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Die Wannseekonferenz zur "Endlösung" der Judenfrage
"Aus Massenmorden wurde ein Programm gemacht"

Die Vertreter des NS-Staates, die 1942 zur Wannseekonferenz zusammenkamen, hätten genau gewusst, was von ihnen erwartet wurde, sagte der Historiker Peter Longerich im DLF. Es sei um den effizientesten Weg zur Ermordung von Millionen Juden gegangen. Aus dem Morden, das schon vorher begonnen habe, sei ein Programm geworden.

Peter Longerich im Gespräch mit Birgid Becker |
    In dieser Villa fand die sogenannte Wannseekonferenz zur "Endlösung der Judenfrage" am 20. Januar 1942 statt
    In dieser Villa fand die sogenannte Wannseekonferenz zur "Endlösung der Judenfrage" am 20. Januar 1942 statt (imago/McPHOTO )
    Birgid Becker: Am 20. Januar 1942 kamen 15 hochrangige Vertreter des NS-Staates auf Einladung von Reinhard Heydrich, dem Chef des NS-Reichssicherheitshauptamtes, in einer luxuriösen Villa am Wannsee zusammen, um über die sogenannte Endlösung der Judenfrage zu beraten. Das war der Technokraten-Terminus für den Holocaust. Etwa eine bis anderthalb Stunden dauerte die Zusammenkunft, an deren Ende man laut Protokoll entschied, insgesamt elf Millionen Menschen zu deportieren, sie mörderischer Zwangsarbeit auszusetzen oder auf andere Weise zu ermorden. Morgen erscheint ein Buch des Historikers Peter Longerich, das darlegt, welche Bedeutung die Wannseekonferenz im Menschenvernichtungsprogramm der Nazis hatte, wobei - das habe ich Peter Longerich zum Start unseres Gesprächs gebeten zu erklären -, wobei die Wannseekonferenz nicht so etwas wie der ultimative Startschuss für den Holocaust war. Das Morden hatte ja schon vorher begonnen.
    Peter Longerich: Ja, in der Tat. Es sind ja schon vor der Wannseekonferenz über eine halbe Million Juden mindestens ermordet worden, vor allen Dingen in der Sowjetunion und auch in Polen. Das Morden hatte längst begonnen. Worum es hier geht ist eigentlich, dass die nationalsozialistischen Machthaber in diesem Zeitraum Herbst, Winter, Frühjahr 1942 aus diesen Massenmorden ein Programm gemacht haben, was dann ganz Europa umfassen sollte und dem letzten Endes dann elf Millionen Juden zum Opfer fallen sollten nach ihren Plänen. Und dieser Entscheidungsprozess ist im Wesentlichen ins Dunkel gehüllt. Wir haben nur einzelne Hinweise. Aber das Wannseeprotokoll, das Protokoll dieser Konferenz am Wannsee ist eines der ausführlichsten Dokumente, das wir besitzen, und ist daher für Forscher und für die gesamte Kultur der Erinnerung an diese Vorgänge außerordentlich wichtig.
    Becker: Sie haben schon einmal gesagt, das Besondere an diesem Wannseeprotokoll sei, dass es wie ein Schnappschuss aus dem Entscheidungsprozess funktioniert. Was genau sieht man denn, wenn man diesen Schnappschuss betrachtet?
    "Der Mord an den Juden wird Gegenstand einer Regierungskonferenz"
    Longerich: Man sieht zunächst einmal, dass hochrangige Vertreter des NS-Staates, eine Reihe von Staatssekretären, dann aber auch höhere SS-Führer zusammenkommen, um darüber zu sprechen, wie man die Endlösung, so heißt es dort wörtlich, der Judenfrage bewerkstelligen könnte. Das heißt, der Mord an den Juden wird Gegenstand einer Regierungskonferenz. Man sieht, wie viele verschiedene Stellen hier beteiligt sind. Es ist das Auswärtige Amt beteiligt, es ist das Innenministerium beteiligt, das Justizministerium. Es ist beileibe nicht nur eine Angelegenheit, die intern in der SS verhandelt wurde.
    Becker: Es gab - das geht aus Ihrem Buch hervor - auch im Januar 1942 noch konkurrierende oder sogar unterschiedliche Pläne zum Vernichtungsprogramm.
    Longerich: Ich denke, man muss dieses Protokoll, das ja kein Wortprotokoll ist, sondern das die Ergebnisse dieser Konferenz aus der Sicht des Einladenden - und das war Heydrich, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, man muss einfach dieses Protokoll noch einmal sehr genau lesen. Man muss den Wortlaut lesen und man muss das Protokoll in einen Kontext stellen. Man muss genau wissen, was vorher geschah und was hinterher geschah, und dann, denke ich, kann man in dem Protokoll tatsächlich zwei, nennen wir es mal, rivalisierende Linien in dieser Vernichtungsplanung erkennen. Es gibt einen älteren Plan, der von Heydrich vertreten wurde, und es gibt neue Ideen. Diese neuen Ideen laufen auf die Ermordung der Juden in Vernichtungslagern, in Gaskammern hinaus, wie wir dann später sehen werden. Und hier begegnen sich diese beiden Denkschulen, wenn man es mal so nennen will, und man sieht, dass es hier auch Widersprüche gibt, die dann erst im Nachhinein, nach der Konferenz ausgeräumt werden können, bis man sich dann nach Monaten entschließt, ein europaweites Programm zur Ermordung aller europäischen Juden auf den Weg zu bringen.
    "Ein großer Apparat, der sich eine Aufgabe vorgenommen hat"
    Becker: Und es gab ja, soweit das aus Ihrem Buch hervorgeht, auch so etwas, was erschreckend normal daher kommt, als ganz normales Kompetenzgerangel. Es gab diese Konkurrenz zwischen Heydrich und Himmler, der ja nicht Teilnehmer der Wannseekonferenz war. Das erweckt so einen Eindruck einer entsetzlichen Normalität unter Karrieristen.
    Longerich: Ja, das ist mein Eindruck. Es handelt sich hier um einen großen Apparat, der sich eine Aufgabe vorgenommen hat. Diese Aufgabe besteht darin, Millionen von Menschen systematisch umzubringen, aber es wird genauso behandelt wie eine andere "große" Unternehmung. Es geht hier aber nicht nur um die Personen Himmler und Heydrich, die den rationalsten, effizientesten Weg zur Ermordung von Millionen von Menschen aussuchen, sondern es geht ja auch um die anderen, die dabei sitzen, um die Vertreter der Ministerien, die diesen Prozess der Vertreibung, der Deportation und der Ermordung der Juden als Verwaltungsaufgabe behandeln und sozusagen einen möglichst reibungslosen Weg suchen, wie man dieses Unternehmen administrativ, effizient umsetzen kann.
    Becker: Das ist auch ein Punkt, der Ihr Buch auffällig oder besonders eindrucksvoll macht, dass Sie dieses Protokoll zur Wannseekonferenz ja abdrucken und dann sehr detailliert am Protokolltext entlang kommentieren. Man weiß ja, dass der Holocaust ein bürokratisches Fundament hatte, aber genau das wird in Ihrem Buch ja sehr eindeutig dokumentiert.
    "In schriftlichen Dokumenten wurde immer versucht, diese Vorgänge zu verheimlichen"
    Longerich: Na ja, das wird dadurch deutlich gemacht, dass wir uns zusammen mit dem Verlag entschlossen haben, das Protokoll in der Mitte des Buches abzudrucken, jeweils auf der linken Seite und rechts daneben eine Interpretation dieses Protokolls, und das Ganze wird eingebunden in zwei Buchhälften, die eine davor, die die Vorgeschichte erzählt, und die andere, die die Nachgeschichte erzählt, dass man versucht, dieses ja wirklich sehr bemerkenswerte Dokument nicht nur im Wortlaut mit Kommentierungen zu präsentieren, sondern auch im Kontext, das, was davor, und das, was danach geschehen ist.
    Becker: An manchen Stellen ist das Protokoll dann aber auch wieder unklar. Das reale Töten, das wird seltsamerweise ja umschrieben oder verklausuliert. Seltsam sage ich deshalb, weil es nach den Mordexzessen, die es ja vor 1942 schon gab, man sollte meinen kaum mehr nötig gewesen wäre. Warum dann doch diese verklausulierte Darstellung, die dann nur aus dem Kontext ergibt, dass Frauen und Kinder zum Beispiel, die deportiert werden sollten und auch nicht zur Arbeit eingesetzt werden sollten, natürlich keine Überlebenschance haben würden. Warum diese Verklausulierungen im Protokoll?
    Longerich: Wir wissen ja nicht, was auf der Konferenz wirklich besprochen worden ist. Das Protokoll gibt eine Zusammenfassung der Sitzung aus der Sicht Heydrichs wieder. Es ist durchaus möglich, dass dort tatsächlich von Töten, Eliminieren, Liquidieren und so weiter gesprochen wurde, aber in der schriftlichen Fassung, die dann in 30 Exemplaren an die beteiligten Ministerien und an die beteiligten SS-Dienststellen herausgeschickt wurde, hat man solche Formulierungen vermieden und hat sich stattdessen auf diese bürokratische Sprache zurückgezogen. Das ist ganz typisch für den NS-Staat. Natürlich: Wenn ich von der Sonderbehandlung derjenigen spreche, die nicht mehr arbeitsfähig sind, dann ist schon klar, was damit gemeint ist. Aber man hat das wohl auch deswegen getan, dass sich einzelne Teilnehmer der Konferenz auch hinter solchen Formulierungen verstecken konnten und hinterher behaupten konnten, sie hätten nicht genau gewusst, was damit gemeint gewesen sei. Das ist für diesen Staat eigentlich ganz typisch, dass man in schriftlichen Dokumenten immer versucht, diese Vorgänge zu verheimlichen mithilfe dieser merkwürdigen Sprache.
    Becker: Und von dieser Exkulpierungssprache haben ja auch etliche Teilnehmer der Wannseekonferenz im Nachhinein Gebrauch gemacht, nicht wahr?
    "Die skrupellosesten waren diejenigen, die ein akademisches Studium hatten"
    Longerich: Ja! Es sind natürlich eine ganze Reihe von Juristen beteiligt und als Jurist hätte man natürlich eigentlich, wenn dort von Liquidieren, von Töten offen die Rede gewesen wäre in dem Protokoll, hätte man unter Umständen etwas tun müssen. Man hätte sagen müssen, es gibt ein Strafgesetz, es gibt einen Mordparagrafen, ist das jetzt aufgehoben, was machen wir hier eigentlich. Aber so konnte man tatsächlich versuchen, diese Formulierung vor sich herzuschieben, und das haben ja, wie Sie richtig sagten, die meisten Teilnehmer der Wannseekonferenz, die dazu befragt worden sind, auch getan. Das heißt, einige haben dann zunächst mal behauptet, sie seien gar nicht da gewesen, und wenn man ihnen dann nachweisen konnte, dass sie da waren, haben sie behauptet, es sei dort lediglich um eine Lösung gegangen, aber es sei nichts Konkretes beschlossen worden.
    Becker: Diese zugegeben naive Vorstellung, dass ein gewisser Grad an Bildung auch für einen gewissen Grad an Zivilisation sorgen könnte, das erledigt sich wohl auch mit Blick auf die Teilnehmer der Wannseekonferenz. Unter den 15 Teilnehmern waren wie viel, neun promovierte Juristen?
    Longerich: Ja. Diese Vorstellung ist sowieso - wenn man sich mit dem Dritten Reich näher beschäftigt, wird man in diesem Falle immer eine große Enttäuschung erleben. Im Gegenteil! Die fanatischsten Nationalsozialisten oder die skrupellosesten waren diejenigen, die ein akademisches Studium hinter sich hatten.
    Becker: Wenn Sie sagen, es gab den erklärten Willen zur Vernichtung der europäischen Juden, aber kein konkretes Mordprogramm, zumindest zum Zeitpunkt des Januars 1942, aus diesem Umstand wird ja in rechtsextremen Kreisen gerne die Annahme gebastelt, es habe nicht so etwas wie einen Führerbefehl zum Holocaust gegeben, und das wird dann auch exkulpierend angeführt. Aber das funktioniert nicht, oder?
    "Erwartet wurde die denkbar radikalste Lösung"
    Longerich: Na ja, die Holocaust-Leugner haben natürlich große Schwierigkeiten, mit diesem Protokoll, mit diesem Dokument umzugehen. Es ist auch völlig klar, dass eine solche Staatssekretärsbesprechung natürlich durch Hitler autorisiert gewesen sein muss. Das heißt, man kann nicht einfach zusammenkommen und die Endlösung der europäischen Judenfrage beschließen. Dem gehen ja auch ganz eindeutige Stellungnahmen Hitlers voraus, aus dem Dezember '41 etwa oder aus dem Januar '42, in denen er ganz offen von der Ausrottung und der Vernichtung der Juden sprach. Das heißt, die Teilnehmer der Konferenz, die diese Äußerungen kannten - das waren ja zum größten Teil öffentliche Äußerungen -, die wussten ganz genau, dass von ihnen erwartet wurde, hier eine ganz radikale, die überhaupt denkbar radikalste Lösung dieses sogenannten Problems zu finden.
    Becker: Warum, außer weil es von wissenschaftlichem Interesse ist, warum ist es weiter sinnvoll, über diese Mechanismen des Nazi-Mordens im Detail mehr zu erfahren? Warum? Das Ende kennt man ja. Warum müssen wir im Detail wissen, wie es zu diesem Ende gekommen ist?
    Longerich: Es handelt sich ja um ein Jahrhundertverbrechen und ich denke, es ist schon angemessen, genau zu rekonstruieren, wie dieses Verbrechen zustande gekommen ist, zu rekonstruieren, wer im Einzelnen beteiligt gewesen ist, gerade auch angesichts der Tatsache, dass die Täter ja selbst versucht haben, dieses Verbrechen zu vernebeln, indem sie Dokumente zerstört haben oder möglichst Dinge nur mündlich vereinbart haben, und das gibt natürlich auch immer wieder den Leugnern die Möglichkeit, hier einzuhaken und Dinge zu vernebeln oder Irritationen auszulösen. Und deswegen ist es schon, denke ich, notwendig, genau und präzise zu wissen, wie die Vorgeschichte dieses Jahrhundertverbrechens ausgesehen hat.
    Becker: Gibt es so etwas wie ein strukturelles Muster hinter diesem Schnappschuss, den die Wannseeprotokolle liefern? Ein Muster, das auch dazu führen könnte, dass man Parallelen zieht, Parallelen zieht in die Neuzeit, Parallelen zieht in die Gegenwart?
    "Die meisten denken, dass sie an einer 'großen' Sache mitwirken"
    Longerich: Wenn man sich diese ganze Geschichte ansieht, dann sieht man, dass hier eine Staatsmaschinerie sich von den üblichen gängigen Normen abgelöst hat und auf Befehl der Staatsführung die Grenzen der Zivilisation und der Menschlichkeit völlig hinter sich gelassen hat. Und wenn eine solche Maschine einmal in Gang gekommen ist, dann sehen Sie, dass es auch sehr wenige gibt, die sich versuchen, dem irgendwie entgegenzustellen oder die Maschine aufzuhalten. Im Gegenteil: Jeder versucht, noch aufzuspringen, mitzumachen. Das heißt, wenn einmal eine solche Maschinerie in Gang gekommen ist, dann ist sie sehr schwer wieder zu stoppen, und alle, die beteiligt sind, oder die meisten, die beteiligt sind, haben dabei ein gutes Gewissen und denken, dass sie an einer "großen" Sache mitwirken. Und das sind solche Dinge, die man durchaus auch im Hinblick auf andere Probleme im Auge behalten sollte.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.