Um Sibirien, das unendlich weite Land zwischen Ural und Pazifikküste, ist es seit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches still geworden. Und folgt man Dietmar Schumann, dem Autor der eindrucksvollen Reportage "An der Lena flussabwärts", so ist es auch in Sibirien selber still geworden - oder doch sehr viel stiller als zu Stalins und Breschnews Zeiten. Mehr als dreihundert Dörfer und Städte, manche bis zu 50.000 Einwohnern, sind im vergangenen Jahrzehnt bereits aufgegeben worden. Die gigantischen Militäranlagen entlang den Küsten des Nördlichen Eismeeres, die meisten Stahlwerke und Kohlengruben in Jakutien und die meisten der erst vor zwanzig Jahren neubezogenen Pionierstädte entlang der nur eingleisig fertiggestellten Baikal-Amur-Magistrale sind dem Verfall preisgegeben. Von allen Verkehrsverbindungen und Versorgungsströmen abgeschnitten, sind die Bewohner ihrem Schicksal überlassen und suchen ihr Heil in der Flucht.
Zu Sowjetzeiten hatte Sibirien - mit Ausnahme des weniger unwirtlichen Südens - fast fünf Millionen Einwohner. Heute dürften es, so Dietmar Schumann, weniger als die Hälfte sein. Die wenigsten waren freiwillig nach Sibirien gekommen. Zu Stalins Zeiten wurden allein in Jakutien mindestens zwanzig Zwangsarbeitslager errichtet, deren Insassen zu Zehntausenden in den Kohle-, Gold- und Diamantbergwerken zu Tode geschunden wurden. In den Vierzigerjahren wurden fast 600.000 Litauer - jeder achte Bewohner des Landes - in die Sümpfe und Eiswüsten am Unterlauf der Lena verbannt. Sie sollten im Fluss und Eismeer Fischfang betreiben, um die Zwangsarbeiter im Gulag zu ernähren. Über ein Drittel der litauischen "Volksfeinde" ist entlang der Lena verhungert oder erfroren. Die Überlebenden konnten erst nach Stalins Tod in die Heimat zurückkehren. Doch manchen blieb auch dies verwehrt. Sie durften lediglich vom Unterlauf des Flusses an den Oberlauf umsiedeln.
Dietmar Schumann, der über das Schicksal Sibiriens seit dem Ende der Sowjetherrschaft berichtet, ist ein ausgezeichneter Kenner der Region. Der gebürtige Sachse studierte in Leipzig und Moskau Journalistik und wurde 1977 vom DDR-Fernsehen als Korrespondent nach Moskau geschickt. Er bereiste das Land von Brest bis Kamtschatka, vom Nordpol bis an die chinesische Grenze.
Überall, wohin er auf seiner ausgedehnten Reportagereise entlang der 4400 Kilometer langen Lena kommt, kann er nicht nur stolz sagen: Hier bin ich schon einmal gewesen. Er kann auch detailliert beschreiben, was sich seither an Ort und Stelle verändert hat. Diese Vergleiche fallen durchweg negativ zu Lasten der unmittelbaren Gegenwart aus. Verengt man den Blick auf Ostsibirien, hat sich fast alles zum Schlechteren verändert. Russland hat das gigantomanische Sibirienprojekt der Sowjetunion gänzlich gestoppt. Die gewaltigen Bauvorhaben, die zur Breschnewzeit fast so teuer wie Verteidigungsausgaben waren, haben sich als sinnlose Fehlinvestition erwiesen. Sie waren ökonomisch gänzlich ineffektiv und machten allenfalls militärisch Sinn. Sibirien wurde als Bollwerk gegen China, Japan und die USA aufgerüstet. Von den Milliarden Rubeln, die während des Kalten Krieges und der Konfrontation mit China in den russischen fernen Osten geflossen sind, ist praktisch nichts mehr übrig geblieben. Selbst die Raketenstellungen im Delta der Lena sind, so Schumanns Bericht, inzwischen verrostet.
Es ist verständlich, dass der Reporter immer wieder auf Menschen trifft, die aus wirtschaftlichen Gründen den alten Sowjetzeiten nachtrauern. Vor 1990 haben die Arbeiter in Jakutien durchweg doppelt so viel verdient wie in der übrigen Sowjetunion. Sie waren zudem in ihrer Versorgung privilegiert. Von dieser ganzen Herrlichkeit ist nur noch eine Insel der Seligen geblieben: die von dem "Alrosa"-Konzern betriebene Diamantenmine im jakutischen Mirny. Das Unternehmen ist inzwischen nach dem Erdölkomplex Gasprom der zweitwichtigste Devisenlieferant in Russland und kann seinen über zehntausend Arbeitern und Ingenieuren Löhne und Vorteile bieten, von denen andere Bürger der Russischen Föderation nur träumen können.
Dietmar Schumann ist ein ausgezeichneter Fernsehjournalist. Sein Dokumentarfilm "Blut & Diamanten", den das ZDF im letzten Sommer ausstrahlte, hat inzwischen mehrere Auszeichnungen erhalten. Ob er als Buchautor die gleiche Qualifikation besitzt, mag man immerhin bezweifeln. Zwar ist seine Lena-Reportage voll gepackt mit Fakten, Informationen und Vergleichen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, aber ein eigenständiges, für sich sprechendes Buch ist sie trotzdem nicht geworden. Ein Meister der Kameraführung muss nicht unbedingt ein Meister des Wortes sein.
In Dietmar Schumanns Text gerät so manches durcheinander. Mal glaubt man das Drehbuch einer Fernsehsendung zu lesen, mal einen Reiseprospekt über Schamanentänze und andere folkloristische Festlichkeiten. Dann hat man einen politischen Essay vor sich, und schließlich ist man bei einer Abhandlung über die Mühe einer Reportage angelangt. Trotz dieser stilistischen Mängel enthält Dietmar Schumanns Reisebericht "An der Lena flussabwärts" immer wieder sehr dichte, eindringliche und zum Teil beklemmende Passagen. Vielleicht ist es bezeichnend für die Arbeitsweise des Autors, dass sein Bericht vor allem an den Stellen anschaulich und für den Leser packend wird, an denen die postsowjetische Zensur dem Kamerateam die Dreherlaubnis verweigert hat.
Das gilt für die Schilderung der Zustände in dem jakutischen Zentralgefängnis Verchni Bestjach, in dem sich seit Stalins Zeiten nur die Zusammensetzung der Gefangenen geändert hat. Auch wenn die politische Repression nachgelassen hat, zählt Russland immer noch eine der höchsten Gefangenenraten der Welt.
Zu den bewegendsten Abschnitten der Reisereportage gehören ohne Frage die Gespräche mit einer alten Litauerin, die auf dem Schiff mitreist, um auf dem Friedhof des Lagers Tit-Ary nach dem Grab ihrer Mutter zu suchen und dort einen Kranz niederzulegen. Als 16jährige war Grazina Venlavaite 1941 zusammen mit ihrer Mutter in die Eismeertundra deportiert worden, weil ihr Vater, dem die Flucht nach England gelungen war, bei der litauischen Polizei Dienst tat. Die Mutter war bald darauf gestorben und auf dem Lagerfriedhof verscharrt worden. Die Tochter konnte zwölf Jahre später das Lager verlassen, musste aber in Jakutien bleiben. Ein halbes Jahrhundert später hat sie zum ersten Mal die Genehmigung erhalten, das Grab der Mutter zu besuchen. Einen Reisekostenzuschuss haben ihr die Behörden allerdings verweigert.
Peter Schütt über: Dietmar Schumann: An der Lena flussabwärts, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2002.
Zu Sowjetzeiten hatte Sibirien - mit Ausnahme des weniger unwirtlichen Südens - fast fünf Millionen Einwohner. Heute dürften es, so Dietmar Schumann, weniger als die Hälfte sein. Die wenigsten waren freiwillig nach Sibirien gekommen. Zu Stalins Zeiten wurden allein in Jakutien mindestens zwanzig Zwangsarbeitslager errichtet, deren Insassen zu Zehntausenden in den Kohle-, Gold- und Diamantbergwerken zu Tode geschunden wurden. In den Vierzigerjahren wurden fast 600.000 Litauer - jeder achte Bewohner des Landes - in die Sümpfe und Eiswüsten am Unterlauf der Lena verbannt. Sie sollten im Fluss und Eismeer Fischfang betreiben, um die Zwangsarbeiter im Gulag zu ernähren. Über ein Drittel der litauischen "Volksfeinde" ist entlang der Lena verhungert oder erfroren. Die Überlebenden konnten erst nach Stalins Tod in die Heimat zurückkehren. Doch manchen blieb auch dies verwehrt. Sie durften lediglich vom Unterlauf des Flusses an den Oberlauf umsiedeln.
Dietmar Schumann, der über das Schicksal Sibiriens seit dem Ende der Sowjetherrschaft berichtet, ist ein ausgezeichneter Kenner der Region. Der gebürtige Sachse studierte in Leipzig und Moskau Journalistik und wurde 1977 vom DDR-Fernsehen als Korrespondent nach Moskau geschickt. Er bereiste das Land von Brest bis Kamtschatka, vom Nordpol bis an die chinesische Grenze.
Überall, wohin er auf seiner ausgedehnten Reportagereise entlang der 4400 Kilometer langen Lena kommt, kann er nicht nur stolz sagen: Hier bin ich schon einmal gewesen. Er kann auch detailliert beschreiben, was sich seither an Ort und Stelle verändert hat. Diese Vergleiche fallen durchweg negativ zu Lasten der unmittelbaren Gegenwart aus. Verengt man den Blick auf Ostsibirien, hat sich fast alles zum Schlechteren verändert. Russland hat das gigantomanische Sibirienprojekt der Sowjetunion gänzlich gestoppt. Die gewaltigen Bauvorhaben, die zur Breschnewzeit fast so teuer wie Verteidigungsausgaben waren, haben sich als sinnlose Fehlinvestition erwiesen. Sie waren ökonomisch gänzlich ineffektiv und machten allenfalls militärisch Sinn. Sibirien wurde als Bollwerk gegen China, Japan und die USA aufgerüstet. Von den Milliarden Rubeln, die während des Kalten Krieges und der Konfrontation mit China in den russischen fernen Osten geflossen sind, ist praktisch nichts mehr übrig geblieben. Selbst die Raketenstellungen im Delta der Lena sind, so Schumanns Bericht, inzwischen verrostet.
Es ist verständlich, dass der Reporter immer wieder auf Menschen trifft, die aus wirtschaftlichen Gründen den alten Sowjetzeiten nachtrauern. Vor 1990 haben die Arbeiter in Jakutien durchweg doppelt so viel verdient wie in der übrigen Sowjetunion. Sie waren zudem in ihrer Versorgung privilegiert. Von dieser ganzen Herrlichkeit ist nur noch eine Insel der Seligen geblieben: die von dem "Alrosa"-Konzern betriebene Diamantenmine im jakutischen Mirny. Das Unternehmen ist inzwischen nach dem Erdölkomplex Gasprom der zweitwichtigste Devisenlieferant in Russland und kann seinen über zehntausend Arbeitern und Ingenieuren Löhne und Vorteile bieten, von denen andere Bürger der Russischen Föderation nur träumen können.
Dietmar Schumann ist ein ausgezeichneter Fernsehjournalist. Sein Dokumentarfilm "Blut & Diamanten", den das ZDF im letzten Sommer ausstrahlte, hat inzwischen mehrere Auszeichnungen erhalten. Ob er als Buchautor die gleiche Qualifikation besitzt, mag man immerhin bezweifeln. Zwar ist seine Lena-Reportage voll gepackt mit Fakten, Informationen und Vergleichen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, aber ein eigenständiges, für sich sprechendes Buch ist sie trotzdem nicht geworden. Ein Meister der Kameraführung muss nicht unbedingt ein Meister des Wortes sein.
In Dietmar Schumanns Text gerät so manches durcheinander. Mal glaubt man das Drehbuch einer Fernsehsendung zu lesen, mal einen Reiseprospekt über Schamanentänze und andere folkloristische Festlichkeiten. Dann hat man einen politischen Essay vor sich, und schließlich ist man bei einer Abhandlung über die Mühe einer Reportage angelangt. Trotz dieser stilistischen Mängel enthält Dietmar Schumanns Reisebericht "An der Lena flussabwärts" immer wieder sehr dichte, eindringliche und zum Teil beklemmende Passagen. Vielleicht ist es bezeichnend für die Arbeitsweise des Autors, dass sein Bericht vor allem an den Stellen anschaulich und für den Leser packend wird, an denen die postsowjetische Zensur dem Kamerateam die Dreherlaubnis verweigert hat.
Das gilt für die Schilderung der Zustände in dem jakutischen Zentralgefängnis Verchni Bestjach, in dem sich seit Stalins Zeiten nur die Zusammensetzung der Gefangenen geändert hat. Auch wenn die politische Repression nachgelassen hat, zählt Russland immer noch eine der höchsten Gefangenenraten der Welt.
Zu den bewegendsten Abschnitten der Reisereportage gehören ohne Frage die Gespräche mit einer alten Litauerin, die auf dem Schiff mitreist, um auf dem Friedhof des Lagers Tit-Ary nach dem Grab ihrer Mutter zu suchen und dort einen Kranz niederzulegen. Als 16jährige war Grazina Venlavaite 1941 zusammen mit ihrer Mutter in die Eismeertundra deportiert worden, weil ihr Vater, dem die Flucht nach England gelungen war, bei der litauischen Polizei Dienst tat. Die Mutter war bald darauf gestorben und auf dem Lagerfriedhof verscharrt worden. Die Tochter konnte zwölf Jahre später das Lager verlassen, musste aber in Jakutien bleiben. Ein halbes Jahrhundert später hat sie zum ersten Mal die Genehmigung erhalten, das Grab der Mutter zu besuchen. Einen Reisekostenzuschuss haben ihr die Behörden allerdings verweigert.
Peter Schütt über: Dietmar Schumann: An der Lena flussabwärts, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2002.