Aufmerksam beobachtet Thore Peich, wie sein Praktikant einen Holzbalken mit dem Stecheisen traktiert. Hier, in der Produktionshalle in Lüchow, nimmt der Traum vom eigenen Dorf bereits Gestalt an. Ausgestattet mit Zollstöcken, Hämmern und Schraubzwingen übt sich halbes Dutzend Männer in der Konstruktion von Holzböcken. Auf ihnen können später größere Bauteile montiert werden. Je feiner das Handwerk, umso stabiler steht der Bock, sagt Peich. Zufrieden blickt der Zimmerermeister in die Runde. Die Kollegen, mit denen er arbeitet, sind Geflüchtete mit langer Berufserfahrung.
"Da sind Ingenieure, Bauzeichner, Betonbauer, selbstständige Betriebsinhaber dabei, die Hochhäuser gebaut haben, die fünf Kilometer lange Tunnel gebaut haben. Was bei mir ganz stark rüberkommt, ist, dass sie alle unbedingt arbeiten wollen, ganz heiß darauf sind, endlich anzufangen!"
Genossenschaft gegründet
Sie bauen an einer gemeinsamen Vision: Der Vision von einem interkulturellen Mehrgenerationendorf, in dem alle Platz finden - alte und junge Menschen, Deutsche und Zugewanderte, Menschen die Unterstützung im Alltag brauchen, gut Situierte und jene, die sich keine teuren Mieten leisten können. Insgesamt 100 Wohneinheiten für 300 Menschen sollen vor den Toren der Stadt Hitzacker im niedersächsischen Wendland entstehen. Dafür hat die neue Dorfgemeinschaft eine Genossenschaft gegründet. Die Geschäftsanteile der Mitglieder sollen dem Projekt das Eigenkapital beschaffen. Den Löwenanteil der nötigen 15 Millionen Euro sollen Banken finanzieren. Eigenständige Handwerker wie Peich sind der Genossenschaft beigetreten und bringen ihre Maschinen mit. Baukosten will man sparen, indem alle mit anpacken - auch die Geflüchteten. Eine Lehrerin hilft ihnen beim Büffeln der deutschen Vorschriften und Bezeichnungen.
Der 23-jährige Afghane Omid Kuhestani kam bereits 2010 ins Wendland. Auch sein Vater, Edi Mohammad, musste die Heimat auf der Flucht vor den Taliban verlassen. In Afghanistan war er Architekt. Noch warte die Familie, dass das Geld für ihre Wohnung im Dorf zusammenkommt, sagt der 47-Jährige auf Farsi. Omid, der bereits gut Deutsch spricht, übersetzt:
"Er ist sehr stolz auf uns, weil wir unseren Weg gefunden haben. Ich bin auf dem Weg, Architekt zu werden - und er wünscht sich, dass er irgendwann einmal hier wieder in seinen Beruf einsteigt und im Dorfprojekt mitmacht."
"Wir haben schon viele Wahlverwandtschaften hier"
Ortswechsel: Gut 15 Minuten dauert die Autofahrt hinüber zum alten Bahnhof von Hitzacker. Hier, in der Ideen-Schmiede, planen sie ihr Dorf, das auf dem fünf Hektar großen Acker nebenan entstehen soll. Alle Genossen dürfen mitreden: Der Hamburger Architekt Frank Gutzeit ist bemüht, die Ergebnisse der wöchentlichen Diskussionen in praktikable Baupläne umzuwandeln.
Manche Leute haben über die Ersteinlage von rund 15.000 Euro hinaus genug Geld, um es in einen Solidaritätsfonds einzuzahlen - damit auch Menschen wie Omid und Edi Mohammed im Dorf wohnen können. Gemeinschaft ist ein zentraler Gedanke, sagt Hauke Stichling-Pehlke, einer der Initiatoren des Modellprojektes:
"Entstanden ist die Idee in dem Augenblick, wo klar war, da kommen ganz, ganz viele Menschen nach Deutschland. Und dann vor dem Hintergrund, dass so viele Leute kommen und so wenig darüber überlegt wird, was wir eigentlich mit denen gemeinsam auf die Beine stellen. Die Geflüchteten kommen hier oftmals als junge Familien an - und haben aber leider ihre Eltern nicht mitnehmen können. Und viele von den alten Leuten, die hier wohnen, mussten mit ansehen, wie ihre Kinder in die Welt gegangen sind. Und das passt dann zusammen. Wir haben schon viele Wahlverwandtschaften hier, die wir wachsen sehen."
Im kommenden Jahr sollen die ersten Häuser stehen
Klingt verwegen? Nicht hier im Wendland, wo es die Menschen durch ihren Jahrzehnte langen Widerstand gegen die Atomanlagen gewohnt sind, quer- und weiterzudenken. Sorgen, dass der Traum noch platzen könnte, plagen Stichling-Pehlke nicht:
"Wir haben einen sehr guten Kontakt zu einer Bank, die Interesse hat, inhaltliches Interesse auch an unserem Projekt, und die wirtschaftlich das aber auch schon mal kritisch angeguckt hat. Da werden wir noch wahnsinnig viel liefern müssen, die werden noch viele Fragen stellen. Aber wir gehen davon aus, dass das reinpasst in unseren Plan."
Im kommenden Jahr sollen die ersten Häuser stehen. Für Omid Kuhestani ist das Projekt die Brücke in die deutsche Gesellschaft - und manchmal sieht er sich in Gedanken schon auf der Terrasse sitzen und über die sanften Hügel des Wendlands schauen.
"Ich bin super angekommen, und ich mache Baupläne mit meinen Kollegen. Ich fühle mich auf jeden Fall wie zuhause - und das freut mich total!"