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Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement gestorben
"Eigentlich habe ich mir nie vorgestellt, aktiver Politiker zu werden"

Der ehemalige Bundeswirtschaftsminister und nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement ist tot. Der 80-Jährige ist am frühen Sonntagmorgen zu Hause in Bonn friedlich in seinem Bett gestorben, gab die Familie bekannt. Im Zeitzeugengespräch erinnert er sich an seine Anfänge in Bochum, die Jahre im Journalismus und in der Politik sowie seinen Lebensabend.

Wolfgang Clement im Gespräch mit Stephan Detjen |
    Wolfgang Clement, ehemaliger Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit.
    Wolfgang Clement, ehemaliger Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit. (picture alliance/Rolf Vennenbernd/dpa)
    Dr. h. c. Wolfgang Clement. Geboren im Juli 1940 in Bochum, gestorben am 28.9.2020 in Bonn. Studium der Rechtswissenschaften. Zeitgleich Volontariat bei der "Westfälischen Rundschau". Dort später stellvertretender Chefredakteur. Erstes Juristisches Staatsexamen 1965. Rechtsreferendar und wissenschaftlicher Assistent an der Universität Marburg. Chefredakteur der "Hamburger Morgenpost" von 1986 bis 1989. SPD-Mitglied von 1970 bis 2008. SPD-Sprecher in den Jahren 1981 bis 1986. 1989 Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen. 1990 Minister für besondere Aufgaben. 1995 Minister für Wirtschaft, Mittelstand, Technologie und Verkehr. In Nachfolge von Johannes Rau von 1998 bis 2002 dann Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Schließlich Wechsel in das zweite Bundeskabinett von Gerhard Schröder und dort in den Jahren 2002 bis 2005 Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit. Am 25. November 2008 Austritt aus der SPD. Verheiratet, fünf Töchter.

    Wolfgang Clement: Wir sind die klassische Wiederaufbauregeneration. Es ist die, wenn Sie so wollen,die Wirtschaftswundergeneration.

    Frühe Prägung. Trümmerlandschaft und Aufbauwille.

    Stephan Detjen: Herr Clement, Sie sind ein Kind des Ruhrgebiets. 1940 in Bochum geboren, das ist die Stadt, die eigentlich für all das steht, was man so gemeinhin mit dem Ruhrgebiet verbindet. Vor Arbeit ganz grau, total verbaut, aber ehrlich, mit Herz und einem Pulsschlag aus Stahl. Das sind - Sie lächeln schon - das sind Begriffe, die Herbert Grönemeyer in seiner Hymne auf die Stadt, auf das Ruhrgebiet geprägt hat. Ist das die Heimat, die Sie als Heimat so wiedererkennen?

    Clement: Ja natürlich. Da habe ich von Kindesbeinen an gelebt. Da sind wir ausgebombt worden. Ich kenne ja Bochum noch, als es total zerstört war. Ich bin aus der Evakuierung - wir wurden 1942 ausgebombt - 45 zurückgekommen. Wir haben nur in Trümmern gelebt und haben seitdem diesen Wuchs dieser Stadt erlebt mit Kohle und Stahl. Ich glaube, zu meiner Zeit, als ich noch auf der Schule war, hatten wir noch 21 Zechen in Bochum und alle mit vielen Tausend Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und Chemie, das waren so die prägenden Industrien, und davon ist nichts mehr da, so gut wie nichts mehr da, und es hat sich Neues herausgebildet. Also es ist heute eine Stadt in Wahrheit, die sehr stark geprägt ist durch die Universität, durch eine hervorragende Universität, die binnen 40 Jahren zu einer der besten deutschen Universitäten geworden ist. Was ja wirklich eine tolle Leistung ist, die uns im Ruhrgebiet niemand zugetraut hätte. Mit einem Schauspielhaus, mit neuen Unternehmen, allerdings noch zu wenigen. Eine Stadt, die immer noch Probleme hat mit der Vergangenheit. Also es ist schon in Grönemeyers Song ganz richtig beschrieben. Aber es ist eine Stadt im Wandel, aber immer noch mit eigentlichen denselben Menschen, die aus aller Herren Länder zusammengekommen sind.

    Detjen: Gehen wir am Anfang dieses Gesprächs noch mal in Ihre Kindheit zurück. Sie haben das erwähnt, eine zerstörte Stadt. Fast 40 Prozent waren zerbombt am Ende des Krieges. Wie haben diese Erinnerungen, Sie waren da fünf, dann in den Nachkriegsjahren sechs, sieben Jahre, das war an dem Anfang der Schulzeit, wie hat Sie das geprägt, wie deutlich ist Ihnen das in Erinnerung geblieben?

    Clement: Ja, ich habe alles vor Augen da eigentlich. Schon die Evakuierung, nicht das Ausbomben, da bin ich noch im Waschkorb aus dem Keller getragen worden, aber die Evakuierung im Münsterland, wozu ich heute noch Kontakt habe, zu dem Ort Ostenfelde bei Oelde, wo wir evakuiert waren und dann 45 zurückgekommen sind. Wir haben dann in Trümmern gelebt buchstäblich. Und das ist dann wieder aufgebaut worden. Mein Vater, mein Onkel waren alle mit dem Bauen beschäftigt, und wir sind seitdem, das ist so meine Erinnerung, eigentlich immer wieder, immer weiter aufwärts gegangen. Von da aus wurde es immer besser in Deutschland. Das ist ja das, was auch meine Generation geprägt hat. Wir sind die klassische Wiederaufbaugeneration, die eigentlich den Aufschwung permanent erlebt hat. Und deshalb tun wir uns natürlich auch schwer, mit dem Abschwung umzugehen. Aber es ist die, wenn Sie so wollen, die Wirtschaftswundergeneration. Den Krieg haben wir nicht mehr erlitten so in der eigenen Wahrnehmung, aber den Wiederaufbau haben wir erlebt, und das ist der Vorteil unserer Generation.

    Clement: Der Qualitätsjournalismus wird überleben, weil ich meine, er muss überleben, und deshalb hoffe ich, dass es noch genügend Menschen gibt, die dazu beitragen, dass er überleben kann. Aber dazu gehört erheblich mehr, als heute geboten wird.

    Beruflicher Doppelstart. Journalist und Jurist.

    Detjen: Sie sind Journalist geworden, aber studiert haben Sie Jura. Warum sind Sie nicht Anwalt oder Richter geworden, das, was man normaler Weise tut, wenn man dieses Studium aufnimmt und abschließt?

    Clement: Ich wollte eigentlich von Anfang an Journalist werden, nicht eigentlich, sondern ich wollte Journalist von Anfang an werden, aber meine Eltern, mein Vater zumal, hat sich damit ein bisschen schwergetan, insbesondere weil ich so nach dem Abitur als Zeilenjournalist, als freier Mitarbeiter, wie das so etwas hochtrabend hieß, auf der Lokalebene begann. Acht Pfennig pro Zeile verdienten wir, ich kam so auf 90 D-Mark damals im Monat. Das fand mein Vater etwas wenig fürs künftige Leben und meinte, ich sollte etwas Anständiges dazu lernen. Da blieb die Juristerei, wie vielfach ja in diesem Genre, und so habe ich eben Juristerei studiert, habe das Examen gemacht, aber ich habe während des ganzen Studiums weiter als Journalist gearbeitet, volontiert, sodass ich 1965, als das vorbei war, sowohl das juristische Staatsexamen, das erste hatte und zweitens auch das Zeitungsvolontariat. Und dann bin ich langsam aber sicher in den Journalismus endgültig gegangen.

    Detjen: War auch mit einiger Zeit dann noch als Assistent an der Universität einer begonnenen Promotion bei Ingo von Münch, ein Staatsrechtslehrer, der dann später FDP-Politiker, dann Wissenschafts- und Kultursenator in Hamburg wurde.

    Clement: Das war ganz amüsant. Also ich habe zunächst mal,nach dem juristischen Staatsexamen habe ich zunächst mal ein oder anderthalb Jahre als Referendar gearbeitet. Wir mussten damals zwei oder drei Jahre Referendariat machen, das habe ich nicht getan, sondern bin mit einem Professor, mit dem ich heute noch Kontakt habe, Professor Schlosser, zum Institut für Prozessrecht nach Marburg gegangen. Da war ich dann schon verheiratet und von da aus dann zurück zur Zeitung. Also etwas so ein bisschen diese Unsicherheit, soll ich denn jetzt endgültig in den Journalismus gehen oder doch in die Juristerei. Dann bin ich endgültig in den Journalismus gegangen und habe über Ingo von Münch an der Bochumer Universität solch ein bisschen als Hilfsassistent noch gearbeitet, weil ich nicht völlig den Kontakt zur Jurisprudenz verlieren wollte. Und das Amüsante ist, dass ich dann eben ja, wie Sie sagen, Professor von München, den ich auch sehr mag und sehr schätze, wiedergetroffen habe. Er war ein Senator der Freien und Hansestadt Hamburg und ich war hier zunächst mal Staatssekretär und alles mögliche in Nordrhein-Westfalen.

    Detjen: Sie haben Marburg eben erwähnt. Das war damals in den mittleren, späteren 60er-Jahren ein Zentrum einer neuen dezidiert linken Politikwissenschaft, auch Staatsrechtslehre. Wolfgang Abendroth war da. Das war eines der Zentren der Studentenbewegung. Wie haben Sie das mit erlebt?

    Clement: Das stimmt, das war ...

    Detjen: Haben Sie sich da als ein Teil empfunden oder waren Sie da eher außen?

    Clement: Ich muss klar sagen, ich habe mich damit nicht identifiziert, sondern bin meinen Aufgaben nachgegangen, sowohl als Assistent bei Herrn Schlosser - wir haben damals gearbeitet an einem Kommentar zum Prozessrecht - als auch dann, 68er-, 69er-Jahre, da bin ich ja schon bei der Zeitung gewesen. Wir haben das beobachtet, diskutiert und kommentiert, aber uns nicht selbst beteiligt. Das war schon meine journalistische Zeit eigentlich.

    Detjen: Können Sie sich ein Leben ohne Zeitungen vorstellen? Kennen Sie sich mit dem Internet aus?

    Clement: Ich persönlich nicht, aber meine Kinder, fürchte ich, Einzelne durchaus und deren Kinder wahrscheinlich noch eher. Also, es ist ja ein wirklicher Umbruch ungeahnten Ausmaßes, der mit der Internetzeit begonnen hat und der ja jetzt immer intensiver wird. Und natürlich können Sie sich heute informieren auch ohne Zeitung. Allerdings ich gehöre auch zu denen, die der Überzeugung sind, der Qualitätsjournalismus wird überleben, weil ich meine, er muss überleben. Und deshalb hoffe ich, dass es noch genügend Menschen gibt, die dazu beitragen, dass er überleben kann. Aber dazu gehört erheblich mehr, als heute geboten wird.

    Clement: Ich kommentiere jeden Tag, aber die Welt bewegt sich nicht so, wie ich mir das vorstelle. Und es verändert sich fast nichts.

    Wille zur Gestaltung. Der Weg zum Politiker.

    Clement: Hans-Jürgen Wischnewski hat Sie 1981 als Sprecher des Parteivorstands zur SPD geholt. Wie wurde aus dem Journalisten der Politiker Wolfgang Clement?

    Detjen: Na ja, ich war ausgeschrieben eigentlich, so habe ich es empfunden. Ich habe eben wie gesagt sehr lange bei der "Westfälischen Rundschau" gearbeitet und eigentlich jeden Tag kommentiert. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, um es ganz schlicht zu sagen, ich kommentiere jeden Tag, aber die Welt bewegt sich nicht so, wie ich mir das vorstelle, und es verändert sich fast nichts. Und da ist es natürlich reizvoll, mal auf die andere Seite der Barriere zu gehen und es von der Seite zu versuchen, die Welt zu verändern jedenfalls. Also zu bewegen und von dieser Seite aus Einfluss zu nehmen. Das ist ja, denke ich, das Denken jedes politisch denkenden Menschen, dass er eine Welt sich vor Augen führt, die er so erleben möchte, wenn es irgend geht. Und daran mitwirken zu können, ist ja was Besonderes. Also kurz und gut: Hans-Jürgen Wischnewski für Willy Brandt, der hat mich dort eben auf dem Fuß erwischt, auf dem ich gerade bereit war zu gehen, und das habe ich dann getan und bin diesem Ruf dann gefolgt. Und es war natürlich auch etwas, was jemanden wie mich sehr gereizt hat. Ich war seit 1970 Mitglied der Sozialdemokratie, von Willy Brandt animiert, nicht von ihm persönlich, durch ihn animiert, durch seine Persönlichkeit, durch die Ostpolitik. Ich war auch als Journalist schon beinahe jede Woche unterwegs im Verbreitungsgebiet, um zu diskutieren über die Ostpolitik. Das waren ja damals erregende Diskussionen, inhaltlich so stark, wie man sich das heute gar nicht mehr vorstellen kann. Wir haben über jeden Paragrafen der Ostverträge öffentliche Diskussionen geführt, und das war wirklich nicht nur spannend, sondern das war wesentlich intensiver, als ich heute Diskussionen erlebe. Ich bin ja nun auch heute jede Woche, jeden Tag fast unterwegs. Aber es ist kein Vergleich mit der Intensität der Diskussionen, die wie ich sie wahrgenommen habe vom Ende der 60er-Jahre bis tief in die 70er, also die hohe Zeit der Entspannungspolitik in Deutschland.

    Detjen: Als Sie Anfang der 80er-Jahre zur SPD kamen, das waren die letzten Jahre der Kanzlerschaft Helmut Schmidts, war die Partei belastet. Sie stand unter Differenzen um die Wirtschafts- und Sozialpolitik Helmut Schmidts, die Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss gärten. Wie haben Sie den Zustand der Partei damals erlebt?

    Clement: Wir haben uns dagegen zur Wehr zu setzen versucht, dass politisch der Abschwung einsetzte. Das hatte mit der ökonomischen Situation zu tun. Wir hatten zum ersten Mal massivste gewerkschaftliche Proteste und Demonstrationen gegen die Regierung Schmidt. Das war ja etwas völlig Neues. Auf einmal standen in Stuttgart 70.000 Arbeitnehmer auf der Straße, um zu demonstrieren gegen die aus unserer Sicht notwendige Politik der Bundesregierung Helmut Schmidts. Und es gab innerhalb der Koalition die Auseinandersetzung um den Kurs, das Lambsdorff-Papier und solche Dinge spielten ja dann eine Rolle. Also liberal oder nicht oder die sozialdemokratische Politik betreiben zu können und dazu dann die Auseinandersetzung um die Außenpolitik, um den NATO-Doppelbeschluss, wie Sie richtig sagen. Ich habe das erlebt als eine Zeit, in der es immer schwieriger wurde, die SPD in ganz schwieriges Fahrwasser kam. Das spielte sich im Präsidium der SPD auch ab, das spürte man dort. Da brauchte man nicht studiert zu haben, um zu erkennen, wie es zwischen Willy Brandt und Helmut Schmidt und vor allen Dingen Herbert Wehner, wie dort Spannungen ausgetragen wurden, ohne dass sie wirklich ausgetragen wurden, sondern das waren ja die drei großen Männer der SPD, die einerseits die Höhepunkte der SPD markiert haben, wie noch nie in der Geschichte wie ich glaube, aber eben dann auch im Niedergang Schwierigkeiten hatten miteinander und in der auch ein gewisser Abnutzungseffekt der SPD erkennbar wurde. Wir sind dann gescheitert, wie ich meine heute, formell an der Haltung der FDP, tatsächlich aber auch, weil die SPD ausgepowert war. Die Regierungszeit war ja außerordentlich hart, härteste Auseinandersetzungen, große Koalitionen dann ab '69. Bis dahin war die sozialliberale Koalition sehr erfolgreich, aber eben dann auch nach einiger Zeit abgenutzt. Und heute ist meine Haltung, dass mehr als zwei Perioden es eine Regierung auch nur schwer durchhält, wird immer enger, immer kürzer die Zeiten, immer atemloser jetzt. Und das war damals auch schon spürbar.

    Clement: Ich war am Boden zerstört durch das Ergebnis der Wahl in Hamburg. Wir hatten zehn Prozent ungefähr verloren in der SPD. Das war eben so erkennbar. Das war spürbar. Da bewegte sich nichts mehr vor und zurück.

    SPD-Sprecher und Rücktritt.

    Detjen: Sie haben eben dieses sehr spannungsreiche Dreierverhältnis erwähnt: Willy Brandt, Helmut Schmidt, Herbert Wehner. Wie war Ihr persönliches Verhältnis zu den jeweils Dreien?

    Clement: Meins war besonders eng zu Willy Brandt bis zum Bruch. Das ist leider ja zum Bruch gekommen 1986 über die Wahlkampfführung. Aber bis dahin war ich außerordentlich eng mit Willy Brandt, so habe ich das jedenfalls empfunden. Er war natürlich der Große, aber ich habe viele intensive Gespräche mit ihm gehabt. Ich bin ja mit ihm auch unterwegs gewesen, ihn direkt begleitet. Beinahe an jedem zweiten Wochenende mindestens bin ich mit ihm in Parteiveranstaltungen unterwegs gewesen. Viele Gespräche, viele Begegnungen. Ein außerordentlich gutes Vertrauensverhältnis, dass da leider an der Wahlkampfführung während der Kanzlerkandidatur von Johannes Rau zu Ende ging. Zu Helmut Schmidt habe ich ein Verhältnis gehabt - das muss ich so sagen - der Bewunderung für ihn, hatte auch ein sehr gutes Verhältnis, glaube ich, zu ihm, also als jemand, der ihm zuzuarbeiten hatte als Sprecher der SPD, habe auch ihn gelegentlich begleitet auf Wahlkampfveranstaltungen. Zu Herbert Wehner war das Verhältnis nicht so intensiv. Das hat aber gar keine großartigen Gründe, sondern er hatte seinen Sprecher, er hatte die Fraktionen. Es gab da eine ziemlich klare Begrenzung der Aktionsfelder zwischen Fraktion und Partei. Und das hatte sicherlich auch damit zu tun, dass Willy Brandt und Herbert Wehner und alle, die die beiden jeweils umgaben, das spielt ja eine sehr starke Rolle, doch eben sehr stark auf die Eigenheiten des jeweils anderen geachtet haben.

    Detjen: Sie haben den Bruch mit Willy Brandt eben erwähnt. Sie sind Ende '86 von Ihren Parteiämtern zurückgetreten nach verlustreichen Wahlen in Hamburg und Bayern. Der Posten des Parteisprechers musste neu besetzt werden. Willy Brandt wollte Margarita Mathiopoulos als Parteisprecherin installieren, das war dann sein Sturz. Er hat sich da verkalkuliert. Sind Sie sozusagen der erste Dominostein gewesen, der dann am Ende Willy Brandt gekippt hat?

    Clement: Ach was, nein, nein, das war ... Ich war am Boden zerstört durch das Ergebnis der Wahl in Hamburg. Wir hatten zehn Prozent ungefähr verloren in der SPD. Das war eben so erkennbar. Das war spürbar. Da bewegte sich nichts mehr vor und zurück. Und es war eine wirklich depressive Situation sonntagabends im Präsidiumsraum der SPD: Kein Fenster dort, alles stickig, kein Mensch weiß einen Ausweg. Und da habe ich gesagt, wir können so nicht weitermachen in der Wahlkampfführung zwischen dem, was aus der Baracke, wie wir früher sagten, also aus dem Verantwortungsbereich damals Willy Brandt zu Peter Glotz kam und derer, die bei ihnen waren und von uns aus Düsseldorf, die wir Johannes Rau begleiteten. Das war alles auseinandergegangen, da stimmte nichts mehr, vorne und hinten nicht. Und weil sich sonst niemand bewegte, habe ich gesagt, es muss ja wohl ein Zeichen geben, dass wir so nicht weitermachen können wie bisher, und daraufhin bin ich zurückgetreten, bin abends zu meiner Frau zurückgegangen nach Hause oder nachts irgendwann, tief deprimiert, und habe ihr gesagt, dass ich jetzt arbeitslos bin, weil ich da ausgeschieden war. Aber das hatte auf die Rolle Willy Brandts keinerlei Einfluss. Es war eine Sondersituation dort mit Frau Mathiopoulos, die er gewinnen wollte als Parteisprecherin. Und irgendwann kommt natürlich die Zeit für jeden und jede, dass Platz zu machen ist. Und Willy Brandt hat dann ja eine Renaissance sondergleichen in späteren Jahren dann erlebt, obwohl manche Jahre dazwischen für ihn sehr schwierig waren.
    Der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement ist tot 
    "Ich wollte eigentlich von Anfang an Journalist werden", sagte Wolfgang Clement im Zeitzeugen-Gespräch im Dlf (imago/Lumma Foto)
    Clement: Johannes Rau hat meine Zeitung ständig begutachtet, das heißt, er hat sie mir immer am nächsten Tag rot korrigiert wieder zurückgeschickt, und weil er ja nun ein Spezialist war nicht nur in Grammatik und in der deutschen Sprache, sondern auch in der Korrektur der deutschen Sprache. Das hat ihm also ein diebisches Vergnügen bereitet.

    Von Hamburg nach Düsseldorf.

    Detjen: Mit der Arbeitslosigkeit bei Ihnen hat es nicht so lange gedauert. Sie waren dann noch mal Chefredakteur im Journalismus bei der "Hamburger Morgenpost", aber da war ja dann schon Johannes Rau, den haben Sie eben erwähnt. Welche Rolle hat er damals schon für Sie gespielt?

    Clement: Ja, wir haben ein sehr enges Verhältnis zueinander gehabt, schon seit '81. Also ich von Hans-Jürgen Wischnewski gefragt wurde, ob ich darüber wechseln wollte nach Bonn zu Willy Brandt zum SPD-Vorstand, bin ich, bevor ich mich endgültig entschied, zu Johannes Rau gefahren. Ich hatte aus Gründen, die ich gar nicht beschreiben kann, ein besonderes enges Verhältnis zu ihm, obwohl ich ihn kaum kannte. Ich hatte ihn zweimal interviewt in meinem Leben und hatte keinerlei persönlichen Kontakt zu ihm ansonsten. Und da habe ich bei ihm angerufen und gefragt, ob ich mal vorbeikommen könne, und habe mich mit ihm unterhalten, habe mich von ihm in Wuppertal... Da haben wir dann zusammengehockt in einem Dezember, schwierigen Monat, und er hat mir schließlich und endlich geraten, das zu tun. Seitdem habe ich zu ihm, hat sich das Verhältnis zwischen uns beiden immer enger entwickelt, und ich kann, glaube ich, sagen, dass wir und unsere Familien dann eben daraus sich eine Freundschaft zwischen ihm und unseren Familien entwickelt hat über die Zeit. Und auch während der Zeit in Hamburg, als ich dort wieder als Journalist arbeitete, haben wir beinahe täglich telefoniert. Johannes Rau hat meine Zeitung ständig begutachtet, das heißt, er hat sie mir immer am nächsten Tag rot korrigiert wieder zurückgeschickt, weil er ja nun ein Spezialist war, Nicht nur in Grammatik und in der deutschen Sprache, sondern auch in der Korrektur der deutschen Sprache. Das hat ihm also ein diebisches Vergnügen bereitet, unsere redaktionelle Arbeit jeweils zu begutachten. Und so sind wir sehr eng beieinander geblieben, und bis er mich dann ohnedies eben gebeten hat, nach Düsseldorf zu kommen, um dort Chef der Staatskanzlei zu werden. Was ein Traum von mir war.

    Clement: Es gibt Projekte, bei denen Sie vorneweg marschieren müssen mit dem Risiko, zu scheitern.

    Landesminister bei Johannes Rau, dann Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.

    Detjen: Sie haben das Verhältnis zu Rau eben mit Freundschaftlichkeit beschrieben. Beschreibt es das vollkommen? War er auch eine Vaterfigur, eine politische Vaterfigur? Förderer sicherlich, ein Vorbild?

    Clement: Also Vaterfigur sicher nicht. Und Vorbild? Ich habe eigentlich nicht nach Vorbildern gelebt. Ich habe vieles von ihm gelernt, das muss ich sagen. Es war wirklich ein richtig gutes, völlig unbehelligtes, von außen unbeeinflusstes freundschaftliches Verhältnis. Ein ganz offenes, indem wir über alles gesprochen haben und in dem ich natürlich viel von ihm gelernt habe, von seiner Lebenserfahrung, vor allen Dingen von seiner politischen Erfahrung, die ich ja nicht hatte. Das ist dann eben etwas anders geworden. Das ist etwas, was man in seinem Leben nicht mehr richtig hinbekommt. In der Nachfolgediskussion dann um die Ministerpräsidentschaft in Nordrhein-Westfalen, das hat unser Verhältnis tatsächlich sehr beeinflusst zeitweise. Ich glaube, dass wir es zum Schluss wieder recht gut hinbekommen haben, obgleich natürlich nie mehr so unbeschwert wie zuvor. Das ist, so glaube ich, in Nachfolgesituationen ergibt sich so etwas. Es muss nicht sein, aber es kann sich ergeben. Mir tut das auch leid, ich habe das auch schon oft bedauert, aber es ist so. Es hat ja keinen Zweck, das anders in seiner Erinnerung zu behalten, als es war. Es wurde schwierig und schwieriger. Und als es dann vorbei war und Johannes Rau war Bundespräsident, da hat sich das dann wieder jedenfalls normalisiert.

    Detjen: Das ist jetzt schon vom Ende dieser Düsseldorfer Zeit her betrachtet. Zunächst mal haben Sie gesagt, das war ein Traum, Chef der Staatskanzlei in Düsseldorf zu sein. Was ist so schön daran?

    Clement: Eigentlich habe ich mir nie vorgestellt, aktiver Politiker zu werden, also Ministerpräsident oder Bundesminister, Parlamentarier, sondern ich hatte eigentlich die Vorstellung so als jemand, der die Organisation macht und versucht, das Instrumentarium dort zu steuern. Das war meine Idealvorstellung vom beruflichen Leben, und so bin ich auch nach Düsseldorf gegangen als Chef der Staatskanzlei. Das war ja, wie gesagt, unter diesem Aspekt, du kannst das steuern, du hast dazu sowohl inzwischen politisches Feeling - ich war sechs Jahre lang hier in Bonn im SPD-Parteivorstand als auch das Journalistische, auch die Möglichkeit des Umgangs mit der Öffentlichkeit. Du hast dadurch im Verwaltungsbereich eine Menge gelernt, wenn auch noch nicht genug, aber da war die Vorbereitung als Jurist nicht schlecht. Das passte aus meinem eigenen Gefühl, und ich glaube, ich kann auch sagen, es passte tatsächlich zu der Aufgabe, die ich hier in Düsseldorf übernommen habe.

    Detjen: Sie haben da eine steile politische Karriere gemacht. Ab 1995 waren Sie in Nordrhein-Westfalen als sogenannter Superminister zuständig für Wirtschaft, Technologie, Medien, Verkehr. Das war das ganze Spektrum dieses Strukturwandels in diesem Land, den Sie am Anfang unseres Landes beschrieben haben. Sie haben den da aktiv mitgestaltet. Wenn Sie heute durchs Ruhrgebiet fahren, wo erkennen Sie da die Spuren Ihrer Arbeit wieder?

    Clement: Überall. Also das beginnt, die Ursprünge dazu hat Christoph Zöpel gelegt. Aber wenn ich an die internationale Bauausstellung und heute die Kulturhauptstadt Essen sehe, das ist alles entstanden aus der internationalen Bauausstellung, den Industriedenkmälern, das ist ja die kulturelle Substanz, die dort gelegt worden ist. Es gab natürlich eine kulturelle Geschichte des Ruhrgebietes, aber die Substanz des Festzuhalten, diese Geschichte, und ins Bild zu setzen, die Dramaturgie dazu zu schaffen, das ist ein Verdienst, das damals in dieser Zeit entstanden ist mit Johannes Rau als Ministerpräsident, Christoph Zöpel, und das ist das Wichtigste, glaube ich. Wenn Sie heute die Zeche Zollverein sehen oder in Bochum die Jahrhunderthalle, in jeder Stadt des Ruhrgebietes finden Sie das wieder. Sie können zu den Flughäfen gehen, Sie können zu den Straßen gehen, Sie können die Ausbildungsplatzsituation begutachten - also ich bin an vielen, vielen Dingen dort beteiligt und bin auch sehr glücklich über das, was dort entstanden ist. Natürlich nicht alles erfolgreich - ich bin gescheitert mit dem Transrapid beispielsweise, den ich am liebsten von Dortmund bis Köln gehabt hätte. Ich bin mit dem Brückenbau der Bürokratie nicht sehr weit gekommen und hätte viel weiter kommen müssen.

    Detjen: Die Themen, die Sie als Beispiele für Misserfolge genannt haben - Bürokratiereform, Transrapid im Ruhrgebiet, die Vorstellung, mit einer Hochgeschwindigkeitsstraßenbahn durch das Ruhrgebiet zu fahren -, das waren ja keine Randthemen, das waren wichtige ehrgeizige Vorhaben von Ihnen. Woran sind Sie da gescheitert?

    Clement: Wir sind damals schon, was den Transrapid angeht, es gab eben massive Vorbehalte der Union, hat es aus oppositionellen Gründen meines Erachtens damals vor allen Dingen den Transrapid gegen die Wand fahren lassen. Bei der Bahn wollte es niemand, weil man dort verliebt ist in die Schiene. Die Grünen waren sowieso dagegen, die waren gegen alles Große gewesen. Was auch die Braunkohle angeht und anderes, das ist ja auch alles durchzufechten gewesen in meiner Zeit, und in der SPD war es wackelig. Also es gibt Projekte, bei denen Sie vorneweg marschieren müssen mit dem Risiko zu scheitern und das war eines. Beim Bürokratieabbau ist das ganz faszinierend, das können Sie ja bis heute beobachten. Wenn ich irgendwo erkläre, ich bin gegen Bürokratie, bekomme ich jubelnden Applaus. Wenn ich dann aber in die Stadt gehe, in der ich etwas zurückbauen muss, eine Behörde beispielsweise, weil sie zu viel zusätzliche Bürokratie schafft, dann werde ich dort gesteinigt. Das habe ich beispielsweise erlebt, weil ich die Landschaftsverbände abschaffen wollte und in Stiftungen umwandeln wolle. Als ich in Münster war, wäre ich beinahe bei den Wiedertäufern oben am Turm gelandet, bin dort auf einmal gegenüber Tausenden von Demonstranten gewesen, die alle dafür kämpften, dass es neben dem Regierungspräsidenten in Münster auch weiterhin eine Landschaftsversammlung und einen Landschaftsverband geben müsste, was ich bis heute nicht einsehe.

    Detjen: Sie haben, Herr Clement, eben die schwierigen Jahre erwähnt, in denen Sie der designierte, von allen erwartete Nachfolger von Johannes Rau als Ministerpräsident waren, sozusagen der Prinz Charles von Düsseldorf. Das war dann im Mai 1998 vorbei, da trat Johannes Rau zurück. Sie wurden Ministerpräsident, zwei Jahre später gewannen Sie die Landtagswahlen mit deutlichen Verlusten bei der SPD, auch beim Koalitionspartner, bei den Grünen. Der eigentliche Sieger damals war die FDP unter Jürgen Möllemann, mit den sensationellen 9,8 Prozent. Trotzdem haben Sie das rot-grüne Bündnis fortgesetzt. Warum?

    Clement: Also zunächst mal fand ich die 42 Komma, ich glaube fast acht Prozent oder so, wenn ich heute manche Verhältnisse sehe, gar nicht so schlecht.

    Detjen: Trotzdem waren es für damalige Verhältnisse mehr als drei Prozent Verlust dann.

    Clement: Ja, ja, sicher. Ich hatte - das war übrigens faszinierend - ich hatte bis zum Samstagabend Umfragen, die lagen alle oberhalb von 45 Prozent, deshalb war ich auch bitter enttäuscht, als ich so wie gesagt bei knapp 43 ankam, aber an heutigen Zeiten gemessen nicht so schlecht. Natürlich, es ist die Abnutzung, die eine Partei hat. Wir regierten seit über 40 Jahren, das ist ja ungesund, und das war fällig. Deshalb, dass wir dann 2005 endgültig aus der Regierung ausscheiden mussten, das war fast zwangsläufig. Das ist das eine. Das andere: Ich habe damit nicht nur geliebäugelt, sondern ich habe ja mit Herrn Möllemann und mit der FDP damals verhandelt. Heute weiß jeder, wie Herr Möllemann gescheitert ist. Aber ich bin eigentlich ein Sozialliberaler, und so habe ich mich auch immer empfunden. So bin ich auch damals in die SPD gekommen. Mit Willy Brandt, mit Helmut Schmidt, das waren sozialliberale Zeiten. Aber ich habe das nicht durchsetzen können, um das klar zu sagen. Ein Wechsel weg von der rot-grünen Koalition war in der SPD nicht durchsetzbar.

    Clement: Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, das wird das Thema, das muss ein Sozi durchzufechten versuchen.

    Wolfgang Clement als des Kanzler Schröders schärfste Waffe.

    Detjen: War das vor diesem Hintergrund für Sie auch eine Erleichterung, als Gerhard Schröder Sie dann 2002 in sein zweites Kabinett gerufen hat?

    Clement: Überhaupt nicht, nein, sondern das war eine sehr schwierige Geschichte, Ministerpräsident zu sein in einem solchen Land. Wir leben ja in einer Ministerpräsidentendemokratie hier in Deutschland mit sehr starken - Ministerpräsidenten sind ja eigentlich die stärksten Figuren in Deutschland, niemand ist so unbehelligt wie der Ministerpräsident eines größten deutschen Bundeslandes. Edmund Stoiber hat mir das irgendwann auch einmal so vorgehalten: Wie konnten Sie nur diesen Wechsel tun? Was mich dazu bewogen hat? Wir hätten hier in Nordrhein-Westfalen die Arbeitslosigkeit aus Landeskraft nicht wirksam bekämpfen können. Sie können wohl Standortpolitik machen, Sie können beispielsweise Flughäfen so ausstatten, dass dort Arbeitsplätze entstehen et cetera, et cetera, aber in der Substanz, die Langzeitarbeitslosigkeit, die Arbeitslosigkeit können Sie nicht mit den Landesmitteln bekämpfen, jedenfalls nicht so wie die Gesetzgebung heute in Deutschland ist. Und deshalb war dieser Schritt eigentlich folgerichtig, aus dem in Westdeutschland strukturell am meisten herausgeforderten Land Nordrhein-Westfalen zu gehen, nach Berlin zu gehen, um zu sehen, ob man die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik drehen kann. Und wir haben sie gedreht, und deshalb bin ich auch in der Rückschau überzeugt, dass der Schritt richtig war.

    Detjen: Die "Süddeutsche Zeitung" hat Sie damals mal als des Kanzlers schärfste Waffe beschrieben. War Ihnen eigentlich damals klar, gegen wen er diese Waffe brauchen würde? Gegen die Opposition oder nicht auch gegen die Kritiker in den eigenen Reihen, die Sie ja, nachdem was Sie eben geschildert haben, aus Nordrhein-Westfalen kannten?

    Clement: Das weiß ich nicht, ob die schärfste Waffe, war ja völlig neu, dass Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zusammengelegt wurden. Leider ist das später aufgehoben worden, das halte ich für grundverkehrt und ein großes, großes Problem, dass das völlig ohne großes Nachdenken, ohne eingehende Beschäftigung mit dem Thema wieder beendet wurde, diese Phase. In Ländern wie Sachsen ist es wirklich durchgetragen worden. Natürlich, die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, so hat es Gerhard Schröder auch gesehen, so hatten wir es auch besprochen, das wird das Thema, das muss ein Sozi durchzufechten versuchen. Das muss einer sein, der aus dem Zentrum der Sozialdemokratie kam und in dem Verständnis unter den aktiven Führungsleuten war ich der Sozialdemokrat, der aus dem Zentrum der Partei kam. Und ich hatte ja hier in Nordrhein-Westfalen auch innerhalb der SPD keine schlechte Position. Nicht unangefochten, nicht uneingeschränkt, nicht unbehelligt, aber dennoch relativ stark unterstützt damals in diesen Entscheidungen von Müntefering und vor allen Dingen Peer Steinbrück, der ja mein Nachfolger werden sollte. Hier habe ich dann diesen Schritt getan. Waffe, ja die Waffe, der Mann mit der schärfsten Aufgabe, nämlich die Arbeitslosigkeit, die uns über Kopf wuchs, zu bekämpfen, und das haben wir dann ja mit allen Mitteln zu tun versucht. Letztlich, als wir dann, jedenfalls ich, aus dem Amt war, Gerhard Schröder auch, da hat es ja dann auch funktioniert.

    Detjen: Aber zwischendrin mit Arbeitslosenstellen von über fünf Millionen.

    Clement: Ja sicher, die einzelnen Reformen waren ja gerade in Gang. Wir sind über die fünf Millionen gegangen, was natürlich medial, emotional eine Katastrophe war, die die SPD kaum verkraftet hat. Das hat ja dazu beigetragen dann, dass die SPD sich so rasch wie möglich wieder von diesen Reformen verabschieden wollte, statt sie weiterzuführen, aber ungeachtet dessen diese Reformen haben. Es ist ja nicht die Aufgabe, im Amt zu bleiben, sondern die Aufgabe ist, das Land so zu führen, dass es erfolgreicher ist als zuvor. Und wir sind mit diesen Reformen ja nicht schlecht gefahren. Heute ist ja unbestritten, dass die Arbeitsmarktreform und die Agenda 2010, insgesamt jedenfalls, beigetragen haben, dazu, dass die Arbeitslosigkeit von fünf auf drei Millionen zurückging. Bessere Reformen hat es nirgendwo gegeben. In ganz Europa wird dies zur Kenntnis genommen. Bei uns hier tut man sich schwer, positive Dinge zur Kenntnis zu nehmen, aber es ist so.

    Detjen: Die Kritik an den Reformen von damals kommt ja nicht nur aus Ihrer ehemaligen Partei, sondern inzwischen vom Bundesverfassungsgericht, das die Regelsätze für Kinder aufgehoben hatte, auch aus der jetzigen Regierung. Wo immer man hinschaut, wird an diesen Reformen wieder nach Korrekturen gerufen.

    Clement:. Na ja, das Bundesverfassungsgericht hat wenig dazu beigetragen. Das Bundesverfassungsgericht hat, was die Kinder angeht, Dinge angesprochen, die eigentlich in die Familien- und die Bildungspolitik gehören, und ansonsten kann ich aus den Urteilen langsam, aber sicher gar nichts mehr erkennen. Die Regelsätze sind jedenfalls in der Höhe nicht angegriffen, bezogen auf die grundsätzlichen, auf die Erwachsenenregelsätze. Da wird ein neues Grundrecht formuliert, das wir schon lange im Grundgesetz haben, das steht schon in Artikel 1 des Grundrechts. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist erstens nicht so ausgefallen, wie viele Kritiker erhofft haben, nämlich ein niederschmetterndes, die Reformen zerstörendes Urteil - nichts davon ist geblieben. Es ist eine Ermahnung an uns alle, an die Gesellschaft, mit den Kindern, insbesondere mit den Kindern der Schwächeren und Schwächsten, anders umzugehen. Das ist aber nicht eine Frage der Arbeitsvermittlung, und da liegt der Irrtum des Urteils. Es ist nicht eine Frage der Arbeitsvermittlung, sondern das ist eine Frage der Familien, der Gesellschafts-, der Familien- und der Bildungspolitik. Und wenn wir weiter so tun, als sei die Bundesagentur für Arbeit richtig, um die Fehler zu reparieren, die wir in der Gesellschaft nicht lösen, dann werden wir es nie lösen. Das gilt auch für viele Kritiker. In Wahrheit wird von den Kritikern wenig getan, um die vier - das sind ja vier große Gesetze gewesen, ist ja nicht nur die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, sondern große Gesetze mit Zeitarbeit, mit allem Drum und Dran, sind diese Gesetze, sind diese Schritte eigentlich in der Substanz bis heute unbestritten. Kein Fachmann sagt Ihnen, sie sind falsch, sondern es gibt hier und da Kritikaster, keiner hat heute ein anderes Angebot, und ich wüsste auch nicht, wann es in der Geschichte jemals gelungen ist, innerhalb kürzester Zeit die Arbeitslosigkeit soweit herunterzubringen wie jetzt, und ohne die große Krise wären wir jetzt wahrscheinlich schon bei zweieinhalb Millionen.

    Detjen Sie haben immer wieder den paternalistischen Wohlstandsstaat damals kritisiert, Sie haben in einem Interview einmal gesagt: Ich möchte zurückkommen zu einer Gesellschaft, in der Eigenverantwortung eine stärkere Rolle spielt als der Staat. Das waren schon damals Positionen, mit denen Sie weit jenseits der SPD standen und in der Sie heute das teilen, was Guido Westerwelle fordert.

    Clement: Ja, dagegen ist auch nichts zu sagen. Ich glaube, dass ich nicht alleine in der SPD stand, das war die Position der SPD einmal, und der Glaube, dass der Staat alles regeln könne, den Glauben habe ich nie gehabt. Es ist völlig richtig, ich bin immer eingetreten für Wettbewerb, für Eigenverantwortung und Eigeninitiative und dagegen, dass immer als Erstes der Staat angerufen wird. Das ist heute noch in viel intensiverer Form als damals der Fall, und so werden wir die Probleme nicht lösen. Wir befinden uns in einem Land, das sich demografisch so tiefgreifend verändert wie kein - außer Italien - kein anderes in Europa, mit den niedrigsten Geburtenraten, einer der höchsten Lebenserwartungen, mit gewaltigen Problemen für die sozialen Sicherungssysteme und insbesondere für die Bildungspolitik. Denn obgleich wir immer weniger Jugendliche haben, sind wir immer, erzielen wir immer schlechtere Erfolge in der Bildungspolitik. Und wenn wir hier nicht zu gravierenden Veränderungen kommen, die bedeuten, dass wir an die Einzelnen mehr Ansprüche stellen müssen, mehr erwarten von Einzelnen müssen, dann werden wir scheitern. Die sozialen Sicherungssysteme, insbesondere das Gesundheitssystem, ist so nicht weiterzufahren. Wenn wir es so weiterfahren wie heute, werden wir im Jahre 2050 bei einem Krankenversicherungsbeitrag sein, wie Herr Beske, Chef eines Finanzinstituts aus Kiel, gesagt hat, von ungefähr 27 Prozent . So wird dann der Krankenversicherungsbeitrag sein. Das kann ich auf alle Felder übertragen. Wir müssen den Menschen sagen, dass wir hier Anpassungen vorzunehmen haben und alles, was wir können, in die Zukunft investieren müssen, und das heißt in Kindergärten, in Schulen, in Hochschulen, in Weiterbildung, in Qualifizierung, sonst scheitern wir.

    Detjen Wann ist Ihnen wirklich klar geworden, dass die Politik, die Sie mit Gerhard Schröder, mit Peer Steinbrück zusammen betrieben haben, die eigene Partei spalten würde?

    Clement: Überhaupt nicht. Die Frage der Spaltung stand nicht an. Sie hat sich…

    Detjen: Faktisch ist es eine Spaltung, eine Abspaltung.

    Clement: Ja, das stimmt, es ist nach meinem Gefühl der Flügel, dem ich mich zugehörig fühle, fast nicht mehr vorhanden, das ist richtig. Worüber wir uns klar waren, auch als Gerhard Schröder die Agenda 2010 startete, bis hin zu dem Punkt, an dem er die Neuwahlen in Gang setzte, war, das kann - bei den Neuwahlen waren wir eigentlich sicher, wird es dazu führen, dass wir die Regierungsverantwortung nicht halten können, aber wir gehen aufrecht aus der Regierungsverantwortung, übergeben die Regierungsverantwortung aber nach bestem Wissen und Gewissen mit allem, was dazugehört, mit den notwendigen Schritten. Wir haben die Schritte - die Agenda 2010 war spät, eigentlich zu spät, das hat aber andere Gründe gehabt, das hatte mit dem Scheitern der New Economy schon vorher zu tun, aber sie war sehr spät, aber sie war dringend erforderlich, unabweisbar im Interesse des Landes. Letztlich muss ich sagen, Gerhard Schröder hat da Schritte getan, die waren im Landesinteresse mehr als im Parteiinteresse. Das war ihm, meine ich, damals genauso klar wie mir, wie uns. Und wir haben so gehandelt, und er hat auch so gehandelt bei dem Ingangsetzen der Neuwahlen, wir hätten sonst ja noch ein längeres Jahr erlebt, in der wir als Sozialdemokratie praktisch handlungsunfähig waren. Wir hatten in der Fraktion immer sechs bis zu zwölf Opponenten, die keine Reformen mehr mitgingen, und wir hatten im Bundesrat nicht mal mehr eine ausreichende Mehrheit, um noch einen Termin festsetzen zu können aus eigener Kraft. Also wir waren wie die Boxer in der Ringecke, hatten die Arme runterhängen und mussten uns einen Niederschlag nach dem anderen einfangen. Wir hätten ein Jahr lang nichts mehr bewegen können, und deshalb waren diese Schritte, die Gerhard Schröder da gegangen ist, richtig. Wie gesagt, wir waren uns klar, die Regierungsmacht kann es kosten. Im zweiten Schritt war man sicher, sie wird es kosten. Es ist dann aufgrund der phänomenalen Wahlkampfführung von Schröder ja noch gelungen, dass die SPD dann zunächst einmal 2005 noch in die Große Koalition gekommen ist.

    Clement: Für uns war jedenfalls die FDP immer näher als die Linke oder heutige oder ehemalige Kommunisten, um das ganz klar zu sagen.

    Abschied von der SPD auf Raten. Entfremdung und Bruch.

    Detjen Der Bruch für Sie mit der SPD ist mit dem Namen Andrea Ypsilanti verbunden. Das war Anfang 2008, unmittelbar vor der Landtagswahl in Hessen, als Sie einen Artikel veröffentlicht haben, in dem Sie faktisch dazu aufgerufen haben, die Noch-Parteifreundin nicht zu wählen. Es gab ein Parteiausschlussverfahren, erbitterte Auseinandersetzungen, in denen eigentlich ja schon eine vorhandene tiefe Zerrüttung zwischen Wolfgang Clement und seiner Partei auf beiden Seiten zutage getreten ist.

    Clement: Also ich habe nicht aufgerufen, nicht zu wählen, ich habe aufgerufen, sehr sorgfältig darüber nachzudenken. Es hätte ja auch nichts verschüttet, wenn Frau Ypsilanti und andere gesagt hätten, vielleicht ist der Weg, den wir dort beschrieben haben gegen alle Großindustrie im Bereich der Energiewirtschaft, vielleicht ist der so nicht gangbar - wäre ja auch denkbar gewesen. Das war ein sehr ernsthafter Aufruf. Natürlich, es war eine Publikation. In keiner Zeitung, in keinem Medium wäre mir das vorgeworfen worden. Und deshalb war es auch aus meiner Sicht schwierig, gegenüber jemandem, der publizistisch sich betätigte, ein solches Instrument des Parteiausschlusses der Parteidisziplin einzusetzen. Das führt durchaus an Grenzen, an denen sich ein Journalist fragen muss, kann ich einer Partei angehören, kann ich der Partei angehören oder überhaupt? Und das war ein Grund dafür, dass ich relativ spät, erst mit 30 Jahren, in die SPD gegangen bin, dass ich als Journalist mich damit schwergetan habe, mit dieser Vorstellung. Heute würde ich sagen ...

    Detjen Sie waren zu dem Zeitpunkt ja kein Journalist mehr, sondern ein prominenter Vertreter eines Flügels der Partei, von dem sie inzwischen sagen, den gibt es faktisch gar nicht mehr in der Partei.

    Clement: Ich bin aus den Funktionen ausgeschieden 2005 und bin jetzt wieder in einem ganz normalen privaten Verhältnis, in dem ich unter anderem schreibe, veröffentliche, Bücher schreibe und auch das weiterhin tun werde. Deshalb ist das schon ein ernsthafter Punkt, aber er ist nicht so wichtig, im Kern jetzt nicht so wichtig. Dauerhaft ist er schon wichtig. Im Kern, in der Politik ging es darum, dass es eine Energiepolitik, die nicht vertretbar war, nicht verantwortbar. Das ist eine - das kommt hinzu - eine Politik des Verhältnisses zur Linken, zur PDS-Linken, das ich nicht akzeptiere. Und wenn ich heute manche über Neoliberales und sonstige reden höre, dann muss ich sagen, ja, es gibt außer mir noch ein paar, die sozialliberal denken. Für uns war jedenfalls die FDP immer näher als die Linke oder heutige oder ehemalige Kommunisten, um das ganz klar zu sagen. Und deshalb ist dieser Weg, den ich hier immer wieder aufscheinen sehe und der ja auch von der Parteiführung nicht ausreichend klar wahrgenommen worden ist und nicht klar definiert worden ist, was geht eigentlich, das den Ländergliederungen zu überlassen, ist ja nur eigentlich ein bisschen Feigheit vor dem eigenen Mut. Das sind ja alles dann die Bausteine, die Bruchsteine, die dazu geführt haben, dass die SPD in der Lage ist, wie sie heute ist.

    Detjen Sie haben vor der letzten Bundestagswahl angekündigt, Ihre Erststimme in Bonn Guido Westerwelle zu geben. Ist der Bruch zwischen Wolfgang Clement und der SPD so endgültig? Gibt es da kein Zusammenkommen mehr?

    Clement: Das weiß man nie natürlich, aber so, wie die SPD heute ist, nicht. Ich will übrigens einen Punkt sagen zu Guido Westerwelle: Heute, wo alle Welt auf ihn einschlägt und jeder und jeder meint, er müsse sich den Schnabel an ihm wetzen, da habe ich wirklich das Gefühl, es ist ganz gut, wenn man mal sagt: Leute, lasst mal langsam gehen, so kann man mit jemandem wie ihm nicht umgehen und auch nicht mit den Ansichten, die er vertritt. Jedenfalls in der Substanz dessen, was er sagt, glaube ich, führt er eine Debatte, die wir nicht unterschätzen sollten in ihrer Bedeutung, und sie wird uns noch einige Zeit beschäftigen, bis hin zu dem Punkt, an dem wir es schaffen, den Anpassungsprozess an neue Bedingungen, ökonomische Bedingungen in Deutschland wirklich zu vollziehen.

    Detjen Sie haben am Anfang unseres Gespräches gesagt, dass sie nach wie vor täglich im Land unterwegs sind. Sie sind umtriebig, haben eine ganze Reihe von Aufsichtsratsmandaten in Energieunternehmen, in Medienunternehmen. Ist es ein dritter Berufsabschnitt für Sie? Was sind Sie heute, Lobbyist, Pensionär?

    Clement: Ich bin freiberuflich tätig, ehrenamtlich übrigens. Ich bin an der Universität Bochum im Kuratorium des Instituts für Energie, Wirtschaft und Energierecht. Ich bin im Kuratorium der Hertie School of Governance in Berlin. Ich bin im Kuratorium des Heidelberger Krebsforschungszentrums. Nur, weil ich immer wieder lese, dass ich da jetzt haufenweise Geld scheffele bei RWE, das hält sich in argen Grenzen. Das ist ein Subaufsichtsrat, in dem ich mich dort befinde. Also ich habe eine ganze Reihe von Aufsichtsräten, von Beiräten, auch internationalen Aufsichtsräten in der Schweiz oder Beiräten in der Schweiz, im Aufsichtsrat, eine Board-Mitgliedschaft in Russland - alles ohne jede Politik. Ich bin dort ohne - darauf lege ich größten Wert -, ich bin dort, weil ich meine, weil andere meinen, ich hätte bestimmte Fähigkeiten mir angeeignet im Laufe meines beruflichen Lebens, das sehr bunt ist, sehr vielschichtig, keineswegs nur aus Politik bestanden hat. Das nehme ich für mich in Anspruch. Und ich beteilige mich und habe auch die Absicht, dass noch eine ganze Zeit lang zu tun, solange dass eben mir die Kraft gegeben ist, mich an politischen Diskussionen zu beteiligen, in aller Intensität. Wie ist das, wenn man in meinem Alter ist? Man hat Kinder, man hat Kindeskinder, man hat Verantwortung getragen, man hat manches versucht zu verändern, und man ficht dafür, jedenfalls ich, dass dieses Land in eine möglichst weiterhin gute Zukunft geht.

    Das Gespräch mit Wolfgang Clement fand im Rahmen der Sendung "Zeitzeugen im Gespräch" am 25.3.2010 statt.