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Doku über Angela Merkel
Die Unerwartete

Kaum einer hätte gedacht, dass Angela Merkel über so viele Jahre an der Spitze unseres Landes stehen würde. Kaum einer kann nach all der Zeit sagen, was sie wirklich antreibt. Die Dokumentation versucht das Rätsel um die Politikerin zu lüften und zeigt eine Frau, die mitunter auf Risiko spielt, um sich durchzusetzen.

Von Michael Meyer |
    Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Hände zur Raute aneinandergelegt
    Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Hände zur Raute aneinandergelegt (picture alliance /dpa /Michael Kappeler)
    "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."
    Angela Merkel hat vor gut einem Jahr Flagge gezeigt, so deutlich wie kaum einmal zuvor: die Öffnung der Grenzen, die Willkommenskultur, ihre Selfies mit Flüchtlingen - all das wird ihr danach gutgeschrieben oder angelastet, je nach Standpunkt. Die Doku von Matthias Schmidt und Torsten Körner geht nicht streng chronologisch vor, sondern nähert sich der Person Merkel aus verschiedenen Blickwinkeln und springt immer wieder hin und her zwischen den Zeitebenen. Kindheit, Jugend in der DDR, die Wendejahre, ihr Aufstieg in der CDU, ihre Jahre als Kanzlerin. Dabei kommen Freund und Feind zu Wort, Politiker aus allen Parteien, unter anderem Lothar und Thomas de Maizière, Norbert Blüm, Katrin Göring-Eckardt, Guido Westerwelle oder Peer Steinbrück:
    "Sie hatte immer eher einen moderierenden politischen Stil, durchaus erfolgreich. Aber plötzlich, in der Flüchtlingskrise Anfang September, legt sie sich fest und exponiert sich, mit ihrer Person, mit ihrem Amt. Mit der Gefahr, dass ihr etwas passiert, was ihr vorher selten passiert, dass sie massiv angegriffen wird, das ist nicht typisch Merkel gewesen, das war atypisch."
    Der Dokumentarfilm zeigt, wie sich Merkel im männerdominierten Bonn in den 90er-Jahren durchbeißt, und das, obwohl der Wind rau pfeift - die Westler haben auf die Ossis keineswegs gewartet, im Gegenteil, erinnert sich im Film Lothar de Maizière. Merkel nutzt geschickt ihr Image als graue Maus. Dass man sie oft unterschätzt, macht sie sich zunutze.
    Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl und die ehemalige Frauenministerin Angela Merkel (beide Deutschland/CDU) gaben sich während einer Sitzung des CDU-Parteiausschusses in Bonn 1992 die Hand
    Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl und die ehemalige Frauenministerin Angela Merkel (beide Deutschland/CDU) während einer Sitzung des CDU-Parteiausschusses in Bonn 1992 (imago/sepp spiegl)
    In ihrer Jugend war Merkel eine gute Schülerin, sagt ihr damaliger Klassenlehrer. Zu DDR-Zeiten eher unauffällig, aber arbeitsam. In den 90er-Jahren suchte sie sich ihren politischen Ziehvater, war "Kohls Mädchen", wie sie ein wenig abfällig genannt wurde. Über ihre Triebfeder, ihr Ethos sagt sie selbst:
    "Ich habe Menschen immer wieder ermutigt, an ihre Grenzen zu gehen, und da noch mal zu versuchen, ob es nicht doch klappt mit Mathematik oder Russisch oder diesem und jenem. Ich war aber auch selbst so, dass ich versucht habe, wenn ich zum Beispiel in Sport schlecht war, dort an meine Grenzen zu gehen, oder auch manchmal über das hinaus, was ich mir selber zugetraut habe."
    Wie tickt die Bundeskanzlerin?
    In der politischen Öffentlichkeit gibt sich die Bundeskanzlerin stets recht kühl, durchaus nicht unsympathisch, aber doch immer ein wenig technokratisch wirkend: eine Physikerin eben, rational und mit analytischem Blick. Die großherzige Geste, mit der sie die Grenzen für Flüchtlinge öffnet, traute ihr keiner zu. Noch im Juli 2015, auf einem Bürgerdialog, entgegnet Merkel dem palästinensischen Mädchen Reem, dass sie ihr kein Bleiberecht garantieren könne - das Mädchen bricht darauf in Tränen aus.
    "Ich wollte eines nicht tun, das ist insgesamt mein Angang in der Politik: Ich wollte nicht den Eindruck vermitteln, dass, weil dieses Mädchen mich zufälligerweise als Bundeskanzlerin getroffen hat, ich die Lösung ihres Problems sehr leicht herbeiführen kann, während alle anderen, die die Bundeskanzlerin nicht treffen, dieses Glück nicht haben. So funktioniert ja ein demokratischer Rechtsstaat nicht."
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) beugt sich am 15.07.2015 während der Veranstaltung in der von der Regierung gestarteten Gesprächsreihe "Gut leben in Deutschland" in Rostock zu einem Flüchtlingsmädchen palästinensischer Abstammung. Merkels Begegnung mit dem Kind hat in Sozialen Netzwerken zu Kritik geführt. ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit der aktuellen Berichterstattung über die Veranstaltung und nur bei Nennung: "Steffen Kugler/Bundesregierung/dpa" |
    Die Kanzlerin und das Flüchtlingsmädchen Reem während einer Veranstaltung in Rostock zum Thema "Gut leben in Deutschland" (Steffen Kugler/Bundesregierung/dpa)
    Die Presse tituliert Merkel daraufhin als "Eiskönigin". Heute würde dieses Bild keiner mehr zeichnen. Wie tickt die Bundeskanzlerin - als Mensch, als Politikerin? Der Film, der vor gut einem Jahr gedreht wurde, sucht nach Antworten. Die vielen Entwicklungen der letzten Zeit machen es jedoch nicht leicht und werden zwangsläufig nicht alle aufgegriffen. Intimfeinde wie Horst Seehofer kommen nur kurz zu Wort.
    Die Dokumentation kontrastiert Angela Merkels politisches Leben an ein paar Stellen mit Zitaten von Niccolò Machiavelli, jenem florentinischen Philosophen, der schon vor fünfhundert Jahren politische Prozesse analysiert hat. "Die beste Festung, die es gibt, ist vom Volk nicht gehasst zu werden", so einer der Sätze Machiavellis. Doch diese Festung bröckelt seit einem Jahr.
    "Sie hat sich angreifbar gemacht … und sich angreifbar zu machen gehört nicht unbedingt zu ihrer politischen Vita", konstatiert der Journalist Heribert Prantl.
    "Regieren ist Glaubenmachen", lautet noch so eine der Spitzen Machiavellis. Doch dieses "Glaubenmachen" funktioniert nun nicht mehr so einfach. Wie sieht Merkel das? Auch das beantwortet der Film leider nicht.
    Dennoch hat der Film durchaus spannende Momente, etwa wenn Ex-Finanzminister Peer Steinbrück die merkelsche Psychologie analysiert - ihre DDR-Vergangenheit könnte sinnbildlich als Erklärung für ihre ganze Karriere dienen:
    "Das ist sehr schwer zu bewerten und ich glaube, es ist Glatteis, für jemanden von außen das zu bewerten, ihre DDR-Geschichte. Ich glaube, mindestens eines ist hängengeblieben: Mit widrigen Verhältnissen fertig zu werden. Und nicht anzuecken."
    Ob diese Persönlichkeitsstruktur ausreicht, um die Deutschen im nächsten Jahr bei der Bundestagswahl noch einmal zu überzeugen? Ihr damaliger Klassenlehrer sagt in der Doku jedenfalls, dass er sie trotz aller Bewunderung nicht wählen würde. So weit ginge es dann doch nicht. Merkel muss wohl noch viele Menschen überzeugen.
    "Merkel - Die Unerwartete" ist am 06.12.2016 um 20.15 Uhr auf ARTE und am 12.12.2016 um 22.45 Uhr in der ARD zu sehen.