Am Anfang steht der Tod. Wenngleich noch niemand gestorben ist. Jetzt nicht. Noch nicht. Noch stehen wir am Beginn einer alltäglichen Bahnreise. Kurz vor Anpfiff des Zuges. Es sei jener Moment der Stille, so der Autor, der einem vorkomme wie ein Atemholen der Zukunft. Ein Augenblick geheimnisvollen Innehaltens, der die meisten Menschen einen Herzschlag lang demütig aussehen lasse. Die Fahrt scheint endlos, doch der Zug stoppt jäh. Es folgt eine immer noch zunehmende Stille. Und die Ahnung wächst: Diese Reise scheint mehr zu meinen als die Entfernung zwischen hier und da.
Wir wissen nichts, wenn jemand stirbt ( ... ). Sicher ist nur so viel: Niemand auf der Welt kann ein Leben ( ... ) ungeschehen machen. Es ( ... ) wirkt ein auf den gegenwärtigen und wird einwirken auf den künftigen Zustand der Mysterien; und wie die Natur ( ... ) in Wahrheit keinen Tod kennt, sondern immer nur Verwandlung, endlos, so wird es im metaphysischen Bereich eine Entsprechung geben. ( ... ) und sieht man einmal ab von allem Persönlichen, könnte man den Eindruck gewinnen, das ganze Dasein, das leidige Werden und Vergehen, sei nichts als ein Blinzeln oder Augenzwinkern auf dem Grund einer allumfassenden Gelassenheit. Wäre das ein Trost?
Aus Gottes Sicht schon, für den Einzelnen wohl kaum. Wolf jedenfalls treibt die Angst vor Einsamkeit, Alter und Tod in die Arme von Alina. Ihre Liebe gibt ihm die nötige Bodenhaftung. Obwohl ihre Jugendstil-Schönheit mit der blassen, fast durchscheinend zarten Haut, den großen blauen Augen und dem kupferfarbenen Haar über der klaren, leicht sommersprossigen Stirn irgendwie nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Wie eine Schicksalsgöttin hatte sie in der Kreuzberger Wohnung mit geschlossenen Augen ihren Finger auf den Stadtplan getippt und bestimmt: Berlin Friedrichshagen. Hier werden wir leben. Mit der S-Bahn fahren sie hin. Schließlich finden sie die Traumwohnung mit Blick auf den See. Doch auch das geräumigste Paradies kann schnell zu eng werden. Wolf droht im kleinbürgerlichen Ost-Milieu an den Details der Zweisamkeit zu ersticken. Der Ausweg heißt Charlotte. Die auf Geschlechterforschung spezialisierte Professorin für Psychologie und Kommunikationswissenschaften lebt seit kurzem in Berlin. Genauso alt wie Wolf, findet er ihre erotische Anziehungskraft ungebrochen. Doch Alina scheint etwas zu ahnen. In einer als Satyrspiel arrangierten Szene in einer am See gelegenen Sauna mit Lustgarten und Labyrinth stellt sie ihm die "Gretchenfrage". "Oh Gott", murmelt Wolf zweideutig in hoch erotischen Nöten unter nächtlichem Himmel, "natürlich liebe ich dich." Erst als Wolf und Alina zu seinem fünfzigsten Geburtstag nach Paris fahren, gesteht er ihr seine Affäre. Alina ist tief getroffen. Dennoch duldet sie die Beziehung. Vielleicht, weil sie schon von ihrer tödlichen Krankheit weiß? Als der Befund feststeht, setzt Alina ohne Ankündigung ihrem Leben selbst ein Ende.
So überirdisch wie Alinas Liebe, so geheimnisvoll ist ihr Ende. Während Wolf in der Morgendämmerung vom Hochstand aus Rehe am See beobachtet, sucht Alina den Weg durch fast unzugängliches Dickicht zu einer Lichtung am nahen Weiher. Als Wolf vom momentlangen Blick in die glanzlosen Augen eines verletzten Bocks aufsieht und nach dem Hund sucht, ist er verschwunden.
Es ist nicht sicher, ob der Hund sie noch lebend gefunden hat. ( ... ) Zwei Pilzesammler ( ... ) hörten ( ... ) das Bellen und Jaulen ( ... ). als auch der andere Mann näher trat, ( ... ) entdeckte er die roten Haare und den unsagbar blassen Teint der Frau hinter den Lärchenzweigen, die über der Mulde hingen, dem Ruheplatz für ein Wild. Die Hände flach auf dem Solarplexus, lag sie dort wie gebettet, und trotz des Zwielichts, in dem ein Ohrring schimmerte, hob sich ihr regloses Profil mit dem geschwungenen Kinn und der geraden, vor der Wurzel etwas eingewölbten Nase deutlich ab, wie nachgezeichnet von einem Ernst, der kaum Zweifel zuließ. ( ... ) ein paar welke Fichtennadeln klebten an der Schläfe.
Ein mythologisches Stillleben von nahezu religiöser Dimension. Alinas madonnenhafte Reinheit wird durch den Tod verstärkt. Rehe und Hunde stehen bei Rothmann als Chiffre für das Wunderbare. Der Hund, Wolf sieht in ihm eine nicht zu entziffernde "vorzeitliche Hieroglyphe", begleitet Alina als Seelenführer auf ihrem letzten Weg. Und plötzlich leuchtet das Ende des roten Fadens vom Anfang der Erzählung durch den Text.
Die Erzählung entpuppt sich als gut getarnte Mischung von antiker Tragödie und modernem Mysterienspiel. Charlotte und Alina stehen für den Dualismus von Körper und Seele, Vergänglichkeit und zeitloser Schönheit, Eros und reiner Poesie. Wolf ist zwischen beiden hin- und hergerissen. Der Ausweg aus seinem Dilemma: sich in der Literatur die poetische Dreieinigkeit von Eros, Schönheit und Göttlichem zu erschreiben. Nicht zufällig endet der Roman mit dem Zitat von Meister Eckhart als mögliches Motto der Dissertation Alinas über die Spuren des Mystikers in der deutschen Romantik. Eckhart gilt den Romantikern als Leitfigur der Literarisierung mystischer Erfahrungen. Nach Eckhart vollzieht sich die "Unio mystica" in der prozesshaften Gottwerdung des Menschen als Menschwerdung Gottes im fortwährenden Gebären und Vergehen. Sie findet ihren Ausdruck im "Lassen seiner selbst", der im Anfangskapitel erwähnten "Gelassenheit". Gelungenes Schreiben als Moment religiöser Inbrunst? Diese Frage hatte damals zwischen Wolf und seinem literarischen Mentor zum Bruch geführt. Richard Sander – eine mögliche Anspielung auf Rothmanns Förderer Christoph Meckel – war ihm zunächst als heroische Lichtgestalt erschienen. Aus heiterem Himmel trifft ihn der Zorn des antiken Heroen im sommerlichen Arkadien seines Ferienhauses in Ligurien. Auf bloßen Füßen verschwindet Wolf am Morgen, seltsam erleichtert, aus dem Paradies des Dichterfürsten.
So viel Mythologie und Mystik wäre kaum zu verdauen, wäre da nicht die Rothmann-typische Bodenhaftung. Dessen, so Peter Handke, "mit Absicht verschmutzte Sprache auf der Suche nach Reinheit" tritt besonders deutlich in der "nackten Sprache der Körper" zwischen Wolf und seiner Geliebten hervor. Trotz Charlottes erotischer Anziehungskraft fallen Wolf immer wieder die unbarmherzigen Spuren der Zeit auf: der sehnige Hals, die schlaffere Haut unter den Augen, das dünnere Haar.
Ihr Mund ist seit kurzem aufgefrischt, ein dezentes, mit feinster Tätowiernadel aufgebrachtes Dauer-Make-up lässt ihn etwas jünger aussehen als das Gesicht, was diesem eine leicht makabre Note verleiht ( ... ). Sie erinnert ihn an die Heroin-Schönheiten der späten sechziger Jahre, und während sie ihrem Kuss trotz des schalen Büroatems einmal mehr die Konsistenz von sehr flüssigem Honig zu geben versteht, klappt sie blind den Laptop zu und zieht ihm das Handtuch von den Hüften.
Charlotte ist das vollkommene Gegenbild zur madonnenhaften Reinheit Alinas. Trotzdem oder gerade deswegen besitzt sie für Wolf geradezu animalischen Reiz. Ihr scharfer Intellekt, ihre gebieterische Zärtlichkeit, ihr offensiver Stolz auf die beruflichen Leistungen – die Währung ihrer Traurigkeit und Einsamkeit – stoßen ihn ab, ziehen ihn aber auch magisch an. Für Wolf war das Sexuelle seit je das Hauptsächliche im Leben. Nicht zufällig steht sein Namensvetter als Symbol für ungezügelte Triebkraft und animalische Gewalt. Doch schon in ihrer ersten Nacht im Hotel beschleicht Wolf die Ahnung: Ihre Affäre ist mehr als ein "Seitensprung aus sexuellen Gründen". Zwar denkt er nicht einen Moment daran, Alina zu verlassen. Doch obwohl er auch sie körperlich begehrt, fühlt er sich gefesselt und erdrückt von der Unantastbarkeit und Ausschließlichkeit ihrer Liebe. Charlotte ist es schließlich, die ihm klar macht: Ihr Sex ist Bedingung der harmonischen Beziehung mit Alina und notwendige Triebkraft für sein Schreiben.
Ohne mich würde deinem Dasein genau das fehlen, was dich vor dumpfer Resignation und Piefigkeit bewahrt. Ich bin nämlich der Lichtblick in deiner Enge; ohne mich wäre dein gepflegtes Zuhause nichts, der Schatten von nichts, wenn du verstehst, was ich meine. ( ... ) du hast dich im Nötigsten verkrochen, weil du Angst hast vor dem Möglichen. ( ... ) Ich bin es, die deinem Eros Feuer gibt, damit du Sätze schreibst, die man ohne Gähnkrämpfe lesen kann.
Wolf braucht beides: Charlottes Eros und Alinas Schönheit – zum Leben und zum Schreiben. Immerhin ist es Alina mit ihrem Vermögen aus Zuversicht und ihrem heiteren Pragmatismus, die ihm den Lebensalltag leicht und das Schreiben allererst möglich macht. Ein unschätzbares Glück für Wolf, der "die Welt liest wie einen Text und überall Zeichen sieht, meist für ein Unheil". Und ist nicht sie es, fragt Wolf sich beschämt, die im Gegensatz zu ihm die wirklich poetischen Dinge wahrnimmt wie die pelzige Unterseite eines Blattes, den Teegeruch mancher Pferde auf den Reitwegen im Wald, den Blick auf die Armbanduhr mit einer Hostie im Mund?
Und ist sie es nicht auch, die ihm mit ihrem unbedingten Zukunftswillen die "gottlose Angst" vor Krankheit und Tod nimmt? Denn er spürt nur allzu oft die Brüchigkeit seiner Existenz; meist in Momenten übernatürlicher Stille. Wie als im Hotel in Paris für einen Moment das Rauschen des Brunnens vor dem Haus aussetzt. Im Halbschlaf erscheint es ihm wie ein jähes Luftanhalten der Dinge. Es schnürt ihm die Kehle zu. Ein Blick in den Spiegel zeigt ihm nur seinen alternden Körper. Zur gleichen Zeit hört er den kindlich klingenden silbernen Seufzer Alinas im Schlaf und denkt an den Reiz der ältlichen Charlotte. Als der Brunnen plötzlich wieder rauscht, glaubt er eine Schrecksekunde lang, das Silber des Spiegels beginne zu fließen. Wie ein Kind hält er sich an Alinas Hüfte fest und begreift: Sie ist gerade das Untrüglichste an ihm, das Wahrhaftigste. Alina ist Teil seiner selbst. Und erst jetzt erschließt sich, warum der Anblick der damals zwanzigjährigen Buchhändlerin den Literaturstipendiaten im Sauerland so erschüttert hatte. Schon beim ersten Treffen hatte er gefühlt, ...
( ... ) hier neigt sich ihm etwas zu, das nicht unbedingt mit ihr zu tun hat; ( ... ) Ihr anschmiegsames Verständnis ( ... ) lässt sie Sätze sagen, deren sanfte Kraft etwas zurechtzurücken scheint in seinem Innern, und einen ungläubigen Moment lang hat er das Gefühl, dass ihre jeweiligen Geheimnisse einander aufheben und nichts mehr falsch ist an ihm ( ... ). Die Gespräche mögen mehr oder weniger alltägliche sein, ihr innerster Hall aber lotet eine Tiefe aus zwischen ihnen, in der sie sich seit jeher kennen und nie getrennt waren; und wenn sie schweigen ( ... ) umschließt sie diese stille, fraglos ohne Worte auskommende Übereinstimmung wie etwas Samtenes, ein unsichtbares Futteral.
Alinas Liebe ist zeitlose Schönheit, Wahrheit und reine Poesie. Und sie steht für den Glauben an das Wunderbare in ihm selbst, ohne den es für ihn kein Leben und kein Schreiben geben kann. Sie selbst hatte ihre Liebe einmal mit einer Kirche verglichen, irgendwo am bretonischen Meer, in der sie reglos Schulter an Schulter in der Stille gesessen hatten. Ein riesiger Spiegel, erinnert sich Wolf, reflektierte ein Bild, in dem beide eine unnennbare, nie gesehene, nicht wirklich sichtbare und doch seltsam schwingende dritte ergaben – ein Bild der heiligen Dreieinigkeit. Im silbrigen Leuchten schimmert, wie oft im Text, ein Abglanz des Göttlichen.
Alina begreift Transzendenz als Bestandteil der Welt. Wolf dagegen plagt sich mit den deutlichen Zeichen seines Alterns. In seinen Magenschmerzen sieht er schon die Vorboten des Todes. Eine Magen- und Darm-Spiegelung soll Klarheit bringen. Was ihn dort erwartet, hatte er allerdings nicht für möglich gehalten. Schon das Wartezimmer erscheint ihm als etwas seltsam Sakrales, ein "Raum der Demut" mit flackerndem Kerzenflämmchen und flüsternden Patienten. Und dann erst der Blick in sein eigenes schaurig-schönes Innenleben: Völlig unerwartet offenbart sich ihm die Schönheit seiner Eingeweide – ein extravagantes Epiphanie-Erlebnis nicht ohne Komik:
"Dann wollen wir mal tief in Ihr Innerstes schauen, Herr Schriftsteller ... Vielleicht finden wir ein paar Sonette. Ganz ruhig weiteratmen." ( ... ) Mit allem hatte er gerechnet, mit Blut und Schleim und Schlieren von Scheiße ( ... ) und dann das ( ... ). "Da staunen Sie, was? Der Mensch ist ein romantisches Röhrensystem." Staunen ist kein Ausdruck. Dass es in einem wie auch immer gearteten Jenseits nicht nur unvorstellbar ist, sondern vielleicht sogar unvorstellbar schön sein könnte – hier wird es ihm angedeutet mit lautloser Stimme. Alles innere, sei es nun geistig oder körperlich, war ihm bisher gleichbedeutend mit Chaos, Flüchtigkeit und dunklem Brodeln; doch in diesem verblüffenden, aus reinem Zartsinn geformten, bis in die kleinsten Schwünge und Krümmungen eleganten Kosmos drückt sich eine tiefe, sichtlich mehr als ihn und seinen Körper meinende Ordnung aus, ein fühlbares Wohlwollen, das auch deswegen so erschüttert, weil es ihm vor Augen führt, wie wenig würdig er sich ihm bisher erwiesen und wie viel Schindluder er damit getrieben hat. Wie dürftig sein Glaube war.
Vollkommen ungläubig reagiert Wolfs literarischer Mentor: Er habe von so etwas wie einer spirituellen Unterströmung in Wolfs Arbeiten gelesen; hier und da könne man Bezüge zur Bibel herstellen. Ob er auf seine alten Tage religiös geworden wäre, fragt er ihn. Wolf dagegen fragt sich, was "zum Teufel" dieser gealterte "Dichterdarsteller" hier in Friedenau von ihm will. "Natürlich bin ich nicht religiös, wie jeder Engel. Nur Gottlose beten." entgegnet er, sichtlich entnervt von Sanders Zudringlichkeit – und seinem "Pferdefuß" auf einem Bücherstapel. Am Folgetag liest er beschämt von Sanders Tod in der Zeitung.
Die versteckten Vorzeichen des Todes mehren sich im fünften und letzten "Der Morgen nach dem Tod" überschriebenen Kapitel. Da ist zum Beispiel die Einladung von Frau Seidenkrantz, Wolfs Friseuse. Ihre unscheinbare sehr alte, überlebensgroße, schlangenartige und pockennarbige Kaktee blüht immer nur in einer einzigen Sommernacht und dann lediglich für ein paar Stunden. Zu DDR-Zeiten seien ihr die konspirativen nächtlichen Treffen im Wintergarten zur Blütezeit der "Königin der Nacht" wie eine Art "Andacht" vorgekommen, so Frau Seidenkrantz. Mit ihr und ihrer Tante, einer zarten Greisin mit Haarknoten, und Ehepaar Mauch sitzen Wolf und Alina jetzt bei Kaffee und Kuchen und staunen über ...
( ... ) das gut zwei Stunden dauernde Aufblühen – vom zaghaften Öffnen der Knospen über das jähe, sich aus der spiraligen Anordnung herausdrehende Aufstrahlen der Kelchblätter, die, als würden sie mit ihrem eigenen Schwung nicht zurechtkommen, wieder leicht zurückfedern, bis hin zum vogelartigen Sich-aufplustern der Blüten mit den pinselförmigen Stempeln, ihrem schreienden weißen Ja! ( ... )
Auch für Wolf hat die reinweiße Blütenkrone etwas Hoheitliches und die Intensität des köstlich frischen Duftes etwas Atemberaubendes; ganz vertraut komme er einem vor und gleichzeitig nie erlebt, eine Note, die deutlich über das Biologische hinausweise. Die "Königin der Nacht" ist Ankündigung des Todes und Heilsversprechen in einem. Und sie steht für Wolfs ungeheuer schlichte späte Einsicht: Nur Flüchtiges blüht.
Die Zeit vergeht, Frau Mauch ist eingeschlafen, ( ... ) im Osten ist ein Hauch der Morgendämmerung zu ahnen, und schließlich sind alle Kronen aufgegangen und manche sogar schon wieder erloschen. ( ... ) und als Frau Seidenkranz erzählt, dass man früher ein Herzmittel daraus destillierte, und dabei ihre Tante ansieht, durchaus streng, steckt die sich trotzig eine neue Zigarette an. "Ja, ja", murmelt sie ( ... ). "Im nächsten Leben machen wir nur spirituelle Sachen, Weihwasser trinken und so ... ( ... ) Und jetzt reicht's mir, Kinder. Für eine verblühte Frau war das Poesie genug. Ich geh ins Bett, da kann ich wenigstens in Ruhe rauchen."
Das passende Schlusswort – unmittelbar vor dem Tod Alinas am Ende des Romans. Wie hier bei der alten Dame mit Berliner Schnauze kippen flapsige Bemerkungen laufend in philosophisch Hintersinniges, und umgekehrt. Alltagssprache wird systematisch mit religiösem Subtext unterlegt. "Feuer brennt nicht" ist ein neues Rothmannsches Meisterstück aus Andeutung und Verschweigen.
Obwohl die biographischen Verweise verblüffen: Rothmann und Frau wohnen in Berlin Friedenau und Wolfs Schriftstellerkarriere stimmt weitgehend mit seiner Biographie überein. Dennoch: Die eher triste Schriftstellerexistenz, verknüpft mit der zarten Liebesgeschichte voll sanfter Erotik, gewürzt mit dem leidenschaftlichen Sex der Affäre scheint mehr zu meinen als die Fiktionalisierung eines autobiographischen Lebensabschnitts.
Rothmann gelingt das Unmögliche: die Andeutung von Transzendenz, ohne dass der Text an Erdung verliert. Sein neuer Roman ist eine zärtlich-leidenschaftliche Liebesgeschichte, aber sie ist auch die atemberaubende Verbindung von Eros und Metaphysik, Sinnlichkeit und Übersinnlichem. "Feuer brennt nicht" ist ein Schriftstellerroman, aber er ist auch die Suche nach Momenten der Übereinstimmung von Literatur und Schönheit, Schreiben und Göttlichem. Letztlich geht es immer um die Suche nach Erlösung: über das kraft des Schreibens geschärfte Sehen, über die durch Poesie gesteigerte Wahrnehmung und Empfindung. So kann man Rothmanns Roman lesen. Muss man aber nicht. "Feuer brennt nicht" funktioniert auch ohne "Taschen-Metaphysik" und doppelten Boden. Zum einen durch Rothmanns immer selbstironischen Blick auf die Welt, wie sie ist und wie man sie sich gelegentlich wünschen würde. Zum anderen durch die faszinierende Bandbreite seine Sprache: die unglaublich vielfältigen Tonlagen von sinnlicher Zärtlichkeit bis zu derber Erotik, von feinsinniger Reflexion bis zu den kernigsten Sprüchen. Aber eigentlich möchte Rothmann noch mehr: das in uns tief verschüttete kindliche Staunen freilegen und ein wenig an unserem verkümmerten Nerv für das Wunderbare kitzeln.
Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht Suhrkamp 2009. 305 Seiten, 19,80 EUR.
Wir wissen nichts, wenn jemand stirbt ( ... ). Sicher ist nur so viel: Niemand auf der Welt kann ein Leben ( ... ) ungeschehen machen. Es ( ... ) wirkt ein auf den gegenwärtigen und wird einwirken auf den künftigen Zustand der Mysterien; und wie die Natur ( ... ) in Wahrheit keinen Tod kennt, sondern immer nur Verwandlung, endlos, so wird es im metaphysischen Bereich eine Entsprechung geben. ( ... ) und sieht man einmal ab von allem Persönlichen, könnte man den Eindruck gewinnen, das ganze Dasein, das leidige Werden und Vergehen, sei nichts als ein Blinzeln oder Augenzwinkern auf dem Grund einer allumfassenden Gelassenheit. Wäre das ein Trost?
Aus Gottes Sicht schon, für den Einzelnen wohl kaum. Wolf jedenfalls treibt die Angst vor Einsamkeit, Alter und Tod in die Arme von Alina. Ihre Liebe gibt ihm die nötige Bodenhaftung. Obwohl ihre Jugendstil-Schönheit mit der blassen, fast durchscheinend zarten Haut, den großen blauen Augen und dem kupferfarbenen Haar über der klaren, leicht sommersprossigen Stirn irgendwie nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Wie eine Schicksalsgöttin hatte sie in der Kreuzberger Wohnung mit geschlossenen Augen ihren Finger auf den Stadtplan getippt und bestimmt: Berlin Friedrichshagen. Hier werden wir leben. Mit der S-Bahn fahren sie hin. Schließlich finden sie die Traumwohnung mit Blick auf den See. Doch auch das geräumigste Paradies kann schnell zu eng werden. Wolf droht im kleinbürgerlichen Ost-Milieu an den Details der Zweisamkeit zu ersticken. Der Ausweg heißt Charlotte. Die auf Geschlechterforschung spezialisierte Professorin für Psychologie und Kommunikationswissenschaften lebt seit kurzem in Berlin. Genauso alt wie Wolf, findet er ihre erotische Anziehungskraft ungebrochen. Doch Alina scheint etwas zu ahnen. In einer als Satyrspiel arrangierten Szene in einer am See gelegenen Sauna mit Lustgarten und Labyrinth stellt sie ihm die "Gretchenfrage". "Oh Gott", murmelt Wolf zweideutig in hoch erotischen Nöten unter nächtlichem Himmel, "natürlich liebe ich dich." Erst als Wolf und Alina zu seinem fünfzigsten Geburtstag nach Paris fahren, gesteht er ihr seine Affäre. Alina ist tief getroffen. Dennoch duldet sie die Beziehung. Vielleicht, weil sie schon von ihrer tödlichen Krankheit weiß? Als der Befund feststeht, setzt Alina ohne Ankündigung ihrem Leben selbst ein Ende.
So überirdisch wie Alinas Liebe, so geheimnisvoll ist ihr Ende. Während Wolf in der Morgendämmerung vom Hochstand aus Rehe am See beobachtet, sucht Alina den Weg durch fast unzugängliches Dickicht zu einer Lichtung am nahen Weiher. Als Wolf vom momentlangen Blick in die glanzlosen Augen eines verletzten Bocks aufsieht und nach dem Hund sucht, ist er verschwunden.
Es ist nicht sicher, ob der Hund sie noch lebend gefunden hat. ( ... ) Zwei Pilzesammler ( ... ) hörten ( ... ) das Bellen und Jaulen ( ... ). als auch der andere Mann näher trat, ( ... ) entdeckte er die roten Haare und den unsagbar blassen Teint der Frau hinter den Lärchenzweigen, die über der Mulde hingen, dem Ruheplatz für ein Wild. Die Hände flach auf dem Solarplexus, lag sie dort wie gebettet, und trotz des Zwielichts, in dem ein Ohrring schimmerte, hob sich ihr regloses Profil mit dem geschwungenen Kinn und der geraden, vor der Wurzel etwas eingewölbten Nase deutlich ab, wie nachgezeichnet von einem Ernst, der kaum Zweifel zuließ. ( ... ) ein paar welke Fichtennadeln klebten an der Schläfe.
Ein mythologisches Stillleben von nahezu religiöser Dimension. Alinas madonnenhafte Reinheit wird durch den Tod verstärkt. Rehe und Hunde stehen bei Rothmann als Chiffre für das Wunderbare. Der Hund, Wolf sieht in ihm eine nicht zu entziffernde "vorzeitliche Hieroglyphe", begleitet Alina als Seelenführer auf ihrem letzten Weg. Und plötzlich leuchtet das Ende des roten Fadens vom Anfang der Erzählung durch den Text.
Die Erzählung entpuppt sich als gut getarnte Mischung von antiker Tragödie und modernem Mysterienspiel. Charlotte und Alina stehen für den Dualismus von Körper und Seele, Vergänglichkeit und zeitloser Schönheit, Eros und reiner Poesie. Wolf ist zwischen beiden hin- und hergerissen. Der Ausweg aus seinem Dilemma: sich in der Literatur die poetische Dreieinigkeit von Eros, Schönheit und Göttlichem zu erschreiben. Nicht zufällig endet der Roman mit dem Zitat von Meister Eckhart als mögliches Motto der Dissertation Alinas über die Spuren des Mystikers in der deutschen Romantik. Eckhart gilt den Romantikern als Leitfigur der Literarisierung mystischer Erfahrungen. Nach Eckhart vollzieht sich die "Unio mystica" in der prozesshaften Gottwerdung des Menschen als Menschwerdung Gottes im fortwährenden Gebären und Vergehen. Sie findet ihren Ausdruck im "Lassen seiner selbst", der im Anfangskapitel erwähnten "Gelassenheit". Gelungenes Schreiben als Moment religiöser Inbrunst? Diese Frage hatte damals zwischen Wolf und seinem literarischen Mentor zum Bruch geführt. Richard Sander – eine mögliche Anspielung auf Rothmanns Förderer Christoph Meckel – war ihm zunächst als heroische Lichtgestalt erschienen. Aus heiterem Himmel trifft ihn der Zorn des antiken Heroen im sommerlichen Arkadien seines Ferienhauses in Ligurien. Auf bloßen Füßen verschwindet Wolf am Morgen, seltsam erleichtert, aus dem Paradies des Dichterfürsten.
So viel Mythologie und Mystik wäre kaum zu verdauen, wäre da nicht die Rothmann-typische Bodenhaftung. Dessen, so Peter Handke, "mit Absicht verschmutzte Sprache auf der Suche nach Reinheit" tritt besonders deutlich in der "nackten Sprache der Körper" zwischen Wolf und seiner Geliebten hervor. Trotz Charlottes erotischer Anziehungskraft fallen Wolf immer wieder die unbarmherzigen Spuren der Zeit auf: der sehnige Hals, die schlaffere Haut unter den Augen, das dünnere Haar.
Ihr Mund ist seit kurzem aufgefrischt, ein dezentes, mit feinster Tätowiernadel aufgebrachtes Dauer-Make-up lässt ihn etwas jünger aussehen als das Gesicht, was diesem eine leicht makabre Note verleiht ( ... ). Sie erinnert ihn an die Heroin-Schönheiten der späten sechziger Jahre, und während sie ihrem Kuss trotz des schalen Büroatems einmal mehr die Konsistenz von sehr flüssigem Honig zu geben versteht, klappt sie blind den Laptop zu und zieht ihm das Handtuch von den Hüften.
Charlotte ist das vollkommene Gegenbild zur madonnenhaften Reinheit Alinas. Trotzdem oder gerade deswegen besitzt sie für Wolf geradezu animalischen Reiz. Ihr scharfer Intellekt, ihre gebieterische Zärtlichkeit, ihr offensiver Stolz auf die beruflichen Leistungen – die Währung ihrer Traurigkeit und Einsamkeit – stoßen ihn ab, ziehen ihn aber auch magisch an. Für Wolf war das Sexuelle seit je das Hauptsächliche im Leben. Nicht zufällig steht sein Namensvetter als Symbol für ungezügelte Triebkraft und animalische Gewalt. Doch schon in ihrer ersten Nacht im Hotel beschleicht Wolf die Ahnung: Ihre Affäre ist mehr als ein "Seitensprung aus sexuellen Gründen". Zwar denkt er nicht einen Moment daran, Alina zu verlassen. Doch obwohl er auch sie körperlich begehrt, fühlt er sich gefesselt und erdrückt von der Unantastbarkeit und Ausschließlichkeit ihrer Liebe. Charlotte ist es schließlich, die ihm klar macht: Ihr Sex ist Bedingung der harmonischen Beziehung mit Alina und notwendige Triebkraft für sein Schreiben.
Ohne mich würde deinem Dasein genau das fehlen, was dich vor dumpfer Resignation und Piefigkeit bewahrt. Ich bin nämlich der Lichtblick in deiner Enge; ohne mich wäre dein gepflegtes Zuhause nichts, der Schatten von nichts, wenn du verstehst, was ich meine. ( ... ) du hast dich im Nötigsten verkrochen, weil du Angst hast vor dem Möglichen. ( ... ) Ich bin es, die deinem Eros Feuer gibt, damit du Sätze schreibst, die man ohne Gähnkrämpfe lesen kann.
Wolf braucht beides: Charlottes Eros und Alinas Schönheit – zum Leben und zum Schreiben. Immerhin ist es Alina mit ihrem Vermögen aus Zuversicht und ihrem heiteren Pragmatismus, die ihm den Lebensalltag leicht und das Schreiben allererst möglich macht. Ein unschätzbares Glück für Wolf, der "die Welt liest wie einen Text und überall Zeichen sieht, meist für ein Unheil". Und ist nicht sie es, fragt Wolf sich beschämt, die im Gegensatz zu ihm die wirklich poetischen Dinge wahrnimmt wie die pelzige Unterseite eines Blattes, den Teegeruch mancher Pferde auf den Reitwegen im Wald, den Blick auf die Armbanduhr mit einer Hostie im Mund?
Und ist sie es nicht auch, die ihm mit ihrem unbedingten Zukunftswillen die "gottlose Angst" vor Krankheit und Tod nimmt? Denn er spürt nur allzu oft die Brüchigkeit seiner Existenz; meist in Momenten übernatürlicher Stille. Wie als im Hotel in Paris für einen Moment das Rauschen des Brunnens vor dem Haus aussetzt. Im Halbschlaf erscheint es ihm wie ein jähes Luftanhalten der Dinge. Es schnürt ihm die Kehle zu. Ein Blick in den Spiegel zeigt ihm nur seinen alternden Körper. Zur gleichen Zeit hört er den kindlich klingenden silbernen Seufzer Alinas im Schlaf und denkt an den Reiz der ältlichen Charlotte. Als der Brunnen plötzlich wieder rauscht, glaubt er eine Schrecksekunde lang, das Silber des Spiegels beginne zu fließen. Wie ein Kind hält er sich an Alinas Hüfte fest und begreift: Sie ist gerade das Untrüglichste an ihm, das Wahrhaftigste. Alina ist Teil seiner selbst. Und erst jetzt erschließt sich, warum der Anblick der damals zwanzigjährigen Buchhändlerin den Literaturstipendiaten im Sauerland so erschüttert hatte. Schon beim ersten Treffen hatte er gefühlt, ...
( ... ) hier neigt sich ihm etwas zu, das nicht unbedingt mit ihr zu tun hat; ( ... ) Ihr anschmiegsames Verständnis ( ... ) lässt sie Sätze sagen, deren sanfte Kraft etwas zurechtzurücken scheint in seinem Innern, und einen ungläubigen Moment lang hat er das Gefühl, dass ihre jeweiligen Geheimnisse einander aufheben und nichts mehr falsch ist an ihm ( ... ). Die Gespräche mögen mehr oder weniger alltägliche sein, ihr innerster Hall aber lotet eine Tiefe aus zwischen ihnen, in der sie sich seit jeher kennen und nie getrennt waren; und wenn sie schweigen ( ... ) umschließt sie diese stille, fraglos ohne Worte auskommende Übereinstimmung wie etwas Samtenes, ein unsichtbares Futteral.
Alinas Liebe ist zeitlose Schönheit, Wahrheit und reine Poesie. Und sie steht für den Glauben an das Wunderbare in ihm selbst, ohne den es für ihn kein Leben und kein Schreiben geben kann. Sie selbst hatte ihre Liebe einmal mit einer Kirche verglichen, irgendwo am bretonischen Meer, in der sie reglos Schulter an Schulter in der Stille gesessen hatten. Ein riesiger Spiegel, erinnert sich Wolf, reflektierte ein Bild, in dem beide eine unnennbare, nie gesehene, nicht wirklich sichtbare und doch seltsam schwingende dritte ergaben – ein Bild der heiligen Dreieinigkeit. Im silbrigen Leuchten schimmert, wie oft im Text, ein Abglanz des Göttlichen.
Alina begreift Transzendenz als Bestandteil der Welt. Wolf dagegen plagt sich mit den deutlichen Zeichen seines Alterns. In seinen Magenschmerzen sieht er schon die Vorboten des Todes. Eine Magen- und Darm-Spiegelung soll Klarheit bringen. Was ihn dort erwartet, hatte er allerdings nicht für möglich gehalten. Schon das Wartezimmer erscheint ihm als etwas seltsam Sakrales, ein "Raum der Demut" mit flackerndem Kerzenflämmchen und flüsternden Patienten. Und dann erst der Blick in sein eigenes schaurig-schönes Innenleben: Völlig unerwartet offenbart sich ihm die Schönheit seiner Eingeweide – ein extravagantes Epiphanie-Erlebnis nicht ohne Komik:
"Dann wollen wir mal tief in Ihr Innerstes schauen, Herr Schriftsteller ... Vielleicht finden wir ein paar Sonette. Ganz ruhig weiteratmen." ( ... ) Mit allem hatte er gerechnet, mit Blut und Schleim und Schlieren von Scheiße ( ... ) und dann das ( ... ). "Da staunen Sie, was? Der Mensch ist ein romantisches Röhrensystem." Staunen ist kein Ausdruck. Dass es in einem wie auch immer gearteten Jenseits nicht nur unvorstellbar ist, sondern vielleicht sogar unvorstellbar schön sein könnte – hier wird es ihm angedeutet mit lautloser Stimme. Alles innere, sei es nun geistig oder körperlich, war ihm bisher gleichbedeutend mit Chaos, Flüchtigkeit und dunklem Brodeln; doch in diesem verblüffenden, aus reinem Zartsinn geformten, bis in die kleinsten Schwünge und Krümmungen eleganten Kosmos drückt sich eine tiefe, sichtlich mehr als ihn und seinen Körper meinende Ordnung aus, ein fühlbares Wohlwollen, das auch deswegen so erschüttert, weil es ihm vor Augen führt, wie wenig würdig er sich ihm bisher erwiesen und wie viel Schindluder er damit getrieben hat. Wie dürftig sein Glaube war.
Vollkommen ungläubig reagiert Wolfs literarischer Mentor: Er habe von so etwas wie einer spirituellen Unterströmung in Wolfs Arbeiten gelesen; hier und da könne man Bezüge zur Bibel herstellen. Ob er auf seine alten Tage religiös geworden wäre, fragt er ihn. Wolf dagegen fragt sich, was "zum Teufel" dieser gealterte "Dichterdarsteller" hier in Friedenau von ihm will. "Natürlich bin ich nicht religiös, wie jeder Engel. Nur Gottlose beten." entgegnet er, sichtlich entnervt von Sanders Zudringlichkeit – und seinem "Pferdefuß" auf einem Bücherstapel. Am Folgetag liest er beschämt von Sanders Tod in der Zeitung.
Die versteckten Vorzeichen des Todes mehren sich im fünften und letzten "Der Morgen nach dem Tod" überschriebenen Kapitel. Da ist zum Beispiel die Einladung von Frau Seidenkrantz, Wolfs Friseuse. Ihre unscheinbare sehr alte, überlebensgroße, schlangenartige und pockennarbige Kaktee blüht immer nur in einer einzigen Sommernacht und dann lediglich für ein paar Stunden. Zu DDR-Zeiten seien ihr die konspirativen nächtlichen Treffen im Wintergarten zur Blütezeit der "Königin der Nacht" wie eine Art "Andacht" vorgekommen, so Frau Seidenkrantz. Mit ihr und ihrer Tante, einer zarten Greisin mit Haarknoten, und Ehepaar Mauch sitzen Wolf und Alina jetzt bei Kaffee und Kuchen und staunen über ...
( ... ) das gut zwei Stunden dauernde Aufblühen – vom zaghaften Öffnen der Knospen über das jähe, sich aus der spiraligen Anordnung herausdrehende Aufstrahlen der Kelchblätter, die, als würden sie mit ihrem eigenen Schwung nicht zurechtkommen, wieder leicht zurückfedern, bis hin zum vogelartigen Sich-aufplustern der Blüten mit den pinselförmigen Stempeln, ihrem schreienden weißen Ja! ( ... )
Auch für Wolf hat die reinweiße Blütenkrone etwas Hoheitliches und die Intensität des köstlich frischen Duftes etwas Atemberaubendes; ganz vertraut komme er einem vor und gleichzeitig nie erlebt, eine Note, die deutlich über das Biologische hinausweise. Die "Königin der Nacht" ist Ankündigung des Todes und Heilsversprechen in einem. Und sie steht für Wolfs ungeheuer schlichte späte Einsicht: Nur Flüchtiges blüht.
Die Zeit vergeht, Frau Mauch ist eingeschlafen, ( ... ) im Osten ist ein Hauch der Morgendämmerung zu ahnen, und schließlich sind alle Kronen aufgegangen und manche sogar schon wieder erloschen. ( ... ) und als Frau Seidenkranz erzählt, dass man früher ein Herzmittel daraus destillierte, und dabei ihre Tante ansieht, durchaus streng, steckt die sich trotzig eine neue Zigarette an. "Ja, ja", murmelt sie ( ... ). "Im nächsten Leben machen wir nur spirituelle Sachen, Weihwasser trinken und so ... ( ... ) Und jetzt reicht's mir, Kinder. Für eine verblühte Frau war das Poesie genug. Ich geh ins Bett, da kann ich wenigstens in Ruhe rauchen."
Das passende Schlusswort – unmittelbar vor dem Tod Alinas am Ende des Romans. Wie hier bei der alten Dame mit Berliner Schnauze kippen flapsige Bemerkungen laufend in philosophisch Hintersinniges, und umgekehrt. Alltagssprache wird systematisch mit religiösem Subtext unterlegt. "Feuer brennt nicht" ist ein neues Rothmannsches Meisterstück aus Andeutung und Verschweigen.
Obwohl die biographischen Verweise verblüffen: Rothmann und Frau wohnen in Berlin Friedenau und Wolfs Schriftstellerkarriere stimmt weitgehend mit seiner Biographie überein. Dennoch: Die eher triste Schriftstellerexistenz, verknüpft mit der zarten Liebesgeschichte voll sanfter Erotik, gewürzt mit dem leidenschaftlichen Sex der Affäre scheint mehr zu meinen als die Fiktionalisierung eines autobiographischen Lebensabschnitts.
Rothmann gelingt das Unmögliche: die Andeutung von Transzendenz, ohne dass der Text an Erdung verliert. Sein neuer Roman ist eine zärtlich-leidenschaftliche Liebesgeschichte, aber sie ist auch die atemberaubende Verbindung von Eros und Metaphysik, Sinnlichkeit und Übersinnlichem. "Feuer brennt nicht" ist ein Schriftstellerroman, aber er ist auch die Suche nach Momenten der Übereinstimmung von Literatur und Schönheit, Schreiben und Göttlichem. Letztlich geht es immer um die Suche nach Erlösung: über das kraft des Schreibens geschärfte Sehen, über die durch Poesie gesteigerte Wahrnehmung und Empfindung. So kann man Rothmanns Roman lesen. Muss man aber nicht. "Feuer brennt nicht" funktioniert auch ohne "Taschen-Metaphysik" und doppelten Boden. Zum einen durch Rothmanns immer selbstironischen Blick auf die Welt, wie sie ist und wie man sie sich gelegentlich wünschen würde. Zum anderen durch die faszinierende Bandbreite seine Sprache: die unglaublich vielfältigen Tonlagen von sinnlicher Zärtlichkeit bis zu derber Erotik, von feinsinniger Reflexion bis zu den kernigsten Sprüchen. Aber eigentlich möchte Rothmann noch mehr: das in uns tief verschüttete kindliche Staunen freilegen und ein wenig an unserem verkümmerten Nerv für das Wunderbare kitzeln.
Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht Suhrkamp 2009. 305 Seiten, 19,80 EUR.