht auf hierarchische und exklusive Beschreibungen der Gesellschaft. Dass es eine Wissenschaft der Gesellschaft gibt, schließt nicht aus, dass es auch Recht, Kunst, Politik und Religion gibt; zudem herrscht zwischen diesen sozialen Leistungsbezirken kein Verhältnis der Unter- oder Überordnung, sondern der wechselseitigen Beobachtung. Allesamt sind sie Systeme der Gesellschaft, die eine bestimmte Funktion verrichten, ohne deren Versorgung die Gesellschaft nicht die wäre, die wir kennen. Gerade weil die Wirtschaft sich auf die Verteilung knapper Güter konzentriert, werden im Rechtssystem Streitfälle ohne Blick auf die ökonomischen Verhältnisse der Parteien gefällt, sondern mit Blick auf die Rechtslage. Man kann Urteile nicht kaufen, so wie man Börsengewinne nicht einklagen kann:
"Funktionale Differenzierung steigert wechselseitige Unabhängigkeit und Abhängigkeit der Funktionssysteme miteinander [...]; denn jedes Funktionssystem ist in der Erfüllung der eigenen Funktion autonom, aber zugleich davon abhängig, dass die anderen Funktionssysteme ihre jeweiligen Funktionen auf adäquatem Leistungsniveau erfüllen."
So produziert etwa die Wissenschaft Forschungsergebnisse, die von der Wirtschaft profitabel verwendet werden können, aber weder entscheidet die Wirtschaft darüber, wann wissenschaftliche Erkenntnisse als wahr oder falsch zu gelten haben, sondern allein die Programme der Wissenschaft, noch führen Forschungen deshalb zu plausiblen Ergebnissen, weil sie von Unternehmen finanziert werden. Ohne dass die Systemtheorie behaupten würde, die Forschung käme ohne Geld aus, behauptet sie dennoch die operative Autonomie der Wissenschaft. Es ist dies eine Autonomie in der Gesellschaft, nicht außerhalb.
Nichtsdestotrotz ist es typisch für die Innensicht oder Selbstbeschreibung dieser autonomen Leistungsbezirke, dass sie sich selbst für wichtiger halten als ihre Umwelt, die Politik für bedeutender als die Wirtschaft, die Kunst für essentieller als die Wissenschaft oder die Religion für fundamentaler als das Recht oder umgekehrt. Und auch die Soziologie als Teil der Wissenschaft glaubt hier zu angemesseneren Beschreibungen zu gelangen als andere, wenn sie von der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Sozialsysteme ausgeht aber auch dies ist natürlich nur eine wissenschaftliche Meinung, die ihre Plausibilitäten in der Soziologie findet und nicht unbedingt in Politik oder Religion. Innerhalb der Wissenschaft aber will die Systemtheorie ihre Überzeugung als plausibel durchsetzen, dass Selbstbeschränkungen der Theorie auf Aspekte, wie sie denn in Arbeiten zur »Informationsgesellschaft« oder »Risikogesellschaft« zum Ausdruck kommen, unnötige Simplifizierungen sind, die es zugunsten einer Theorie zu überwinden gilt, der nichts Soziales fremd ist.
Liest man nun vor diesem Hintergrund die neuen Studien zur Religion und Politik der Gesellschaft, dann wird man zumindest von einigen Kapiteln kaum überrascht: in beiden Büchern geht es darum aufzuzeigen, was das Allgemeine und was das Spezielle an diesen Funktionssystemen der Gesellschaft ist. Religion und Politik gelten genau wie schon Kunst, Wissenschaft, Erziehung, Recht und Wirtschaft aus soziologischer Sicht gleichermaßen als soziale Systeme mit Funktion, Code, Medium und Programm. Sie sind also ein Teil der Gesellschaft, zugleich aber sind sie innerhalb der Gesellschaft von anderen Formen der Kommunikation klar zu unterscheiden. Auch wenn in beiden Systemen an Wunder geglaubt wird: Religion ist nicht Politik.
Luhmann ist der Auffassung, dass nicht nur die Systemtheorie Religion und Politik unterscheiden können muss, sondern vor allem die Systeme selber ihre eigenen Operationen von anderen zu differenzieren vermögen, die Religion also religiöse und die Politik politische Kommunikation erkennen und alles andere ihrer Umwelt zuschlagen. Andernfalls, so lautet das zentrale Argument, würde das System eigene Zustände ständig mit denen der Umwelt verwechseln und damit sein Überleben riskieren. Dies leuchtet im Fall psychischer Systeme unmittelbar ein: wenn sich jemand einredet, er würde das Wetter beherrschen oder könne willkürlich Früchte wachsen lassen, dann verwechselt er eigene Zustände mit denen seiner Umwelt: ohne Hilfe würde er verhungern. Man würde wohl auch nicht auf den Gedanken verfallen, ein Computer könne seine Operationen über das Netz seiner elektronischen Schaltungen hinaus ausdehnen, zum Beispiel auf Fahrstühle, elektrische Fensterläden oder Türen, obwohl die an sein Netz gar nicht angeschlossen sind; und tut man es doch, schreibt man das Drehbuch für einen Horrorfilm. Die gleiche gesunde Vernunft ist aber in der Gesellschaftstheorie nicht immer zuhause, und gegen die systemtheoretische Beobachtung einer strikten Trennung der operativen Autonomie der Funktionssysteme wurde etwa eingewendet, sie verwandele soziale Bereiche in fensterlose Monaden. Diese Einschätzung kann zumal auf Zustimmung in den politischen Organisationen rechnen, denn welcher Politiker möchte sich schon erklären lassen, die Reichweite seiner Entscheidungen sei auf die politische Kommunikation begrenzt, er könne also keinesfalls bestimmen, was in Wirtschaft und Kunst, Umwelt und Wissenschaft, Erziehung und Religion zu geschehen habe. Luhmann betont, dass die verschiedenen Funktionssysteme ganz verschieden operieren und dies selbst dann, wenn die Selbstbeschreibung der Systeme dem widerspricht.
Wie sieht diese Selbstbeschreibung der Systeme denn aus? Sie geht vom genauen Gegenteil dessen aus, was Luhmann vorschlägt: jeder Priester, jeder Gläubige geht von der Wirkung seiner Gebete aus, so als könne eine Fürbitte den Verlauf der Krankheit ändern oder eine Seelenmesse den verlorenen Krieg wenden. Obwohl kaum ein Kranker und kaum ein Soldat auf den Einsatz neuer Medikamente oder Waffen zugunsten eines Gebetes verzichten würde, beharrt die Religion selbst auf dem Glauben, sie können Berge versetzen. In der Politik scheint die Verwechslung eigener Operationen mit denen in der Umwelt noch weitaus verwurzelter zu sein, was kaum ein Wunder ist, denn jeden Tag hört, sieht oder liest man es in den Nachrichten: diese oder jene Partei oder Regierung, dieses oder jenes Ministerium, diese oder jene Verwaltung werde nun die Jugendarbeitslosigkeit senken, um den Rechtsradikalismus zu bekämpfen, die Atomreaktoren abschalten, um die Umwelt zu schützen, die Rechtschreibung reformieren, um die Bildung zu verbessern, die Steuern senken, um die Wirtschaft anzukurbeln, oder auch die Bundeswehr umrüsten, um den Weltfrieden zu sichern. Man hat sich daran gewöhnt, dass die Politik dies alles verkündet, und eine Folge dieser Gewöhnung mag sein, dass man auch anzunehmen bereit ist, gute Politik vermöchte dies alles auch. Immerhin gibt es ja entsprechende Ministerien. Was spricht also gegen die Unterstellung, dass die Wirtschaftspolitik der Wirtschaft dient, die Arbeitsmarktpolitik dem Arbeitsmarkt oder die Umweltpolitik der Umwelt?
Nehmen wir das Beispiel »Atomausstieg«. Die Bundesregierung hat ihn auf den Weg gebracht in der Annahme, dass der Verzicht auf Kernenergie der Umwelt nützt. Sie beschreibt ihre politische Entscheidung als eine Handlung, die ganz bestimmte Folgen außerhalb der Politik haben wird. Luhmann nennt diese Form der Zurechnung Skripts, die nach dem allgemeinen Muster »dies bewirkt das« formuliert werden. Diese Art der Kausalzurechnung ist für politische Organisationen typisch, weil sie so bestimmte Veränderungen in der Gesellschaft sich selbst als Erfolg zurechnen kann. So kann man behaupten, dass die Abschaltung der Kernkraftwerke unser Leben sicherer macht, weil die Natur nicht mehr durch radioaktive Strahlung belastet wird. Zugleich blendet das Skript aber andere Ursachen und Wirkungen aus. Etwa dass nun andere Kraftwerke benötigt werden, die die Umwelt auf andere Art verseuchen; oder auch, dass die Wirtschaft womöglich den Umweltschutz nur als Vorwand nimmt, um aus einer teuren Energieart auszusteigen und sich diesen ökonomisch sinnvollen Verzicht auch noch vom Steuerzahler finanzieren zu lassen. Ist aber ein Skript in den Massenmedien einmal gut eingeführt, kann man zwar innerhalb eines Skripts dafür oder dagegen sein, aber an dem kausalen Zusammenhang zwischen der politischen Entscheidung und der Folge in der Umwelt der Politik kommt kein Zweifel auf. Ein Beispiel Luhmanns ist der Euro, den man einführt mit der Begründung, dass dies zu einer stärkeren Integration Europas führe: man kann dann durchaus gegen die Einführung des Euros sein, wie etwa Großbritannien, muss sich jedoch dann vorwerfen lassen, an der europäischen Einigung kein Interesse zu haben: "Aber zuvor steht schon fest, dass [...] eine einheitliche Währung Europa stärker integrieren würde, obwohl, ja weil niemand genau weiß, was mit dem Schema Währung, Europa, Integration gemeint ist."
Luhmann meint nun, dass die politischen Organisationen gar nicht anders können, als derart ihre eigenen Operationen als Handlungen zu beschreiben, da sie nur so "das Medium der Kausalität benutzen können, um Selbstzurechnung zu betreiben. Das gilt, wohlgemerkt, nicht nur für die Darstellung der Motive und der Aussicht gestellten Folgen von Entscheidungen, die tatsächlich getroffen worden sind, sondern auch, ja mehr noch, für das dazugehörige Klagen über Politik, für Wünsche und Appelle, die ja alle so formuliert werden müssen, als ob das, was gefordert wird, wirksam geschehen könne."
Sowohl die Regierenden als auch die Opposition vermitteln nach dem Muster »dies bewirkt das« einen Eindruck von Machbarkeit, so als könne die Politik die Folgen ihrer Entscheidungen, die sie in eine überaus komplexe Welt hinauslässt, tatsächlich kontrollieren. Aber die Politik kann nur entscheiden ob dann Europa besser integriert wird oder die Umwelt besser geschützt wird und was dies überhaupt bedeutet, hängt nicht allein von ihr ab, sondern von zahllosen Faktoren, die von dem verwendeten Skript ausgeblendet werden.
"Was sind die Folgen? [...] Offenbar sorgt die Politik über derart limitierte Kausalzurechnungen dafür, dass sie immer etwas zu tun hat einerseits weil es ständig zu einander widersprechenden Akzentuierungen kommt, und andererseits, weil ständig unerwartete oder vielleicht auch nur: ausgeblendete Folgen eintreten, mit denen die Politik sich in der nächsten Umdrehung ihres Glücksrades zu befassen hat. [...] Und immer bleibt noch etwas [zu tun] übrig. Es gibt hinreichend Beweise erfolgreicher Aktivität; und wie bei einer Medizin, die nicht hilft, kann man immer noch sagen: es wäre ohne sie viel schlimmer geworden."
Man hört hier deutlich den Spott über eine Politik, die sich von der systemtheoretischen Einsicht in die Funktionsdifferenzierung der Gesellschaft nicht beeindrucken lässt und so handelt, als wäre sie für alles zuständig. Noch ein weiterer Seitenhieb sei hier zitiert:
"Solange die Politik in den politischen Wahlen nach guten und schlechten Resultaten beurteilt wird, darf es nicht erstaunen, wenn man politische Techniken findet, die es ermöglichen, das unkontrollierbare (für die Politik mehr oder weniger zufällige) Entstehen guter und schlechter Resultate zu überleben. Rechtfertigung und Heuchelei sind politische Optimierungsstrategien, mit denen man im Code gut/schlecht kommuniziert, ohne das ausgeschlossene Dritte, die Realität, kontrollieren zu können. Wie bei den Hopi-Indianern der Regentanz scheint das Reden von der Ankurbelung der Wirtschaft, Sicherung des Standorts Deutschland, Beschaffung von Arbeitsplätzen eine wichtige Funktion zu erfüllen; jedenfalls die, den Eindruck zu verbreiten, dass etwas getan wird und nicht einfach abgewartet wird, bis die Dinge sich von selber lösen, obwohl genau dies die immer noch beste Lösung ist, an die man derzeit denken kann."
Aber so lassen sich keine Wahlen gewinnen, es kommt also darauf an, Ziele vorzugeben, deren Erreichen zu behaupten und die Verantwortung dafür zu reklamieren. So gilt nun Kohl als Kanzler der Einheit, obwohl unzählige Faktoren dazu geführt haben, und Schröder kann sich damit brüsten, einen ökonomischen Aufschwung eingeleitet zu haben, obwohl die Gründe dafür zweifellos in der Wirtschaft zu suchen sind. Das Kommunikationsschema der Politik, die Differenz von Regierung und Opposition, hat zu einem Automatismus geführt, der die eine Seite alle Entscheidungen der anderen kritisieren lässt, jedenfalls aber die guten Ereignisse in der Realität als Folge eigenen Entscheidens für sich zu verbuchen sucht. So kommt es im politischen Alltag zu einer fast schematisch reproduzierten Opposition. Wenn man angesichts dieser sehr skeptischen Formulierungen nach Vorbildern suchen würde, könnte man Carl Schmitts berühmt-berüchtigtes Buch über die Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus von 1923 nennen. Auch Schmitt hatte den parteipolitischen Schematismus aufs Korn genommen, der das Interesse an der Sache mit ihrer wahlwirksamen Darstellung verwechselt hat, auch Schmitt kritisierte die Selbstüberschätzung des Staates, der sich mit seinen Entscheidungen in jeden sozialen Bereich einmischen zu müssen glaubte. Wenn Luhmann etwa schreibt: "Alles in allem gleicht der Wohlfahrtsstaat dem Versuch, die Kühe aufzublasen, um mehr Milch zu bekommen", dann lässt sich diese Anknüpfung an Schmitt kaum übersehen. Es entspräche nun einem beliebten Skript, darin Konservatismus zu sehen und deshalb abzulehnen eine Alternative dazu läge in der Möglichkeit, dass schon Schmitts frühe Kritik des Parteienstaates berechtigt gewesen und noch heute aktuell ist.
Alles in allem kann man sagen: die Religion kommt besser weg, nicht besser als die Politik, denn nicht die Politik der Gesellschaft wurde kritisiert, sondern die Allmachtsphantasien politischer Organisationen wie Staat und Partei. Die große Leistung der Studie zur Religion liegt darin, nachzuweisen, dass die religiöse Kommunikation auch in der modernen Gesellschaft eine Funktion erfüllt, die von keinem anderen Funktionssystem übernommen werden könnte. In einer von binären Codes strukturierten Welt ist die Religion für die Frage nach der Einheit des Codes zuständig. Funktionscodes wie etwa die Unterscheidungen von recht und unrecht, gut und böse, wahr und falsch werden nach ihrem Grund befragt, und wo alle anderen Akteure passen müssen, weil beispielsweise das Rechtssystem zwar mit der Unterscheidung von recht und unrecht alltäglich operiert, die Frage nach der Herkunft aber nicht einmal stellen kann, ohne an den Grundfesten des Rechts zu rütteln, gibt die Religion eine Antwort: Gott ist die Einheit der Differenz. Jede Ethik setzt die Unterscheidung von gut und böse voraus. Wenn man sie befragt, warum man überhaupt derart unterscheiden solle, gerät sie in ernsthafte Schwierigkeiten, die man den meisten Moralphilosophien ohne weiteres ansehen kann. Die Religion aber weicht dieser Frage nicht aus, sondern konzentriert sich darauf, sie zu stellen. An die Antwort freilich muss man glauben, glaubt man aber einmal, dann ist keine Widerlegung durch externe Kriterien möglich. Weder Logik, Weltraumfahrt und Quantenphysik, noch philologische Quellenkritik kann den Glauben erschüttern, und auch gegen historische Forschung ist der christliche Glaube an das Erscheinen Christi vollkommen immun.
Was man dagegen kritisieren kann, sind die Organisationen der Religion wie Kirchen, Klöster oder Konvente. Mit großem Missfallen beschreibt Luhmann die Reduktion der Religion auf gewisse Leistungen, etwa bei den rites de passages des Familienlebens, welche auch von allem religiösen Sinn befreit gern in Anspruch genommen werden. Die Aufaddierung von Religionsunterricht und Steuerbegünstigungen, Taufe und Konfirmation, Heiligabend und Beerdigung gebe in keiner Weise ein angemessenes Bild von der Bedeutung der Religion in der modernen Gesellschaft. In der Nachbesprechung der Gottesdienste am Heiligen Abend oder an Hochzeiten wird immer mehr Gewicht auf den Stil der Predigt, die Qualität des Chors und die Ausstattung der Kirche gelegt, ganz so, als spräche man über eine Oper oder einen Hollywood Film. Eine Kirche, die die Religion derart auf die Verrichtung von Dienstleistungen zuschneidet, ist allerdings auf dem besten Wege, die Säkularisierung der Gesellschaft zu vollenden. Dass diese Gesellschaft ohne Religion ärmer wäre, ist die Überzeugung, die Luhmanns Soziologie der Religion orientiert. Ob sie es ohne Parteien wäre, scheint weniger gewiss.
So evident und lebensnah dies auch sein mag vermutlich würde dennoch niemand auf die Idee kommen, zu behaupten, die Erfahrungen mit einer global operierenden Wirtschaft schließe beispielsweise Erlebnisse mit einer männerdominierten Arbeitswelt oder mit einer vom Geständniszwang geprägten Intimbeziehung aus. Aber gerade dieser Ausschluss ist symptomatisch für die zitierten Ansätze, die ihre wie immer guten und begründeten Beobachtungen einzelner Sektoren oder Diskurse der Gesellschaft zu einer Generalthese hochrechnen, der gegenüber die Bedeutung aller anderen Bereiche heruntergespielt oder sogar völlig ignoriert wird: der Theoretiker der ökonomischen Globalisierung interessiert sich nicht für Frauenfragen; oder die Beschäftigung mit der Spaßkultur der Freizeitgesellschaft scheint den gleichzeitigen Blick auf Regionen der Weltgesellschaft auszuschließen, in denen Arbeit und Freizeit noch nicht einmal unterschieden werden. Man kann als Soziologe diesem reichhaltigen Angebot etwas entnehmen, was zweifellos nicht intendiert ist, nämlich den Verdacht, dass es an einem einheitlichen Gesellschaftsbegriff fehlt, der in unser Welt alles enthält, was sozial ist: Frauenfragen und Aktienkurse, Stammesriten und postmoderne Philosophie, weltweite High-Speed-Kommunikation und folkloristische Regionalismen.
Wenn man diesen inklusiven Anspruch an eine Gesellschaftstheorie erhebt, dann bricht man abrupt mit der Geschichte des Fachs, denn es werden alle Ansätze ausgeschlossen, die mit traditionellen Gegenüberstellungen arbeiten nach dem Muster »Kirche und Gesellschaft«, »Staat und Gesellschaft«, »Wirtschaft und Gesellschaft« oder auch »Kunst und Gesellschaft«. Denn diese Titel zeigen die Überzeugung an, Kirche oder Staat seien kein Teil der Gesellschaft, sondern ihr entgegenzusetzen, ein Gedanke, der bei Klassikern von Max Weber bis Theodor Adorno anzutreffen ist und mit dieser großen Tradition bis heute weiterlebt. Ein Vorteil dieser Unterscheidung lag darin, dass man einen Standpunkt gewinnen konnte, von dem aus man glaubte, die Gesellschaft kritisieren zu können, ohne dass dieser Standpunkt selbst Teil der Gesellschaft und damit gleichfalls kritikwürdig wäre. Nach diesem Modell haben Adorno seine kritische Ästhetik und Ernst Jünger oder Carl Schmitt ihre Attacken auf die bürgerliche Gesellschaft formuliert. Noch Jürgen Habermas hat nach diesem Muster die sogenannte Lebenswelt den verdinglichten und entfremdeten Systemen der Gesellschaft entgegengestellt. Auch der Kirche wurde eine »kritische« Haltung zur Gesellschaft zugetraut, ganz als ob sie selbst nicht ein integraler Teil wäre, und dementsprechend wurde sie dann dort angegriffen, wo ihr diese Kritik misslang. Man pflegte die Vorstellung, es gäbe einen von der Gesellschaft unbefleckten Raum, von dem aus sich alles zum Besseren wenden oder doch das Schlimme objektiv benennen ließe. Aus dieser Vorstellung konnten bestimmte Gegensätze wie etwa der von Kunst und Markt unmittelbar abgeleitet werden: als Sprungbrett der Gesellschaftskritik konnte das Kunstwerk folglich nur dann taugen, wenn man seinen Warencharakter ausblendet, denn andernfalls wäre es ja als Ware Teil der Gesellschaft und nicht ihr reines Außen. Die totalitäre Variante dieses Schemas funktioniert sozusagen umgekehrt: man verwies zum Beispiel die Kirche auf ihre Position außerhalb der Gesellschaft und verbat sich jedwede Einmischung in Angelegenheiten jenes Staates, der die Gesellschaft organisierte. Autonomie, etwa die Autonomie der Kirche oder der Kunst, konnte man sich offenbar nur außerhalb der Gesellschaft vorstellen. Der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann sieht in dieser Tradition einen jahrhundertealten Denkfehler:
"Aus verständlichen Gründen haben Beschreibungen der modernen Gesellschaft spektakuläre Merkmale bevorzugt, die sich plakativ verwenden ließen, die eben deshalb aber nur Einzelphänomene ins Auge fassen konnten. Die Komplexität des Gesamtsystems lässt sich nicht anders als durch gezielte Reduktion im System zugänglich machen. Der bis vor kurzem übliche Ausweg war, auf Merkmale eines der Funktionssysteme abzustellen und dieses dann als ausschlaggebend, als dominant, als formbestimmend zu unterstellen. Das gilt vor allem für Beschreibungen wie Kapitalismus (Geldwirtschaft), Industrie (marktorientierte Produktion) oder wissenschaftsbasierte Technik. Auch die ständig wiederkehrenden Bemühungen, erneut auf Politik in der Form des nationalen Staates abzustellen, entsprechen diesem Muster. Neuerdings kommen jedoch Beschreibungen hervor, die sich dieser Beschränkung auf einzelne Funktionssysteme nicht mehr fügen, sondern statt dessen Aspekte von Kommunikation hervorheben und für die Analyse historischer Differenzen ausnutzen. Ich denke an Schlagworte wie »Informationsgesellschaft« oder »Risikogesellschaft«. Auch diese Formeln lassen sich [...] dazu verleiten, spektakuläre Einzelphänomene für repräsentativ zu halten."
Dieses Zitat stammt aus dem letzten Werk, das zu Luhmanns Lebzeiten mit dem seltsam anmutenden Titel "Die Gesellschaft der Gesellschaft" erschienen ist. Dieser sperrige Titel: "Die Gesellschaft der Gesellschaft" verweist auf die Überzeugung Luhmanns, dass jede Theorie der Gesellschaft selbst ein Teil der Gesellschaft ist und im Medium der Soziologie ein Modell ihrer selbst entwirft. Es geht also nicht um die Gesellschaft an sich, die man von außen in Ruhe beobachten und beschreiben könnte, denn wer könnte diesen point of view einnehmen außer vielleicht ein Gott; vielmehr geht es um ihre Selbstbeobachtung mittels Soziologie. Die Gesellschaft wird von einer Soziologie beschrieben, die sich als Teil der Gesellschaft versteht und daher beispielsweise berücksichtigen muss, dass sie selbst in ihrem Objekt vorkommt und ihre Beobachtungen Konsequenzen haben können, die die Grenzen des Fachs sprengen. Man könnte dieses Verhältnis vielleicht mit einer Analogie verdeutlichen: die Soziologie vollzieht mit Luhmann nach, was die Physik schon hundert Jahre zuvor in Formeln wie der Heisenbergschen Unschärferelation oder der Relativitätstheorie formuliert hat: dass nämlich die Wissenschaft keine unbeweglichen, ewigen Objekte untersucht, sondern veränderliche Konstrukte, deren Veränderung unter anderem davon abhängt, dass und wie sie untersucht werden. Der Glaube an einen archimedischen Punkt, von dem aus die Welt, wie sie ist, zu analysieren wäre, wird damit aufgegeben zugunsten der Annahme einer unhintergehbaren Perspektivität aller Beobachtungen. Diese Haltung wird neuerdings »Konstruktivismus« genannt.
In dem Wissen, dass ihre soziologischen Beschreibungen der Gesellschaft standpunktabhängig sind, also auch anders ausfallen könnten, wenn eine andere Perspektive gewählt würde, versteht sich die Systemtheorie als universale Theorie. Sie beobachtet nämlich nicht weniger als alles, sofern es nur sozial ist: Wirtschaft und Kunst, Religion und Wissenschaft, Recht und Erziehung. Dieser Anspruch hat sich in so programmatischen Titeln Luhmanns wie "Die Wissenschaft der Gesellschaft", "Das Recht der Gesellschaft", "Die Wirtschaft der Gesellschaft" oder auch "Die Kunst der Gesellschaft" niedergeschlagen. Vor kurzem sind zwei Werke aus dem Nachlass hinzugekommen. Zum 50. Geburtstag des Suhrkamp Verlages erschienenen zwei Jahre nach Luhmanns Tod "Die Religion der Gesellschaft" und "Die Politik der Gesellschaft". Was man den Titeln dieser kleinen Auswahl von Publikationen ansehen kann, ist der Verzicht auf hierarchische und exklusive Beschreibungen der Gesellschaft. Dass es eine Wissenschaft der Gesellschaft gibt, schließt nicht aus, dass es auch Recht, Kunst, Politik und Religion gibt; zudem herrscht zwischen diesen sozialen Leistungsbezirken kein Verhältnis der Unter- oder Überordnung, sondern der wechselseitigen Beobachtung. Allesamt sind sie Systeme der Gesellschaft, die eine bestimmte Funktion verrichten, ohne deren Versorgung die Gesellschaft nicht die wäre, die wir kennen. Gerade weil die Wirtschaft sich auf die Verteilung knapper Güter konzentriert, werden im Rechtssystem Streitfälle ohne Blick auf die ökonomischen Verhältnisse der Parteien gefällt, sondern mit Blick auf die Rechtslage. Man kann Urteile nicht kaufen, so wie man Börsengewinne nicht einklagen kann:
"Funktionale Differenzierung steigert wechselseitige Unabhängigkeit und Abhängigkeit der Funktionssysteme miteinander [...]; denn jedes Funktionssystem ist in der Erfüllung der eigenen Funktion autonom, aber zugleich davon abhängig, dass die anderen Funktionssysteme ihre jeweiligen Funktionen auf adäquatem Leistungsniveau erfüllen."
So produziert etwa die Wissenschaft Forschungsergebnisse, die von der Wirtschaft profitabel verwendet werden können, aber weder entscheidet die Wirtschaft darüber, wann wissenschaftliche Erkenntnisse als wahr oder falsch zu gelten haben, sondern allein die Programme der Wissenschaft, noch führen Forschungen deshalb zu plausiblen Ergebnissen, weil sie von Unternehmen finanziert werden. Ohne dass die Systemtheorie behaupten würde, die Forschung käme ohne Geld aus, behauptet sie dennoch die operative Autonomie der Wissenschaft. Es ist dies eine Autonomie in der Gesellschaft, nicht außerhalb.
Nichtsdestotrotz ist es typisch für die Innensicht oder Selbstbeschreibung dieser autonomen Leistungsbezirke, dass sie sich selbst für wichtiger halten als ihre Umwelt, die Politik für bedeutender als die Wirtschaft, die Kunst für essentieller als die Wissenschaft oder die Religion für fundamentaler als das Recht oder umgekehrt. Und auch die Soziologie als Teil der Wissenschaft glaubt hier zu angemesseneren Beschreibungen zu gelangen als andere, wenn sie von der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Sozialsysteme ausgeht aber auch dies ist natürlich nur eine wissenschaftliche Meinung, die ihre Plausibilitäten in der Soziologie findet und nicht unbedingt in Politik oder Religion. Innerhalb der Wissenschaft aber will die Systemtheorie ihre Überzeugung als plausibel durchsetzen, dass Selbstbeschränkungen der Theorie auf Aspekte, wie sie denn in Arbeiten zur »Informationsgesellschaft« oder »Risikogesellschaft« zum Ausdruck kommen, unnötige Simplifizierungen sind, die es zugunsten einer Theorie zu überwinden gilt, der nichts Soziales fremd ist.
Liest man nun vor diesem Hintergrund die neuen Studien zur Religion und Politik der Gesellschaft, dann wird man zumindest von einigen Kapiteln kaum überrascht: in beiden Büchern geht es darum aufzuzeigen, was das Allgemeine und was das Spezielle an diesen Funktionssystemen der Gesellschaft ist. Religion und Politik gelten genau wie schon Kunst, Wissenschaft, Erziehung, Recht und Wirtschaft aus soziologischer Sicht gleichermaßen als soziale Systeme mit Funktion, Code, Medium und Programm. Sie sind also ein Teil der Gesellschaft, zugleich aber sind sie innerhalb der Gesellschaft von anderen Formen der Kommunikation klar zu unterscheiden. Auch wenn in beiden Systemen an Wunder geglaubt wird: Religion ist nicht Politik.
Luhmann ist der Auffassung, dass nicht nur die Systemtheorie Religion und Politik unterscheiden können muss, sondern vor allem die Systeme selber ihre eigenen Operationen von anderen zu differenzieren vermögen, die Religion also religiöse und die Politik politische Kommunikation erkennen und alles andere ihrer Umwelt zuschlagen. Andernfalls, so lautet das zentrale Argument, würde das System eigene Zustände ständig mit denen der Umwelt verwechseln und damit sein Überleben riskieren. Dies leuchtet im Fall psychischer Systeme unmittelbar ein: wenn sich jemand einredet, er würde das Wetter beherrschen oder könne willkürlich Früchte wachsen lassen, dann verwechselt er eigene Zustände mit denen seiner Umwelt: ohne Hilfe würde er verhungern. Man würde wohl auch nicht auf den Gedanken verfallen, ein Computer könne seine Operationen über das Netz seiner elektronischen Schaltungen hinaus ausdehnen, zum Beispiel auf Fahrstühle, elektrische Fensterläden oder Türen, obwohl die an sein Netz gar nicht angeschlossen sind; und tut man es doch, schreibt man das Drehbuch für einen Horrorfilm. Die gleiche gesunde Vernunft ist aber in der Gesellschaftstheorie nicht immer zuhause, und gegen die systemtheoretische Beobachtung einer strikten Trennung der operativen Autonomie der Funktionssysteme wurde etwa eingewendet, sie verwandele soziale Bereiche in fensterlose Monaden. Diese Einschätzung kann zumal auf Zustimmung in den politischen Organisationen rechnen, denn welcher Politiker möchte sich schon erklären lassen, die Reichweite seiner Entscheidungen sei auf die politische Kommunikation begrenzt, er könne also keinesfalls bestimmen, was in Wirtschaft und Kunst, Umwelt und Wissenschaft, Erziehung und Religion zu geschehen habe. Luhmann betont, dass die verschiedenen Funktionssysteme ganz verschieden operieren und dies selbst dann, wenn die Selbstbeschreibung der Systeme dem widerspricht.
Wie sieht diese Selbstbeschreibung der Systeme denn aus? Sie geht vom genauen Gegenteil dessen aus, was Luhmann vorschlägt: jeder Priester, jeder Gläubige geht von der Wirkung seiner Gebete aus, so als könne eine Fürbitte den Verlauf der Krankheit ändern oder eine Seelenmesse den verlorenen Krieg wenden. Obwohl kaum ein Kranker und kaum ein Soldat auf den Einsatz neuer Medikamente oder Waffen zugunsten eines Gebetes verzichten würde, beharrt die Religion selbst auf dem Glauben, sie können Berge versetzen. In der Politik scheint die Verwechslung eigener Operationen mit denen in der Umwelt noch weitaus verwurzelter zu sein, was kaum ein Wunder ist, denn jeden Tag hört, sieht oder liest man es in den Nachrichten: diese oder jene Partei oder Regierung, dieses oder jenes Ministerium, diese oder jene Verwaltung werde nun die Jugendarbeitslosigkeit senken, um den Rechtsradikalismus zu bekämpfen, die Atomreaktoren abschalten, um die Umwelt zu schützen, die Rechtschreibung reformieren, um die Bildung zu verbessern, die Steuern senken, um die Wirtschaft anzukurbeln, oder auch die Bundeswehr umrüsten, um den Weltfrieden zu sichern. Man hat sich daran gewöhnt, dass die Politik dies alles verkündet, und eine Folge dieser Gewöhnung mag sein, dass man auch anzunehmen bereit ist, gute Politik vermöchte dies alles auch. Immerhin gibt es ja entsprechende Ministerien. Was spricht also gegen die Unterstellung, dass die Wirtschaftspolitik der Wirtschaft dient, die Arbeitsmarktpolitik dem Arbeitsmarkt oder die Umweltpolitik der Umwelt?
Nehmen wir das Beispiel »Atomausstieg«. Die Bundesregierung hat ihn auf den Weg gebracht in der Annahme, dass der Verzicht auf Kernenergie der Umwelt nützt. Sie beschreibt ihre politische Entscheidung als eine Handlung, die ganz bestimmte Folgen außerhalb der Politik haben wird. Luhmann nennt diese Form der Zurechnung Skripts, die nach dem allgemeinen Muster »dies bewirkt das« formuliert werden. Diese Art der Kausalzurechnung ist für politische Organisationen typisch, weil sie so bestimmte Veränderungen in der Gesellschaft sich selbst als Erfolg zurechnen kann. So kann man behaupten, dass die Abschaltung der Kernkraftwerke unser Leben sicherer macht, weil die Natur nicht mehr durch radioaktive Strahlung belastet wird. Zugleich blendet das Skript aber andere Ursachen und Wirkungen aus. Etwa dass nun andere Kraftwerke benötigt werden, die die Umwelt auf andere Art verseuchen; oder auch, dass die Wirtschaft womöglich den Umweltschutz nur als Vorwand nimmt, um aus einer teuren Energieart auszusteigen und sich diesen ökonomisch sinnvollen Verzicht auch noch vom Steuerzahler finanzieren zu lassen. Ist aber ein Skript in den Massenmedien einmal gut eingeführt, kann man zwar innerhalb eines Skripts dafür oder dagegen sein, aber an dem kausalen Zusammenhang zwischen der politischen Entscheidung und der Folge in der Umwelt der Politik kommt kein Zweifel auf. Ein Beispiel Luhmanns ist der Euro, den man einführt mit der Begründung, dass dies zu einer stärkeren Integration Europas führe: man kann dann durchaus gegen die Einführung des Euros sein, wie etwa Großbritannien, muss sich jedoch dann vorwerfen lassen, an der europäischen Einigung kein Interesse zu haben: "Aber zuvor steht schon fest, dass [...] eine einheitliche Währung Europa stärker integrieren würde, obwohl, ja weil niemand genau weiß, was mit dem Schema Währung, Europa, Integration gemeint ist."
Luhmann meint nun, dass die politischen Organisationen gar nicht anders können, als derart ihre eigenen Operationen als Handlungen zu beschreiben, da sie nur so "das Medium der Kausalität benutzen können, um Selbstzurechnung zu betreiben. Das gilt, wohlgemerkt, nicht nur für die Darstellung der Motive und der Aussicht gestellten Folgen von Entscheidungen, die tatsächlich getroffen worden sind, sondern auch, ja mehr noch, für das dazugehörige Klagen über Politik, für Wünsche und Appelle, die ja alle so formuliert werden müssen, als ob das, was gefordert wird, wirksam geschehen könne."
Sowohl die Regierenden als auch die Opposition vermitteln nach dem Muster »dies bewirkt das« einen Eindruck von Machbarkeit, so als könne die Politik die Folgen ihrer Entscheidungen, die sie in eine überaus komplexe Welt hinauslässt, tatsächlich kontrollieren. Aber die Politik kann nur entscheiden ob dann Europa besser integriert wird oder die Umwelt besser geschützt wird und was dies überhaupt bedeutet, hängt nicht allein von ihr ab, sondern von zahllosen Faktoren, die von dem verwendeten Skript ausgeblendet werden.
"Was sind die Folgen? [...] Offenbar sorgt die Politik über derart limitierte Kausalzurechnungen dafür, dass sie immer etwas zu tun hat einerseits weil es ständig zu einander widersprechenden Akzentuierungen kommt, und andererseits, weil ständig unerwartete oder vielleicht auch nur: ausgeblendete Folgen eintreten, mit denen die Politik sich in der nächsten Umdrehung ihres Glücksrades zu befassen hat. [...] Und immer bleibt noch etwas [zu tun] übrig. Es gibt hinreichend Beweise erfolgreicher Aktivität; und wie bei einer Medizin, die nicht hilft, kann man immer noch sagen: es wäre ohne sie viel schlimmer geworden."
Man hört hier deutlich den Spott über eine Politik, die sich von der systemtheoretischen Einsicht in die Funktionsdifferenzierung der Gesellschaft nicht beeindrucken lässt und so handelt, als wäre sie für alles zuständig. Noch ein weiterer Seitenhieb sei hier zitiert:
"Solange die Politik in den politischen Wahlen nach guten und schlechten Resultaten beurteilt wird, darf es nicht erstaunen, wenn man politische Techniken findet, die es ermöglichen, das unkontrollierbare (für die Politik mehr oder weniger zufällige) Entstehen guter und schlechter Resultate zu überleben. Rechtfertigung und Heuchelei sind politische Optimierungsstrategien, mit denen man im Code gut/schlecht kommuniziert, ohne das ausgeschlossene Dritte, die Realität, kontrollieren zu können. Wie bei den Hopi-Indianern der Regentanz scheint das Reden von der Ankurbelung der Wirtschaft, Sicherung des Standorts Deutschland, Beschaffung von Arbeitsplätzen eine wichtige Funktion zu erfüllen; jedenfalls die, den Eindruck zu verbreiten, dass etwas getan wird und nicht einfach abgewartet wird, bis die Dinge sich von selber lösen, obwohl genau dies die immer noch beste Lösung ist, an die man derzeit denken kann."
Aber so lassen sich keine Wahlen gewinnen, es kommt also darauf an, Ziele vorzugeben, deren Erreichen zu behaupten und die Verantwortung dafür zu reklamieren. So gilt nun Kohl als Kanzler der Einheit, obwohl unzählige Faktoren dazu geführt haben, und Schröder kann sich damit brüsten, einen ökonomischen Aufschwung eingeleitet zu haben, obwohl die Gründe dafür zweifellos in der Wirtschaft zu suchen sind. Das Kommunikationsschema der Politik, die Differenz von Regierung und Opposition, hat zu einem Automatismus geführt, der die eine Seite alle Entscheidungen der anderen kritisieren lässt, jedenfalls aber die guten Ereignisse in der Realität als Folge eigenen Entscheidens für sich zu verbuchen sucht. So kommt es im politischen Alltag zu einer fast schematisch reproduzierten Opposition. Wenn man angesichts dieser sehr skeptischen Formulierungen nach Vorbildern suchen würde, könnte man Carl Schmitts berühmt-berüchtigtes Buch über die Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus von 1923 nennen. Auch Schmitt hatte den parteipolitischen Schematismus aufs Korn genommen, der das Interesse an der Sache mit ihrer wahlwirksamen Darstellung verwechselt hat, auch Schmitt kritisierte die Selbstüberschätzung des Staates, der sich mit seinen Entscheidungen in jeden sozialen Bereich einmischen zu müssen glaubte. Wenn Luhmann etwa schreibt: "Alles in allem gleicht der Wohlfahrtsstaat dem Versuch, die Kühe aufzublasen, um mehr Milch zu bekommen", dann lässt sich diese Anknüpfung an Schmitt kaum übersehen. Es entspräche nun einem beliebten Skript, darin Konservatismus zu sehen und deshalb abzulehnen eine Alternative dazu läge in der Möglichkeit, dass schon Schmitts frühe Kritik des Parteienstaates berechtigt gewesen und noch heute aktuell ist.
Alles in allem kann man sagen: die Religion kommt besser weg, nicht besser als die Politik, denn nicht die Politik der Gesellschaft wurde kritisiert, sondern die Allmachtsphantasien politischer Organisationen wie Staat und Partei. Die große Leistung der Studie zur Religion liegt darin, nachzuweisen, dass die religiöse Kommunikation auch in der modernen Gesellschaft eine Funktion erfüllt, die von keinem anderen Funktionssystem übernommen werden könnte. In einer von binären Codes strukturierten Welt ist die Religion für die Frage nach der Einheit des Codes zuständig. Funktionscodes wie etwa die Unterscheidungen von recht und unrecht, gut und böse, wahr und falsch werden nach ihrem Grund befragt, und wo alle anderen Akteure passen müssen, weil beispielsweise das Rechtssystem zwar mit der Unterscheidung von recht und unrecht alltäglich operiert, die Frage nach der Herkunft aber nicht einmal stellen kann, ohne an den Grundfesten des Rechts zu rütteln, gibt die Religion eine Antwort: Gott ist die Einheit der Differenz. Jede Ethik setzt die Unterscheidung von gut und böse voraus. Wenn man sie befragt, warum man überhaupt derart unterscheiden solle, gerät sie in ernsthafte Schwierigkeiten, die man den meisten Moralphilosophien ohne weiteres ansehen kann. Die Religion aber weicht dieser Frage nicht aus, sondern konzentriert sich darauf, sie zu stellen. An die Antwort freilich muss man glauben, glaubt man aber einmal, dann ist keine Widerlegung durch externe Kriterien möglich. Weder Logik, Weltraumfahrt und Quantenphysik, noch philologische Quellenkritik kann den Glauben erschüttern, und auch gegen historische Forschung ist der christliche Glaube an das Erscheinen Christi vollkommen immun.
Was man dagegen kritisieren kann, sind die Organisationen der Religion wie Kirchen, Klöster oder Konvente. Mit großem Missfallen beschreibt Luhmann die Reduktion der Religion auf gewisse Leistungen, etwa bei den rites de passages des Familienlebens, welche auch von allem religiösen Sinn befreit gern in Anspruch genommen werden. Die Aufaddierung von Religionsunterricht und Steuerbegünstigungen, Taufe und Konfirmation, Heiligabend und Beerdigung gebe in keiner Weise ein angemessenes Bild von der Bedeutung der Religion in der modernen Gesellschaft. In der Nachbesprechung der Gottesdienste am Heiligen Abend oder an Hochzeiten wird immer mehr Gewicht auf den Stil der Predigt, die Qualität des Chors und die Ausstattung der Kirche gelegt, ganz so, als spräche man über eine Oper oder einen Hollywood Film. Eine Kirche, die die Religion derart auf die Verrichtung von Dienstleistungen zuschneidet, ist allerdings auf dem besten Wege, die Säkularisierung der Gesellschaft zu vollenden. Dass diese Gesellschaft ohne Religion ärmer wäre, ist die Überzeugung, die Luhmanns Soziologie der Religion orientiert. Ob sie es ohne Parteien wäre, scheint weniger gewiss.