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''Ein chemisches Gedicht zu Ehren der Erde''

Das Paradies, so heißt es im zweiten Schöpfungsbericht des Alten Testaments, ist ein äußerst fruchtbarer Garten in Eden, ein irgendwo im Osten gelegener, mythischer Ort, an dem der Mensch und die Natur noch in organischer Verbundenheit lebten. Das Wort "Paradies" ist aber eigentlich altpersischen Ursprungs, und es bezeichnet einen eingezäunten Garten, der von einer Sandwüste umgeben ist, wo das Leben keine Chance hat. Hin und wieder, so will es der altpersische Mythos, kam es vor, daß der Mensch in diesem Teil der Welt in die Wüste hinausging, um sich ins Gebet zu versenken. Gemeinsam ist aber dem biblischen Schöpfungsbericht und dem persischen Mythos das schockhafte Wissen um die Vertreibung des Menschen. Adam und Eva, die ersten Menschen, hatten von den verbotenen Früchten des Baumes der Erkenntnis gegessen und wurden aus dem Garten Eden, wo das Sein der Menschen noch ungestört in die Natur einging, in die unwirtliche Welt, in die Wüste abgeschoben.

Michael Braun |
    Sich von solchen biblischen Schöpfungsberichten faszinieren zu lassen, haben wir transzendental ausgenüchterten Zeitgenossen uns schon lange abgewöhnt. So bleiben die Erzählungen vom Ursprung, die mythischen Offenbarungen des Anfangs, die Berichte vom kosmischen Werden und die Ahnungen des planetarischen Endes weiterhin den Dichtern vorbehalten - sofern sie noch Dichter sein wollen. Zum Glück gibt es noch solch originäre Dichter, die auf die magische Wirkung ihrer poetischen Fügungen vertrauen; Dichter wie die dänische Lyrikerin Inger Christensen, deren poetisches Werk von den innersten Geheimnissen und tiefsten Rätseln der Schöpfung spricht.

    Lange, sehr lange hat es gedauert, bis die einzigartige Dichtung der Inger Christensen den deutschsprachigen Raum erreicht hat. Bis vor wenigen Jahren war die mittlerweile 62jährige Autorin außerhalb Dänemarks nur einem kleinen Kreis von Skandinavisten bekannt; eine Folge vielleicht auch einer Befangenheit vor dem Dänischen, dem selbst ein Hans Magnus Enzensberger schon Unübersetzbarkeit attestiert hat. Um so höher ist die Übersetzungsleistung von Hanns Grössel zu bewerten, der schon seit dreißig Jahren das Oeuvre Inger Christensens begleitet und für den Münsteraner Lyrik-Verlag Josef Kleinheinrich ihre Hauptwerke in absolut verläßliche Versionen übertragen hat. Seit 1988 erschienen im Kleinheinrich Verlag sechs zentrale Werke Inger Christensens, vom Opus magnum "alphabet" bis hin zum jüngsten Buch der Autorin, dem Sonettenkranz "Das Schmetterlingstal". Dank der vorbildlichen Editionspraxis des Kleinheinrich Verlags, und dank einiger kundiger Essays in der Literaturzeitschrift "Schreibheft" hat das Werk der Autorin den Weg aus den elitären Lyrik-Zirkeln heraus ins Freie einer zunehmend begeisterten Öffentlichkeit gefunden.

    Im Residenz Verlag hat nun der österreichische Dichter Peter Waterhouse eine sehr subjektive und fragmentarische, gleichwohl überzeugend montierte Auswahl aus den Gedichten, den Essays und der lyrischen Prosa Inger Christensens zusammengestellt, die in die ästhetischen Kernzonen dieses Werks hineinführt. In einem poetischen Essay, der an anderer Stelle, in der Literaturzeitschrift "manuskripte" nachzulesen ist, hat Waterhouse seine Christensen-Lesart in einer sehr enthusiasmierten Charakteristik ihrer Poesie preisgegeben: "Sie spricht,...damit nicht Fortschritt komme, sondern Vereinigungen; die Wörter berühren einander, die Dinge berühren einander...Sie fabuliert, das heißt, erfindet, ermöglicht, erträumt; sie fabuliert, sie stellt nicht fest, sondern unterstützt die Schöpfung, sie erfrischt, sie hilft der Welt in ihrem Dasein."

    Diese von Emphase überbordenden Sätze führen zurück zu unserem Ausgangspunkt: Sie zeigen Inger Christensen als Paradiessucherin, als Erfinderin von Schöpfungsgeschichten. Und tatsächlich hat sich die Autorin in ihren Vorlesungen und Essays immer wieder explizit auf den biblischen Ursprungsmythos rückbezogen. Die Erinnerung an das verlorene Paradies ist dabei für die Autorin keine zufällige Bildungsreminiszenz, sondern offenbart sich als Urszene ihrer poetischen Sehnsucht. Diese Sehnsucht nach dem ungeschiedenen Dasein, nach der Wiederherstellung der Einheit von Körper und Welt, Sprache und Natur ist die Antriebskraft ihres Schreibens, das sich in großen epischen Gedichten und mächtigen Sprachschöpfungen entfaltet hat. Es ist dies ein im buchstäblichen Sinn romantischer Impuls: Wie der Romantiker Friedrich von Hardenberg alias Novalis, der für sie zur zentralen literarischen Bezugsfigur geworden ist, begibt sich Inger Christensen in ihren Gedichten auf die unabschließbare Suche nach dem goldenen Zeitalter, nach dem verlorenen paradiesischen Raum, der uns aus dem unwirtlichen Dasein erlöst. Es ist einzig der Dichter, so sagt Inger Christensen in einer Vorlesung über "die ordnende Kraft des Zufalls", der eine solche Suchbewegung ausführen kann; er versucht "zum paradiesischen Zustand der Sprache vorzudringen, wo Schriftsteller und Sprache verschmelzen, obwohl er am Ende immer wieder aus dem Paradies vertrieben wird, das er - so empfindet er es - ganz aus sich selbst geschaffen hat".

    Diese romantische Verschmelzungssehnsucht grundiert schon die Anfänge von Inger Christensens Poesie. 1935 in Vejle, einer Küstenstadt im Osten Jütlands, als Tochter eines Schneiders geboren, hat Inger Christensen Anfang der sechziger Jahre ihre ersten beiden Gedichtbände unter dem Titel "Lys" (zu deutsch : "Licht") und "Graes" ("Gras") veröffentlicht. Schon in diesen frühen Gedichten spürt man den starken Wunsch nach einem inständigen Benennen der elementaren Phänomene der Natur. Die gleichförmigen Ebenen und horizontalen Weiten ihrer Heimat, deren Pflanzen- und Tierwelt, der Strand und das Meer, und nicht zuletzt die schneereichen Winter bestimmen die Topographie dieser frühen Gedichte. Aber der Weg zu den mit naturwissenschaftlicher Präzision konstruierten Großgedichten ist noch weit. In Arhus absolvierte Inger Christensen zunächst ein Lehrerseminar, später studierte sie Medizin, nebenbei ein bißchen Chemie und Mathematik und arbeitete einige Jahre an einer Kunsthochschule.

    Mitte der sechziger Jahre kommt es dann zu jenem künstlerischen Erweckungserlebnis, dem wir die epochalen Großgedichte "Es" und "alphabet" verdanken: Zu produktiven "Stolpersteinen" werden für Inger Christensen die Thesen ihres schwedischen Lyrikerkollegen Lars Gustafsson über "das Problem des langen Gedichts" und die Grammatik-Theorie des Linguisten Noam Chomsky. Chomskys Idee von einer "angeborenen Sprachfähigkeit" und seine Annahme universaler Regeln der Satzkonstruktion und unendlich generierbarer Sätze löste in Inger Christensen eine ästhetische Revolution aus:

    "Diese Sprachsicht Chomskys gab mir ein phantastisches Glücksgefühl. Eine unbeweisbare Gewißheit, daß die Sprache eine direkte Verlängerung der Natur ist. Daß ich dasselbe "Recht" hatte, zu sprechen, wie der Baum, Blätter zu treiben. Wenn ich nur ganz still beginnen, mich in die ersten Sätze einschleichen könnte, mich dort wie in Wasser verstecken, fließend, davontreiben, bis die ersten kleinen Kräuselungen sich zeigten, fast Wörter, fast Sätze, immer mehr."

    Ganz still beginnen, sich den organischen Zusammenhängen der Natur wie selbstverständlich anschmiegen, poetische Mimesis der Schöpfung betreiben: Das ist das poetische Organisationsprinzip der Großgedichte "Es" und "alphabet", die in Dänemark als exemplarische Texte für moderne "Systemdichtung" gelesen wurden. Es ist in der Christensen-Rezeption immer wieder darauf hingewiesen worden, daß diese Gedichte ganz strengen Kompositionsprinzipien folgen, die mathematischen Modellen entlehnt sind. Das Schöne und gänzlich Verblüffende dabei ist, daß diese wunderbar suggestiven Gedichte an keiner Stelle Gefahr laufen, als verkrampfte sprachexperimentelle Exerzitien mißverstanden zu werden. Auch der Glaube an das symbiotische Verhältnis von Mathematik und Dichtung ist ja ursprünglich ein romantisches Motiv, das Inger Christensen bei Novalis entlehnt hat. Im 1798 entstandenen "Monolog" von Novalis heißt es dazu: "Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei. Sie machen eine Welt für sich aus - sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll - eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge."

    Als eine lyrische Litanei über "das seltsame Verhältnisspiel der Dinge" kann auch das Großgedicht "alphabet" gelten, jene poetische Schöpfungsgeschichte der Welt, in der noch einmal die Natur und die Menschenwelt in all ihren wundersamen Einzelheiten aufgerufen werden - und in der auch die drohende Verwüstung dieser Welt evoziert wird. Der poetische Organismus dieses Textes scheint sich in geheimnisvoller ästhetischer Eigendynamik herzustellen, ohne daß es genauerer Kenntnisse darüber bedürfte, was denn zum Beispiel eine "Fibonacci-Folge" ist. Auf der Suche nach einer formalen Struktur, die ihr das Inventarisieren der Welt in einem poetischen "alphabet" ermöglicht, stieß Inger Christensen Mitte der siebziger Jahre auf jene "Fibonacci-Folge", eine nach dem italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci benannte Zahlenreihe, bei der sich jedes Glied der Reihe aus der Summe der beiden vorangehenden Zahlen errechnet.

    Im "alphabet" bestimmt diese Fibonacci-Folge Versmaß und Strophenlänge. Was ist nun das Wunderbare, das dieses "alphabet" zu einem epochalen Werk zeitgenössischer Dichtung und außerdem zu einem großen Hörerlebnis macht? Es ist der leise, zarte, eigentümlich singende Tonfall der Autorin, der uns in zuerst knappen, dann immer weiter ausgreifenden Sequenzen die Natur und die Dinge der Menschenwelt heraufruft. Der erste, sich in einer Art Beschwörung wiederholende Vers im "alphabet" - "die Aprikosenbäume gibt es/die Aprikosenbäume gibt es" - zieht immer mehr welthaltige Wörter aus dem Ungesagten ins Gedicht, das eine immer stärkere Sogwirkung entfaltet:

    1 Die Aprikosenbäume gibt es, die Aprikosenbäume gibt es

    2 Die Farne gibt es; und Brombeeren, Brombeeren und Brom gibt es; und den Wasserstoff, den Wasserstoff

    3 Die Zikaden gibt es; Wegwarte, Chrom und Zitronenbäume gibt es; die Zikaden gibt es; die Zikaden, Zeder, Zypresse, Cerebellum

    4 Die Tauben gibt es; die Träumer, die Puppen die Töter gibt es; die Tauben, die Tauben; Dunst, Dioxin und die Tage; die Tage gibt es; die Tage den Tod; und die Gedichte gibt es; die Gedichte, die Tage, den Tod

    So wächst allmählich das Gedicht, entfaltet sich nach Maßgabe des Alphabets und der Fibonacci-Folge in immer größeren Sequenzen; jeder Gedichtteil wiederholt das poetische Gewicht der beiden vorangegangenen Teile und gibt ihnen eine Dauer über sich hinaus. Die Fibonacci-Strukturierung bliebe rein abstrakt und willkürlich, wäre da nicht die Entdeckung, daß die Zahlen dieser Folge exakt bestimmten Wachstumsprozessen bei einigen Pflanzenarten entsprechen. Fibonacci-Prozesse finden sich auch in Kristallbildungen, im Geäst der Bäume oder in Blumen. Sprache als direkte Verlängerung der Natur: diese Erfahrung teilt sich im "alphabet" der Inger Christensen unmittelbar mit. Die sprachmagische und pantheistische Weltsicht, die sich hier artikuliert, kehrt wieder in den Essays "Die Sieben des Würfels" und "Unsere Erzählung von der Welt", deren zentrale Passagen Waterhouse in seine Auswahl aufgenommen hat. Auch hier kreist der Diskurs um die autopoietische Selbsterzeugung von Welt und Dichtung, um die strukturgleichen Bewegungsgesetze von Natur und Kunst:

    "Ich muß mir vorstellen, daß die Erde die Macht besitzt. Ich muß mir vorstellen, daß sie ihre physische chemische Grundlage ins Gleichgewicht gebracht hat, ehe sie sich daran gemacht hat, das zu erschaffen, was sie nach wie vor erschafft, nämlich Produkte, die das produzierende Prinzip reproduzieren, z.B. Kastanienbäume oder Menschen. Ich muß mir vorstellen, daß die Menschheit auf eine gemeinsame Bildersprache zu tendiert, die diese Macht und ihre natürlichen Gleichgewichtszustände ausdrücken kann. Daß der einzelne Mensch, ungestört, ein Spiegel des irdischen Zustands ist und daß Menschen in Gemeinschaft ein chemisches Gedicht zu Ehren der Erde und ihrer Sonne sind."

    Auch hier wird also das Loblied auf die Schöpfung gesungen, die Hymne auf das Biologische, das Lied auf "die Macht der Erde". Gleichzeitig weiß die Dichterin um die massive Bedrohung aller biologischen Lebensgrundlagen, und daß "Menschen in Gemeinschaft" nur idealiter "ein chemisches Gedicht zu Ehren der Erde" darstellen, in der Praxis unserer Lebenswelten aber meist als gedankenlose Resourcenvernichter und willige Gewalt-Vollstrecker auftreten. So treffen wir in der Christensen-Anthologie auch unvermeidlich auf jene negative Chiffre für unsere menschliche Existenz, die als Schlüsselwort unseres Zeitalters gelten kann: Wir lesen, gleich auf den ersten Seiten des Textes, von der Angst, die alle Bereiche des Daseins durchdrungen hat. Inger Christensen beruft sich in ihrer Beschwörung der Angst auf den schwedischen Dichter Gunnar Ekelöf; sie hätte auch den großen englischen Dichter Wystan Hugh Auden zitieren können, der vom 20. Jahrhundert als dem "Zeitalter der Angst" gesprochen hat.

    Natürlich ist eine Poetik der Angst auch nicht zu denken ohne den Rekurs auf den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, der mit seiner Schrift "Der Begriff Angst" am Anfang der europäischen Existenzphilosophie steht.

    Als poetische Leitvokabel ist die Angst im "Epilogos" des Gedichts "Es" allgegenwärtig; es ist eine Angst, die alles in ihren Bannkreis zieht, die alle Gefühle und Lebensregungen lähmt und auch die menschlichen Beziehungen zu torpedieren droht. Es gibt nur ein Gegenmittel, mit dem man sich dem eisernen Klammergriff der Angst zumindest für einige Augenblicke entwinden kann: Es ist die Poesie, die aus den Zwangszusammenhängen der Angst herausführt, die "Antistoffe" zur "Heilung" bereitstellt. Inger Christensen findet hier in lyrischem Predigtton zum Begriff der "Gnade":

    Worte könnten es sein die der Welt Gnade brächten die Angst formulierten so daß jeder einzelne in seiner Angst wüßte daß er zwar allein in der Welt ist zwar allein ist mit seiner Angst aber nie allein mit seinem eignen Bewußtsein von der Angst von der Welt Worte könnten es sein der Stoff den wir ohnehin miteinander teilen der Stoff der das Gemüt und die Sinne erweitern kann könnten Worte sein

    In Anknüpfung an solche markanten Motive von Schöpfungsinnigkeit und Daseinsangst, von Gnade und Heil hat Peter Waterhouse in seinem Nachwort zur Anthologie auf die religiösen Wurzeln dieser Poesie hingewiesen: "Das ist eine Religion, eine Re-membrierung."

    Religion wäre hier im Sinn des lateinischen Wortes "religio" zu verstehen: eine Bindung des Menschen, des Denkens und der Sprache an etwas, das größer ist als der Mensch: eine Bindung an die Kräfte der Erde, in denen das Göttliche anwesend ist. Die "Re-membrierung" wiederum, von der Waterhouse in einem poetischen Neologismus spricht, meint die Rückerinnerung oder "Wiedererinnerung" dieser Poesie an die ursprüngliche Einheit und Integrität der Natur, an das Ungeschiedensein.

    Es macht die große Kunst von Inger Christensens Poesie aus, daß sie immer wieder das einfache und starke Pathos des Staunens vor den Phänomenen der Natur aufzurufen vermag: Das also gibt es ! Die Aprikosenbäume gibt es, und wir haben es noch nie richtig bemerkt! Und erst der Vers über die Aprikosenbäume öffnet uns den Blick, und es gelingt uns - im Idealfall - , die Dinge anzuschauen, als wäre es das erste Mal. Und das Staunen darüber, daß es die Aprikosenbäume gibt, wird zum Sprechen über ein Wunder.

    Auch Inger Christensens jüngstes Werk, der streng-klassische Sonettenkranz "Das Schmetterlingstal", ist eine von Staunen und auratischer Erfahrung beseelte Schöpfungsgeschichte. Die Regel des Sonettenkranzes will es, daß die ersten vierzehn Sonette die Schlußzeile des vorangehenden Sonetts als Anfangszeile aufnehmen - so daß eine Ringkomposition entsteht. Das 15. und letzte Sonett, das sogenannte "Meistersonett" , zieht die lyrische Summa des ganzen Zyklus - und resümiert im vorliegenden Fall das Werden und Vergehen kreatürlichen Lebens. In einem südlichen Tal, dem Brajcinotal, erscheinen die einzelnen Schmetterlingsarten, und werden in elegischer Beschwörung als Verkörperungen von Leben und Tod angerufen. Das Gedicht selbst wird zum Abwehrzauber gegen den Tod. Im poetischen "Schmetterlingstal" kommen die Phänomene der Natur und die Sprache noch einmal zusammen - in einem poetischen Requiem, einem Abschied.

    Die Tore zum Paradies scheinen wieder offen - und die Sehnsucht, die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig zu machen, scheint sich zu erfüllen. Aber das poetisch heraufgerufene Paradies ähnelt am Ende nicht mehr dem Garten Eden, sondern dem Garten eines Friedhofs:

    Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten, wie Farbenstaub vom warmen Körper der Erde,

    Zinnober, Ocker, Gold und Phosphorgelb, ein Schwarm von chemischem Grundstoff hochgehoben.

    Dieses Flügelflimmern - ist es nur eine Schar von Lichtteilchen in einem Gesicht der Einbildung? Ist es die geträumte Sommerstunde meiner Kindheit, zersplittert wie in zeitverschobenen Blitzen?

    Nein, es ist der Engel des Lichts, der sich selbst als schwarzen Apollo mnemosyne malen kann, als Feuervogel, Pappelvogel und Schwalbenschwanz.

    Mit meiner umschleierten Vernunft sehe ich sie wie leichte Federn im Pfühl des Hitzedunstes in der mittagsheißen Luft des Brajcinotals.

    Sie steigen auf, die Schmetterlinge des Planeten, in der mittagsheißen Luft des Brajcinotals, aus der unterirdisch bitteren Höhle herauf, die das Berggebüsch mit seinem Duft verdeckt.

    Als Bläuling, Admiral und Trauermantel, als Pfauenauge flattern sie umher und gaukeln dem Toren des Universums ein Leben vor, das nicht wie nichts stirbt.

    Wer ist es, der diese Begegnung verzaubert mit Anflügen von Seelenfrieden und süßen Lügen und Sommergesichten verschwundener Toter?

    Mein Ohr antwortet mit seinem tauben Klingen: Es ist der Tod, der dich mit eigenen Augen vom Schmetterlingsflügel aus anblickt.