Es war eine missliche, würdelose, ja geradezu alberne Situation, in der sich Wilhelm Slavata von Chlum und Koschumburg an diesem Morgen des 23. Mai 1618 befand:
"Er hing kopfüber aus dem Fenster, aus dem zuvor sein Amtskollege, der Kaiserliche Statthalter Jaroslav Martinitz geworfen worden war. Nun klammerte er sich an den Sims und baumelte in 17 Metern Höhe gefährlich über dem Burggraben."
Es beginnt als Posse - mit dem berühmten Prager Fenstersturz, der den böhmischen Aufstand auslöst - und es endet in der Tragödie eines drei Jahrzehnte dauernden Krieges. Acht Millionen Menschenleben wird er fordern, ganze Landstriche verwüsten und das Gesicht des Abendlandes für immer verändern.
Ort der Handlung: ganz Europa. Zeit: Zwischen 1618 und 1648 - nur hundert Jahre nach der Reformation. Personen: Kaiser, Könige, Fürsten, Feldherren, Bischöfe, Kardinäle, Diplomaten, Intriganten. Thema des Dramas: Der Glaubenskampf zwischen Katholiken und Protestanten.
"In erster Linie kein Religionskrieg"
Obwohl nun gerade das eine Einschätzung ist, die Peter Wilson, Militärhistoriker an der Universität Oxford, in seinem Buch nur sehr bedingt teilt:
"Der Dreißigjährige Krieg war nicht in erster Linie ein Religionskrieg! Religion und Konfession stellten wirkmächtige Identifikationsmerkmale dar; doch mussten sie sich dabei gegen politische, soziale und andere Unterscheidungen durchsetzen. Der Dreißigjährige Krieg war nur insofern ein Religionskrieg, als der Glaube in der Frühen Neuzeit das leitende Prinzip in allen Bereichen öffentlichen oder privaten Handelns lieferte. Der Unterschied zwischen Militanten und Moderaten lag nicht im Ausmaß ihres religiösen Eifers, sondern darin, wie eng Glaube und Handeln für sie miteinander verbunden waren."
War also dieser verheerende Krieg wirklich eher der politische Kampf Frankreichs, Englands und Schwedens, deutscher und niederländischer Protestanten gegen die katholische spanisch-habsburgische Vorherrschaft in Europa? Oder schieben sich nicht doch immer wieder Glaubenskonflikte in den Vordergrund? Immerhin geht es um den Versuch von Kaiser und Papst, den Protestantismus in Deutschland zu beseitigen. Und das misslingt nur, weil der "Löwe aus Mitternacht", der Schwedenkönig Gustav Adolf militärisch interveniert und den Protestantismus rettet.
Nach wenigen Jahren glich Deutschland einem "Leichentuch"
Ganz eindeutig ist Wilson in diesen Fragen nicht, aber in seiner über 1000-seitigen, spannend geschriebenen Gesamtdarstellung reißt er den Vorhang zu einem gewaltigen Panorama des Konflikts weit auf und beleuchtet detailliert die unterschiedlichen Aspekte und Facetten des Geschehens: Ursachen, Ereignisse, Auswirkungen.
Anschaulich schildert er, wie das eigentlich recht unbedeutende Ereignis des Prager Fenstersturzes und das anschließende Eingreifen verschiedener europäischer Nationen eine Dynamik auslösen, die immer wieder neue Kriege heraufbeschwört: den böhmisch-pfälzischen Krieg, den schwedischen Krieg, den dänisch-niedersächsischen, den schwedisch-französischen Krieg. Sodass schon nach wenigen Jahren Deutschland in den Worten eines Zeitgenossen einem "Leichentuch", gleicht, die Verrohung in- und ausländischer Söldnerheere, die Verwüstungen und die Leiden der Menschen zunehmen.
Und doch hat dieser Krieg, das macht Wilson deutlich, die politische und religiöse Ordnung innerhalb des Heiligen Römischen Reiches neu definiert. Während noch die Armeen blutig aufeinander schlagen, dämmert am Horizont ein neues Zeitalter herauf:
Der Krieg war eine europäische Tragödie
"Der Kaiser und die Fürsten, das Reich als Ganzes symbolisierte das spätmittelalterliche Ideal einer geeinten Christenheit. Sein Herrscher war der einzige christliche Monarch, der den Kaisertitel trug, was ihn über alle anderen gekrönten Häupter des Abendlandes erhob. Der kaiserliche Anspruch auf die weltliche Oberherrschaft in Europa entsprang der Vorstellung, das Heilige Römische Reich stelle die lückenlose Fortsetzung des Römischen Reichs der Antike dar."
Ganz sicher war dieser Krieg, wie Wilson schreibt, eine europäische Tragödie. Doch wird am Abend des 24. Oktober 1648 mit der Unterzeichnung des Frie-densvertrages von Münster und Osnabrück ein Abkommen geschlossen, wonach die religiösen Differenzen in unterschiedlichen Konfessionen und die Nationen in völkerrechtlicher Souveränität existieren können. Bahn bricht sich der noch ungewohnte Gedanke, dass von nun an eine konfessionelle und politische Vielfalt Europa prägen wird. So wird dieser Frieden zu einem Tor, das Europa aufstoßen muss, um in ein neues Zeitalter zu gelangen.
Obwohl sie mittlerweile verstummt seien, so schließt Wilson sein monumentales Werk, sprächen die Stimmen aus dem 17. Jahrhundert in unzähligen Bildern und Texten noch immer zu uns. Und:
"Sie warnen uns auch weiterhin vor der Gefahr, jenen Macht zu verleihen, die sich durch Gott zum Krieg berufen fühlen oder glauben, dass ihre Vorstellungen von Recht und Ordnung die einzig gültigen sind."
Der Band "Der Dreißigjährige Krieg - Eine europäische Tragödie" von Peter H. Wilson ist im Theiss-Verlag Stuttgart erschienen und kostet 49,95 €.