Der Ertrag dieser großen Anstrengung lautet: Die rot-grüne Ära war eine "Scharnierzeit für die Bundesrepublik Deutschland", in der sich drei große Entwicklungen verschränkten. Einerseits ging es um die großen Fragen von Krieg und Frieden, vom Kosovo über Afghanistan bis hin zum Irak, es ging zweitens um die Krise des Sozialstaates und die Agenda 2010, und schließlich fand ein Kulturwandel statt, für den die Chiffre lautet: "die '68er-Generation an der Macht".
Das Erstaunliche ist nun, dass diese drei Entwicklungen in Wolfrums Gesamtschau neu gewichtet werden: der Generationswechsel, für den paradigmatisch Außenminister Joschka Fischer stand, führte nur zu einem geringen Teil zu einem moralisch aufgeladenen Kulturkampf; der Versuch, mit einer Kritik an '68 auch Rot-Grün einzureißen, verfing mehrheitlich in der bundesdeutschen Gesellschaft nicht, 1968 hatte sich entdramatisiert. Außenminister Fischer im Jahr 2001:
"Was ich getan habe, das will ich Ihnen hier auch klipp und klar sagen: Ich war militant, ich habe mit Steinen geworfen, ich war in Prügeleien mit Polizeibeamten verwickelt, ich wurde geprügelt, aber ich habe auch Polizeibeamte geschlagen, dazu stehe ich, ich stehe zu meiner Verantwortung, das heißt aber noch lange nicht, dass ich dieses jetzt rechtfertigen tue. Ich habe erkannt, wie Gewalt eigene Gesichtszüge verzerrt, das war für mich die entscheidende Erfahrung, wo ich mich abgewandt habe."
Was zum Zweiten die großen Fragen von Krieg und Frieden angeht, ist erstaunlich, dass eine Regierung, die vor allem in der Innenpolitik Akzente setzen wollte, die außenpolitischen Konflikte umsichtig und souverän anging. Gerhard Schröder 2003 über den drohenden Irakkrieg:
"Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zu kämpfen, solange noch ein Funken Hoffnung besteht, dass der Krieg noch vermieden werden kann. Deshalb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik des Friedens beharrt haben, statt in eine Logik des Krieges einzusteigen, meine Damen und Herren."
Edgar Wolfrum kommentiert das - wie er sagt - "unerhörte deutsche Nein zum Irakkrieg" mit den Worten:
Die Stellung Deutschlands in der Welt ist, auch infolge seiner machtpolitischen Selbstbehauptung hinsichtlich des Irakkrieges, erheblich aufgewertet worden. Ein neuer "Geist" der Berliner Republik machte sich breit, Deutschland ist selbstbewusster geworden.
Bei der dritten Entwicklung, der Krise des Sozialstaates und der rot-grünen Antwort namens Agenda 2010, aber auch bei vielen anderen Fragen lagen "Triumph und Fiasko nahe beieinander", so räumt Wolfrum ein. Gerhard Schröder im Jahr 2003:
"Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, und wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern, der, meine Damen und Herren, wird mit Sanktionen rechnen müssen."
Wolfrum macht in diesem Zusammenhang auf eine Schwäche der von ihm betriebenen "gegenwartsnahen Zeitgeschichte" aufmerksam: dass nämlich bei nicht wenigen Einschätzungen "erst die Zukunft erweisen" wird, was "letzten Endes dauerhaft Bestand haben wird". Deutlich arbeitet der Historiker jedoch heraus, dass die rot-grüne Regierung einen wirtschaftspolitischen Schlingerkurs fuhr: Während zunächst Finanzminister Lafontaine sich mit dem internationalen Finanzsystem anlegte und sofort Schiffbruch erlitt, fuhr sein Nachfolger Eichel den umgekehrten Kurs. Edgar Wolfrum schreibt:
Lafontaines überhebliches Auftreten, seine fehlende Kompromissfähigkeit und seine überzogenen Ansprüche entwerteten die in weiten Teilen durchaus richtigen Einsichten, über die er verfügte. Mit seinem Rücktritt fehlte der Regierung Schröder ein wichtiges Korrektiv ihrer Arbeitsmarkt- und finanzpolitischen Reformpolitik. Künftig lag hier die offene Flanke nicht nur der SPD, sondern der rot-grünen Koalition überhaupt.
Die längerfristigen Folgen für das gesamte "rot-grüne Projekt" werden deutlich, wenn man dem gegenüberstellt, wie Lafontaines Nachfolger Eichel die Finanzwelt hofierte: Er reduzierte den Spitzensteuersatz sowie die Körperschaftssteuer, er ermöglichte den Kapitalgesellschaften eine steuerfreie Veräußerung ihrer Inlandsbeteiligungen und nahm so - wie Wolfrum bemerkt - die "größten Steuerentlastungen in der Geschichte der Bundesrepublik" vor. Wie man derartige Geschenke beurteilt, ist sicher von "der normativen Grundposition des Betrachters" abhängig, da kann man Wolfrum nur zustimmen. Kritisch merkt er bezüglich der Regulierung der Finanzmärkte an:
Aus späterer Sicht ging die Regierung nicht weit genug, aus zeitgenössischer jedoch musste sie sich "Regulierungswahn" vorwerfen lassen.
Was man daraus lernen kann: Wie sehr sich eine historische Sichtweise von tagesaktuellen Kommentaren unterscheidet! Eine Beurteilung von Rot-Grün fällt nachträglich deutlich anders aus als mitten im Kampfgetümmel. Das Ergebnis ist also durchaus überraschend: Während Rot-Grün die großen Konflikte um Krieg und Frieden erstaunlich besonnen meisterte, gewannen Themen, die den zeitgenössischen Beobachtern kaum auffielen, nachträglich erheblich an Bedeutung. Insofern ist die umfassende, zeitgeschichtliche Sichtweise Edgar Wolfrums wertvoll und lehrreich. Seine Anstrengung hat sich gelohnt.
Edgar Wolfrum: "Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998 - 2005."
C.H. Beck Verlag, 848 Seiten, 24,95 Euro. ISBN: 978-3-406-65437-4
Das Erstaunliche ist nun, dass diese drei Entwicklungen in Wolfrums Gesamtschau neu gewichtet werden: der Generationswechsel, für den paradigmatisch Außenminister Joschka Fischer stand, führte nur zu einem geringen Teil zu einem moralisch aufgeladenen Kulturkampf; der Versuch, mit einer Kritik an '68 auch Rot-Grün einzureißen, verfing mehrheitlich in der bundesdeutschen Gesellschaft nicht, 1968 hatte sich entdramatisiert. Außenminister Fischer im Jahr 2001:
"Was ich getan habe, das will ich Ihnen hier auch klipp und klar sagen: Ich war militant, ich habe mit Steinen geworfen, ich war in Prügeleien mit Polizeibeamten verwickelt, ich wurde geprügelt, aber ich habe auch Polizeibeamte geschlagen, dazu stehe ich, ich stehe zu meiner Verantwortung, das heißt aber noch lange nicht, dass ich dieses jetzt rechtfertigen tue. Ich habe erkannt, wie Gewalt eigene Gesichtszüge verzerrt, das war für mich die entscheidende Erfahrung, wo ich mich abgewandt habe."
Was zum Zweiten die großen Fragen von Krieg und Frieden angeht, ist erstaunlich, dass eine Regierung, die vor allem in der Innenpolitik Akzente setzen wollte, die außenpolitischen Konflikte umsichtig und souverän anging. Gerhard Schröder 2003 über den drohenden Irakkrieg:
"Wir müssen den Mut aufbringen, für den Frieden zu kämpfen, solange noch ein Funken Hoffnung besteht, dass der Krieg noch vermieden werden kann. Deshalb war und bleibt es richtig, dass wir auf der Logik des Friedens beharrt haben, statt in eine Logik des Krieges einzusteigen, meine Damen und Herren."
Edgar Wolfrum kommentiert das - wie er sagt - "unerhörte deutsche Nein zum Irakkrieg" mit den Worten:
Die Stellung Deutschlands in der Welt ist, auch infolge seiner machtpolitischen Selbstbehauptung hinsichtlich des Irakkrieges, erheblich aufgewertet worden. Ein neuer "Geist" der Berliner Republik machte sich breit, Deutschland ist selbstbewusster geworden.
Bei der dritten Entwicklung, der Krise des Sozialstaates und der rot-grünen Antwort namens Agenda 2010, aber auch bei vielen anderen Fragen lagen "Triumph und Fiasko nahe beieinander", so räumt Wolfrum ein. Gerhard Schröder im Jahr 2003:
"Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, und wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern, der, meine Damen und Herren, wird mit Sanktionen rechnen müssen."
Wolfrum macht in diesem Zusammenhang auf eine Schwäche der von ihm betriebenen "gegenwartsnahen Zeitgeschichte" aufmerksam: dass nämlich bei nicht wenigen Einschätzungen "erst die Zukunft erweisen" wird, was "letzten Endes dauerhaft Bestand haben wird". Deutlich arbeitet der Historiker jedoch heraus, dass die rot-grüne Regierung einen wirtschaftspolitischen Schlingerkurs fuhr: Während zunächst Finanzminister Lafontaine sich mit dem internationalen Finanzsystem anlegte und sofort Schiffbruch erlitt, fuhr sein Nachfolger Eichel den umgekehrten Kurs. Edgar Wolfrum schreibt:
Lafontaines überhebliches Auftreten, seine fehlende Kompromissfähigkeit und seine überzogenen Ansprüche entwerteten die in weiten Teilen durchaus richtigen Einsichten, über die er verfügte. Mit seinem Rücktritt fehlte der Regierung Schröder ein wichtiges Korrektiv ihrer Arbeitsmarkt- und finanzpolitischen Reformpolitik. Künftig lag hier die offene Flanke nicht nur der SPD, sondern der rot-grünen Koalition überhaupt.
Die längerfristigen Folgen für das gesamte "rot-grüne Projekt" werden deutlich, wenn man dem gegenüberstellt, wie Lafontaines Nachfolger Eichel die Finanzwelt hofierte: Er reduzierte den Spitzensteuersatz sowie die Körperschaftssteuer, er ermöglichte den Kapitalgesellschaften eine steuerfreie Veräußerung ihrer Inlandsbeteiligungen und nahm so - wie Wolfrum bemerkt - die "größten Steuerentlastungen in der Geschichte der Bundesrepublik" vor. Wie man derartige Geschenke beurteilt, ist sicher von "der normativen Grundposition des Betrachters" abhängig, da kann man Wolfrum nur zustimmen. Kritisch merkt er bezüglich der Regulierung der Finanzmärkte an:
Aus späterer Sicht ging die Regierung nicht weit genug, aus zeitgenössischer jedoch musste sie sich "Regulierungswahn" vorwerfen lassen.
Was man daraus lernen kann: Wie sehr sich eine historische Sichtweise von tagesaktuellen Kommentaren unterscheidet! Eine Beurteilung von Rot-Grün fällt nachträglich deutlich anders aus als mitten im Kampfgetümmel. Das Ergebnis ist also durchaus überraschend: Während Rot-Grün die großen Konflikte um Krieg und Frieden erstaunlich besonnen meisterte, gewannen Themen, die den zeitgenössischen Beobachtern kaum auffielen, nachträglich erheblich an Bedeutung. Insofern ist die umfassende, zeitgeschichtliche Sichtweise Edgar Wolfrums wertvoll und lehrreich. Seine Anstrengung hat sich gelohnt.
Edgar Wolfrum: "Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998 - 2005."
C.H. Beck Verlag, 848 Seiten, 24,95 Euro. ISBN: 978-3-406-65437-4