Oft reicht schon die Bereitschaft, sich von Nebensächlichem ablenken zu lassen. Vom unbeabsichtigten Blick auf den Quittenbaum am Straßenrand zum Beispiel. Grund genug für einen ungeplanten Autostopp. Auch wenn der Erzähler und Jäger des absichtslosen Augenblicks sich deshalb verspätet.
"Es war an einem dieser leuchtenden Bisentage. (...) Zwischen den Blättern, einem dunkel glänzenden Grün, drang das Gelb reifer Quitten hervor, kugelig gebündeltes Sonnenlicht. (...) ein Geruch stieg in meiner Nase hoch, ein warmer, aromatischer Duft. Er war sanft und weich, voller Ahnungen - und eine Erinnerung an meine Kindheit kam zurück (...)"
... geprägt vom Herbstlicht am Nachmittag in der Küche, wo der Quittensaft aus einem Tuch in die Teigschüssel tropfte, und vom süßlichen, das ganze Haus durchdringenden Duft des von der Mutter frisch gekochten Gelees. Beim Blick durch die Frontscheibe wird das Bild überlagert von der Erinnerung an einen japanischen Holzschnitt: Quitten am Baum, vielleicht aus dem 18. Jahrhundert. Und plötzlich fallen dem Betrachter längst vergessene Begriffe aus dem Heimatdialekt ein; herbstliche Worte, bei denen man schon eine Jacke überziehen müsse. Mit der klaren, kühlen Herbstluft weht den Erzähler schließlich die Erkenntnis an: Durch unsere subjektive Wahrnehmung und Erinnerung an Erlebtes, Gelesenes und Gehörtes schaffen wir unsere Wirklichkeiten selbst. Und unversehens gerät der unbeabsichtigte Blick auf die Quitte, das Stiefkind unter den Gartensträuchern, zur erkenntnistheoretischen Abhandlung über den "Quittenbaum als Wille und Vorstellung". Die Einsicht in die zentrale Bedeutung des Nebensächlichen verändert wiederum die eigene Wahrnehmung. Unspektakuläre Dinge erscheinen plötzlich von philosophischer Dimension. Dieser geschärfte Blick für die Komplexität des Einfachen kennzeichnet auch die anderen Geschichten im Buch. Beflügelt habe seine Fantasie, so der Erzähler,...
"(...) die Theorie, wonach der Flügelschlag eines Schmetterlings auf der anderen Seite des Erdballs einen Wirbelsturm auszulösen vermöge. (...) Wir sind gewohnt zu glauben, es seien die großen und sichtbaren Dinge, die auch eine große Wirkung erzielten (...). Und nun stellte sich auf einen Schlag des Schmetterlingsflügels heraus, dass es die kleinen (...) Dinge sind, die Großes bewirken. "
Angeregt von der Chaostheorie, nimmt der Erzähler deshalb gerade unscheinbare Kleinigkeiten wie die titelgebenden "Stecknadeln des Herrn Nabokov" zum Anlass für seine philosophischen Gedankenflüge: zum Beispiel in seinen Betrachtungen über die Faszination der Glasperle, der sprachphilosophischen Reflexion zur Tasse Tee oder einer wirtschaftsterminologischen Meditation über den Begriff der Sparbüchse. Mit anarchischem Blick unterhöhlt er systematisch die unhinterfragten Wahrnehmungsformen postmoderner Wirklichkeitserfahrung: So verteidigt er den kreativen Müßiggang einer "Zwischenstunde" gegen die Effizienz; demonstriert, wie der am Computerbildschirm geschulte Blick die Wahrnehmung der Realität verändert; und zeigt, wie zu "Buttons" mutierte schlichte Knöpfe unsere Welt revolutionieren.
Christian Hallers unterhaltsame und humorvolle Geschichten sind kleine Türöffner für die Seele. Viele erinnern das Auge an vergessene Schönheiten wie ein Flussufer im nebligen Februarlicht. Manche öffnen das Ohr für Momente namenloser Stille. Andere schärfen den Sinn für die unfreiwillige Komik einer Moderne, deren Werte sich selbst mehr und mehr ad absurdum führen. Allen gemeinsam ist der poetische Blick, der die eigene Wahrnehmung immer wieder unerwartet auf den Kopf stellt. Manchmal muss man eben als Ente denken, um wieder als Mensch zu fühlen.
Christian Haller: Die Stecknadeln des Herrn Nabokov
Luchterhand Verlag 2010. 160 Seiten, 17,99 EUR.