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"Die Verflüchtigten"
Auf den Spuren der untergetauchten Japaner

Thomas Reverdys neuer Roman "Die Verflüchtigten" widmet sich den jährlich Tausenden Japanern, die von einem Tag auf den anderen spurlos verschwinden - meist aus finanzieller Not. Damit knüpft er auch an die große Wunde Japans an: den Super-Gau des Atomreaktors von Fukushima vor fünf Jahren. Dort tummeln sich die "Verflüchtigten" heute.

Von Christoph Vormweg |
    Tokio
    Reverdys Protagonist ist Analphabet in Japan und dadurch fremd. (picture alliance / dpa / Foto: Friso Gentsch)
    Die Auseinandersetzung mit dem völlig Fremden gehört zu den großen Themen der europäischen Literatur. In diesem Sinne ist Schreiben für Thomas Reverdy ein Mittel der Erkundung. Einer seiner noch nicht ins Deutsche übersetzten Romane spielt am New Yorker Ground Zero, zwei Jahre nach den Attentaten vom 11. September 2001, ein anderer in der legendären Autostadt Detroit, die dem Verfall preisgegeben ist.
    Mit Japan erhöht Thomas Reverdy - verglichen mit den USA - die Dosis des Fremden beträchtlich. Doch nicht die bunte Exotik interessiert ihn, sondern der realitätsnahe Blick hinter die Fassade einer für uns schwer dechiffrierbaren Kultur. Zum einen hat er in Bibliotheken recherchiert, zum anderen ein Stipendium in der Villa Kujoyama in Kyoto für Begegnungen und Streifzüge vor Ort genutzt. Ob auch die Liebe eine Rolle gespielt hat, bleibt sein Geheimnis.
    In jedem Fall: Für seinen Anti-Helden Richard B. aus San Francisco ist es die schöne Yukiko, die ihn nach Japan lockt. Mit der Figur des Amerikaners, der das Reisen eigentlich hasst, ist Thomas Reverdy ein besonderer Kunstgriff geglückt. Denn über sie hat er den längst vergessenen US-Schriftsteller Richard Brautigan wiederbelebt: einen höchst skurrilen Vertreter der Hippie-Generation, der in den 1970er-Jahren mehrfach nach Japan reiste und für kurze Zeit mit einer Japanerin verheiratet war. Verschiedene Roman-Figuren Brautigans hat Thomas Reverdy in der Figur des Richard B. verschmolzen. Mehr noch: dessen Gedankenwelt ist mit Versen des Dichters gespickt.
    Lakonik ist Trumpf
    Die schwierige Annäherung an Japan vollzieht sich im Roman "Die Verflüchtigten" also auf zwei Zeitebenen: auf der heutigen von Thomas Reverdy und auf der Richard Brautigans mehr als eine Generation zuvor.
    "Alles, was Richard B. von Japan kannte, und auch das erst seit knapp zwei Jahren, war das Restaurant Cho-Cho an der Kearny Street. […] Hier hatte er Yukiko kennengelernt, als Kellnerin. Sie schleppte ihn zu einem Zen-Meditationskurs und einem Haufen anderem buddhistischem Tofufresserzeugs, von dem er sich langsam erholte, nachdem sie ihn verlassen hatte, aber das ist eine andere Geschichte. Von ihr hat er sich nicht erholt, obwohl das schon fast ein Jahr her ist. Sie hat ihm das Herz gebrochen und zertrümmert zurückgegeben.
    Yukiko war Japanerin und hübsch. Wenn sie nicht Kellnerin war, war sie Schauspielerin, ein Pleite-Overkill sozusagen, weil es in Kalifornien noch mehr Schauspielerinnen als Kellnerinnen gibt. Aber sie trug ihr Schicksal mit bewundernswertem Hochmut. Sie strahlte so etwas aus, wenn sie ging, wie eine Schwingung oder Strömung - es war, als ob die Luft um sie herum vibrierte, weil sie es nicht wagte, sie zu berühren. Die Chance, dass sie einander begegneten, war ziemlich gering, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch noch mit ihm schlafen wollte, tendierte gegen null, was dazu führte, dass er die Beziehung mit ihr als permanentes Wunder empfand. […]
    Richard liebte alles an ihr, vielleicht besonders das, was sie voneinander trennte und was ihn ständig anschrie, dass sie viel, viel, viel zu schön für ihn sei, dass er sie überhaupt nicht kannte und dass sie irgendwann abhauen würde, was sie ja schließlich auch tat."
    Lakonik ist Trumpf, sobald Richard B. in Erscheinung tritt. Anders als Richard Brautigan ist er im Roman "Die Verflüchtigten" nicht nur ein Dichter, sondern auch ein Privatdetektiv, der sich auf Scheidungsfälle spezialisiert hat. Die Neuerungen der Webcam-Überwachung und sein Hang zur schonenden Höflichkeit, die allzu Vulgäres meidet, haben aber fast sämtliche Kunden vertrieben. Deshalb erstaunt es ihn umso mehr, als ihn seine Ex-Freundin Yukiko bittet, ihren in Kyoto verschwundenen Vater aufzuspüren.
    Die "Verflüchtigten" sind eine geschützte Spezies
    Neben dem Honorar interessiert Richard B. natürlich auch eine Reaktivierung ihrer Liebe. Und Yukiko? Warum, fragt man sich, heuert sie ausgerechnet einen amerikanischen Detektiv ohne Japanisch-Kenntnisse an? Es ist pure Verzweiflung. Denn kein japanischer Detektiv hätte diesen Fall angenommen. Die so genannten "Verflüchtigten" sind eine geschützte Spezies. Sie tauchen unter, um ihrer Familie Schande zu ersparen. Und deshalb werden sie auch dann nicht von der Polizei verfolgt, wenn sie Schulden hinterlassen haben. Mit anderen Worten: Yukiko setzt sich, indem sie Richard B. bittet, die Spur ihres Vaters aufzunehmen, über eine alte japanische Konvention hinweg. Hinzu kommt die Konfrontation mit ihrer Heimat, die sie nach fünfzehn Jahren in den USA zum ersten Mal wieder besucht.
    "[Yukiko] will [Richard] gerade darauf hinweisen, dass sie wegen seines Scheißkoffers und seines Altherrengehabes zu spät kommen werden, als ihr aus dem Stimmengewirr, das sie auf dem Flughafen umgibt, Wörter und Klänge ihrer Sprache zufliegen. Nicht nur ihr Kopf erkennt sie sofort, genauso wie die Kanji- und die Hiraganaschrift auf den Hinweisschildern. Es ist, als käme eine andere Yukiko, die sich in ihrem tiefsten Inneren verkrochen hatte, plötzlich an die Oberfläche und übernähme in diesem Augenblick die Herrschaft über all ihre Sinne.
    Mit den Wörtern fallen ihr auch die Farben der Sitze und der Uniformen wieder ein, das leicht graue Licht des Himmels, die Berge hinter den Landebahnen, die von der Kraft der Vulkane aufgeworfen wurden wie Wellen aus Fels, die kühle Luft in ihrem Schatten, die sie fast atmen kann, die Luft und der Geruch der Kiefern, der Erde und der toten Blätter, alles fällt ihr wieder ein, ganz Japan auf einen Schlag, gewaltig, bis ins Mark kann sie es spüren, wie es ihre Haut, ihr Gesicht einhüllt, und die Yukiko in ihr, die eben wieder zu Sinnen kam, die nie weg war, die sich nur in ihrem Inneren verkrochen hatte mit ihrem langen japanischen Haar, den fast geschlossenen Augen und dem Mund, der nach seiner Sprache wässrig war, schaut Richard an und lächelt ihm zu. Sie freut sich, dass er da ist, um sie zu besuchen, zu Hause."
    Die sinnliche, differenzierte Beschreibung seelischer und körperlicher Stimmungslagen gehört zu den großen Stärken von Thomas Reverdy. Oft wachsen sich seine Sätze dann zu schillernden, rhythmisch präzis austarierten Perioden aus. Hier kann seine deutsche Übersetzerin Brigitte Große immer wieder ihre Klasse demonstrieren - bis hin zu einem verschachtelten Zwei-Seiten-Satz, der einen innig-aufreizenden Beischlaf beschreibt. Zu den Wahrnehmungsebenen von Richard B. und Yukiko kommt von der ersten Seite an die von Yukikos verschollenem Vater hinzu.
    Doppelte Spannung im Roman
    Er ist einer jener mehr als 100.000 "Verflüchtigten" pro Jahr in Japan. Seine Arbeit als Investmentbanker hat er trotz großer Erfolge verloren. Mit dem Schritt in die Einsamkeit nimmt Yukikos Vater zum einen die Schande von der Familie. Zum anderen nutzt er die neue Freiheit für Recherchen über seinen einstigen Arbeitgeber. Denn er will die Gründe für seine Entlassung herausfinden: ob er wirklich selbst die Schuld trägt oder ob er Opfer einer Intrige geworden ist. Der von Richard B. Gesuchte ist also seinerseits auf der Suche, was die Spannung im Roman verdoppelt. Anhand kopierter Unterlagen versucht Yukikos Vater, die Abgründe der Börsen-Spekulation auf höchstem Niveau auszuleuchten.
    "Die Männer von Gion. So nannte er sie, diese Leute, die sein Boss gelegentlich in das geiko-Haus einlud, steinreiche, anonyme Kunden, um die er sich persönlich kümmern musste; die Männer von Gion, die unter dem Deckmantel der Tradition ihren lüsternen Träumen von Sake mit dem Geschmack von Kimonos frönten.
    Er hatte nicht allen Spuren nachgehen können, also hatte er sich auf einige wenige beschränkt, die der Vermittler. Allmählich begriff er, was vor sich gegangen war.
    Damals, in den Tagen nach der dreifachen Katastrophe von Erdbeben, Tsunami und Reaktorunfall, hatte er keinen Verdacht geschöpft. Siebenstellige Beträge sprangen im Sekundentakt von Spalte zu Spalte […]. Viele dachten, das sei der Anfang vom Ende. Und in diesem Durcheinander kam die spezielle Kundschaft des Chefs unbemerkt mit allem durch. […] Der Katastrophenrausch funktionierte nach dem Prinzip des Goldrauschs: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die Firmen ließen sich ihre Dienste mit Bauland an der verwüsteten Küste bezahlen, bevor die Raumplanungsbehörde etwas dazu sagen konnte. Du lieber Himmel, wie hätte sie denn etwas dazu sagen können? Offiziell war nicht einmal von einem Reaktorunfall die Rede. Die Männer von Gion hatten dank der Krise low cost eine ganze Region aufgekauft."
    Drei Hauptfiguren
    Der Blick westlicher Schriftsteller auf Japan - zum Beispiel bei Jean-Philippe Toussaint - begnügt sich meist mit punktuellen Impressionen. Thomas Reverdy geht da viel weiter. In seinem Roman "Die Verflüchtigten" zeichnet er ein komplexes, realitätsnahes Gesamtbild der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft. Geschickt fächert er dieses Bild multiperspektivisch auf. Über den amerikanischen Dichter-Detektiv Richard B. kann er mit viel Ironie vorführen, wo und wann ein Mann aus dem Westen nur Bahnhof versteht; über dessen Ex-Freundin Yukiko, was sich seit der Krise in den 1990er-Jahren in Japan verändert hat; und über deren Vater, wie die japanische Wirtschaft und Politik hinter den Kulissen funktioniert.
    Hinzu kommt aber noch eine weitere Hauptfigur: die des 14-jährigen Akainu, der während des Tsunamis seine Eltern aus den Augen verloren hat und auf der Straße lebt. Über ihn rückt Thomas Reverdy die Welt der Tagelöhner in den Blick, die aus Hunger jede Arbeit annehmen. Unter ihnen befinden sich viele der Verflüchtigten, die durch den Supergau von Fukushima ihr noch nicht abgezahltes Haus verloren haben. In San‘ya, dem Viertel der Gestrandeten am Rande der 13-Millionen-Metrolpole Tokio, schlägt sich Akainu mit Hilfsarbeiten durch.
    Er lässt sich von Yukikos Vater anheuern, der gerade dabei ist, sich eine bescheidene Existenz als Entrümpler aufzubauen. Doch schon bald müssen beide weiterziehen: Akainu, weil er Zeuge eines Mordes der japanischen Mafia geworden ist, und Yukikos Vater, weil er sich von den Killern seines einstigen Chefs verfolgt wähnt. Die einzige Möglichkeit, unbehelligt zu bleiben, bietet ihnen der Norden: die vom Tsunami zerstörte, radioaktiv verseuchte Region um Fukushima. Dort werden sie bei gefährlichen Aufräumarbeiten eingesetzt.
    "Es gibt keine Naturkatastrophen, denkst du. Nur menschliche Tragödien, von der Natur verursacht, was ihr aber ziemlich egal ist. Im Grunde haben die Menschen diesen Ort kaum berührt. Ihre Städte waren so leicht wegzufegen wie ein Ameisenhaufen. Es steckt immer etwas Lächerliches im Tragischen.
    Dich schaudert, weil es seit ein paar Tagen schneit und das die Reliefs der paar Ruinen einebnet, die hier und da noch vorhanden sein müssen. Es gibt keinen Maßstab mehr für das, was du hier siehst, außer dem alten Baum, den der Kampf gegen das Salz langsam auslaugt.
    Alles ist weiß, selbst der Lärm.
    Es gibt keine Vögel mehr.
    Keine Möglichkeit, sich ein Bild von dem Leben zu machen, das hier einmal herrschte. […]
    Die Deponie ist alles, was bleibt. Leben, auf seine Abfälle reduziert, wie Scheiße, gerade gut genug, um Pflanzen damit zu düngen, weil wir der Natur vollkommen egal sind. Das denkst du so. Das Schauspiel erregt in dir eine Mischung aus Wut und Ekel. Aber was willst du daran ändern? Diese Ohnmacht, vielleicht liegt es daran, vielleicht ist es Scham."
    Reverdy nutzt ganz verschiedene Schreibformen
    Nicht nur durch die verschiedenen Erzählstränge und den ständigen Wechsel der Perspektiven gibt Thomas Reverdy seinem Roman "Die Verflüchtigten" eine vielstimmige Dynamik. Er nutzt auch ganz verschiedene Schreibformen. Das breite Publikum lockt er mit Tempoprosa, etwa bei der Beschreibung von Verfolgungsjagden durch die japanische Mafia. Anhänger der E-Literatur bezirzt er durch die eingeflochtenen lyrischen Augenblicksbetrachtungen aus der Feder des Dichter-Detektiv Richard B. oder die Zeichnung träumerischer Ausflüge in die Geschichte: etwa der Stadt Kyoto und ihren immer noch gegenwärtigen "Gespenstern".
    "Zu dieser frühen Stunde ist niemand unterwegs in diesem Viertel an dem Kanal unter dem Blätterdach, in dieser Kälte, in diesem gleichmäßig grauen Licht, auf diesem nebelglänzenden Pflaster, niemand, nur du und die Gespenster der "Kapitale".
    Die Zeiten verwischen und überlagern sich. Vielleicht liegt es am Nebel. Oder an den seit so langer Zeit gleich gebliebenen Namen. Heian ist heute ein Tempel. Tausend Jahre lang nannte sich die Hauptstadt eines zerrissenen Reichs Heinan-kyo. In der Muromachi-Zeit - heute heißt nur noch die Verkehrsschlagader am Kamo-Fluss so - gewannen Kamigyo und Shimogyo Gestalt, die auch heute noch Teile der Stadt sind, Quartiere von zwei Armeen verfeindeter daimyo, die durch ihre Manöver Shogune zur Macht erhoben oder stürzten. Mit geschwungenen Klingen und langen Bogen bewaffnet, strömen Samurai und Bauern auf die Straßen. Sie tragen leichte, bewegliche Rüstungen in leuchtenden Farben und Säbel und Dolche aus der Provinz Bizen, die sie ohne Scheide in den Gürtel stecken. […] Aber du hast keine Angst, es sind ja nur Gespenster. […] Das ganze moderne Japan ist doch nur ein verschwommenes Spiegelbild des alten. Das ist eben das Besondere an Kyoto, sagen die Leute, als ginge es nur um ein eingebildetes Gefühl, für das man sich schämen müsste, eine Art Stolz oder Nostalgie, dabei ist es eine Tatsache, die hier nur deutlicher sichtbar wird.
    Die Vergangenheit währt ewig, nur die Gegenwart vergeht, die Gegenwart ist es, die sich verflüchtigt und erlischt."
    Viele Fragen in der Schwebe
    Das Japan-Bild, das Thomas Reverdy entwirft, operiert nie mit voreiligen Gewissheiten, sondern lässt viele Fragen bewusst in der Schwebe. Überall lauert - wegen des Super-Gaus von Fukushima - die menschliche Tragik im Roman. Wir werden mit Szenarien konfrontiert, die wir bis dahin meist nur aus Science-Fiction-Romanen oder -Filmen kannten. Kurzum: Das Ende der Welt ist den Japanern plötzlich ganz nah gerückt. Und was in Japan passiert ist, kann eben überall passieren. Gerade deshalb ist der versoffen-sensible, hilflos verliebte Richard B. eine Idealbesetzung für den Roman. Denn er hält mit wunderbarer Lakonik immer den Humor im Spiel - gleichsam als Gegengewicht zu der Last des Realen.
    "Richard B. tat sich wirklich schwer mit Japan. Das lag an der Sprache. Dass er nicht verstand, was die Leute sagten, dass er die Namen der U-Bahn-Stationen und die Straßenschilder nicht lesen konnte. Bücher in Buchhandlungen mutierten zu absolut rätselhaften und nutzlosen Objekten: kleine rechteckige Stapel gebundenen Papiers voller Fliegenschiss - was sollte man damit anfangen? […] Es war erniedrigend. In Japan war man auf einmal Analphabet. Auch die Lebensmittel, jedenfalls soweit man sie erkennen konnte, waren ganz anders sortiert als in einem amerikanischen Supermarkt. Die Farben passten nicht: Tomatendosen in Grün, Zahnbürsten und Wattestäbchen in Schwarz, Zahnpastatuben in Braun. Mindestens fünfzehn Sorten Wasabi, aber kein Senf. Milch in blauen, grünen oder roten Kartons, was aber nichts über deren Fettgehalt aussagte. […] Und im Restaurant war es noch schlimmer. […] Als er sich endlich an die vollkommene Geschmacklosigkeit von Tofu gewöhnt hatte, musste er entdecken, dass es an die fünfzig verschiedene Sorten in verschiedener Gestalt gab, aus denen ganze Mahlzeiten zubereitet wurden, kalt, warm, gegrillt, gekocht, als Suppe, Soße oder Dessert, bis zum Erbrechen. Es war die Hölle. Außerdem schmeckte es nicht einfach fade. Sie nannten es umami, den fünften Geschmack. Aber was soll einer dazu sagen, dessen Zunge nur vier Geschmäcker kennt?"
    Thomas Reverdy will in seinem Roman "Die Verflüchtigten" vieles zugleich: spannend unterhalten, existenziell verunsichern, eine vertrackte Liebesgeschichte erzählen, ein fernes Land nahebringen, und: mit fein geschliffenen Perioden und poetisch subtilen Einwürfen literarisch überzeugen. Auch wenn nach rund hundert Seiten die Überraschungsmomente seltener werden, hat er sich an diesem hohen Selbstanspruch nicht überhoben. Viele seiner Kapitel, die zwischen einer und neun Seiten lang sind, erreichen das Eigengewicht einer Kurzgeschichte.
    So entsteht ein Kaleidoskop provozierender, ganz unterschiedlicher Bilder eines reichen, stolzen Landes, das mit einem Schlag alle Sicherheiten verloren hat und im Zeichen der Angst lebt. Die Schieflagen Japans im Strudel der Großkrise schildert Thomas Reverdy dabei ohne moralischen Zeigefinger, ohne Vorurteil. Sein Roman "Die Verflüchtigten" wirkt auf uns deshalb so unheimlich, weil er den Wohlstandstraum des Westens schonungslos auf seinen Preis herunterfährt. Auf literarisch hohem handwerklichen Niveau entführt uns Thomas Reverdy in eine Welt, die bald die unsere sein könnte.
    Thomas B. Reverdy: "Die Verflüchtigten." Roman. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Berlin Verlag, Berlin 2016. 320 Seiten, 22,00 Euro.