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Edo Popović: "Anleitung zum Gehen"
Die Entschleunigung der Zeit

Er atmet Wolken, schützt sich vor Wind und Regen und genießt die Einsamkeit in Berghütten: Der kroatische Autor Edo Popović setzt sich in seinem Buch mit der Welt, in der er lebt, auseinander und berichtet von seinen Wanderungen im Velebit-Gebirge. Sein Buch ist eine kritische Betrachtung über Zeit, Mensch und Natur.

Von Ralph Gerstenberg |
    Der kroatische Schriftsteller Edo Popovic
    Der kroatische Schriftsteller Edo Popovic (dpa / picture alliance / Jens Kalaene)
    Zivilisationskritik ist vermutlich so alt wie die Zivilisation selbst. Entfremdung und Sinnverlust in der unbeirrbar voranschreitenden Menschheitsentwicklung beklagte bereits Epikur, indem er das eitle Streben nach Besitz in seiner Maßlosigkeit anprangerte. Montaigne hinterfragte in seinen Essays die Selbstgewissheit des abendländischen Fortschrittsdenkens, während der Aussteiger Henry David Thoreau Mitte des 19. Jahrhunderts dieses als eindeutigen Grund für geistige Verarmung und Unfreiheit ausmachte. Es sei kein großer Unterschied, ob man auf einer Farm eingesperrt sei oder in einem Gefängnis, erläuterte Thoreau in seiner Aussteigerbibel "Walden oder Leben in den Wäldern". Zitiert wird er mit diesem Satz von dem kroatischen Schriftsteller Edo Popović in dessen Buch "Anleitung zum Gehen". Der Mensch, so Popović, habe es gelernt, aufrecht zu gehen, zu denken und zu sprechen, zugleich habe er jedoch verlernt, mit der Natur im Einklang zu leben.
    "Er hat meist seinen eigenen Unterschlupf, für den er Miete und Nebenkosten entrichtet oder Kredite abbezahlt. Er wacht morgens früh auf, aber seinen Rhythmus bestimmen nicht mehr Sonne und Mond, sondern seine Vorgesetzten."
    Alles wird immer schneller und lauter. Der Homo sapiens zieht Grenzen, baut Mauern, häuft unnütze Dinge an und starrt unentwegt auf Bildschirme – zu Hause und unterwegs. Gegen die Inaktivität, die sinnlose Ablenkung, das Zeittotschlagen, die Reizüberflutung und den alles beherrschenden Konsum setzt Edo Popović die Bewegung, die Neugier, die Stille, die Wahrnehmung des eigenen Selbst. Er ruft dazu auf, das zu tun, womit unsere Vorfahren vor vier Millionen Jahren begonnen haben: zu gehen.
    "Gehen wir die Bürgersteige entlang, vorbei an Schaufenstern, gehen wir durch den Park, über den Jahrmarkt, gehen wir in den Wald, gehen wir durch die Felsen, gehen wir die Küste entlang, gehen wir in irgendeine Richtung – egal in welche. Beim Gehen werden wir die eigenen Schritte hören und auch den eigenen Atem und das eigene Herz, und wenn wir uns vollständig entspannen, werden wir auch unsere eigenen Gedanken hören."
    Die Natur fragt weder nach einem Sinn noch nach der Zukunft
    Auch wenn der Verlag das Buch als "poetischen Ratgeber" bewirbt, gehört "Anleitung zum Gehen" nicht in die Ratgeberecke. Edo Popović versucht keine lebensklugen Einsichten zu verbreiten, er kennt kein Rezept zur Rettung der Menschheit, sondern setzt sich als Schriftsteller mit der Welt, in der er lebt, auseinander, damit, warum sie so geworden ist, wie sie ihm nicht gefällt. Am Anfang dieser Auseinandersetzung standen eigene Gehversuche im Gebirge. Seit 2006 durchwandert, erklettert, erkundet Popović den Velebit, einen Gebirgszug an der Küste Kroatiens. Auslöser für diese Bergtouren war eine chronische Lungenerkrankung - das Beste, resümiert Popović, was ihm in den letzten Jahren widerfahren sei, und fügt in schöner Lakonie hinzu:
    "Ich gab zuerst einmal das Rauchen auf. Es gab einige weitere sinnlose Dinge, denen ich zur selben Zeit den Rücken kehrte: dem Journalismus, den kroatischen Literaturkreisen und einigen anderen Überflüssigkeiten. So ist das Leben. Im selben Paket liegen Penicillin und die Atombombe."
    Die Natur, stellt Edo Popović auf seinen Gebirgswanderungen fest, fragt weder nach einem Sinn noch nach der Zukunft, sie ist einfach da, von überwältigender Schönheit, geformt in Millionen von Jahren von einem "Meister Namenlos". Popović lernt, sie in ihrer Vielfalt zu lesen, sich in ihr zu bewegen. In den Bergen atmet er Wolken, schützt sich vor Wind und Regen, genießt die Einsamkeit in Berghütten, lernt Gefahren einzuschätzen und Wetteränderungen am Verhalten von Pferden zu erkennen. Er lernt sich als Naturwesen kennen, spürt die Entschleunigung der Zeit, nimmt den Rhythmus von Sonne und Mond an und fühlt sich gut, ohne einen bestimmten Erfolg feiern zu können oder sich mit einer Neuanschaffung belohnt zu haben.
    "All das, was wir begehren, hat auf dem Berg keinen Wert und keine Bedeutung"
    "Wenn ich etwas erfahren habe, während ich im Velebit-Gebirge wanderte, dann war es das Folgende: All das, was wir begehren, zum Beispiel Erfolg, Geld, Besitz, Ruhm. Ansehen und Macht, und wofür wir bereit sind, jahrelang zu schuften, uns zu verkaufen, zu intrigieren, Freunde zu verraten, uns zu erniedrigen, Menschen zu manipulieren oder sie zu zertreten, hat auf dem Berg keinen Wert und keine Bedeutung. Wenn diese Dinge auf dem Berg keinen Wert haben, wie können sie dann irgendwo anders einen Wert haben?"
    Nicht jeder Gedanke, den Edo Popović in seiner "Anleitung zum Gehen" äußert, ist wirklich neu. Vieles wurde schon lange vor ihm formuliert – von Lao Tse, T.S. Eliot oder Antoine de Saint-Exupéry, die er auf seinen Wandertouren liest und in seinem Buch immer wieder zitiert. Doch Popović scheut sich nicht, das tausendmal Gesagte noch einmal zu sagen, in dem Bewusstsein, nicht der erste und nicht der letzte Mensch zu sein, der die Erfahrung macht, dass alles, was man wirklich braucht, "in einen 40-Liter-Rucksack passt". Originell ist Edo Popović dennoch in der Art und Weise, wie er sich seinen neuen Lebensraum erschließt und den Leser an seinen Bergwelterkundungen teilhaben lässt - in einer Sprache, die im besten Sinne poetisch, also beseelt ist. Ein Spinnennetz über einer Wasseroberfläche oder die rasiermesserscharf vom Wind geformten Kieferkronen an der Baumgrenze können Anlass für ein Nachdenken über den Lauf der Dinge und die überlegene Schönheit der Natur im Vergleich zu jedem Menschenwerk werden. Seine Wahrnehmungen, Beobachtungen, Geschichten und Reflexionen ergänzt Popović mit selbstgeschossenen Farbfotos aus dem Velebit-Gebirge, die den faszinierten Blick des Autors eindrucksvoll illustrieren. So gelingt Edo Popović mit "Anleitung zum Gehen" ein sehr persönliches Buch, mit dem er festen Schritts in die Fußstapfen berühmter Zivilisationskritiker, Aussteiger und Optimierungsgegner tritt.
    Edo Popović: "Anleitung zum Gehen"
    Aus dem Kroatischen von Alida Bremer, Luchterhand Literaturverlag, 176 Seiten, 16,99 Euro.