Archiv


Ein Plädoyer gegen den Gesundheits- und Fitnesswahn

Eine zu starke Fixierung auf den eigenen Körper und die eigene Gesundheit sei nicht nur egozentrisch, sagt die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh. In letzter Konsequenz sei der Fitnesswahn sogar eine "Aufkündigung des Solidaritätsgedankens".

Juli Zeh im Gespräch mit Kathrin Hondl |
    Kathrin Hondl: "Wir schenken Ihnen Zeit" – das ist das Motto zum Jahresanfang bei "Kultur heute". Und es bedeutet: Wir schenken unseren Gesprächspartnern ein bisschen mehr Zeit als sonst. Heute geht das Zeitgeschenk an die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh.
    Der Jahresanfang – das ist ja immer die Zeit der guten Vorsätze: Nicht mehr rauchen, abnehmen, weniger Alkohol trinken, mehr Sport machen und so weiter – und fürs Neue Jahr wünschen wir uns gegenseitig neben Glück und Liebe natürlich vor allem: Gesundheit! Sie, Frau Zeh, sehen diese Privilegierung der Gesundheit – die Fixierung auf den Körper – ziemlich kritisch. In Ihrem letzten Buch jedenfalls "Corpus Delicti" - unter dem Titel gibt es auch ein Theaterstück –, da erfinden Sie so eine Art Gesundheitsdiktatur – eine Welt der Zukunft, wo der Staat das körperliche Befinden der Menschen genauestens kontrolliert und überwacht – wo leistungsmindernde Substanzen wie Alkohol verboten sind und wo die Bürger regelmäßig Schlaf- und Ernährungsberichte abliefern müssen. Frau Zeh, ärgert es Sie, wenn ich Ihnen fürs Neue Jahr jetzt Gesundheit wünsche?

    Juli Zeh: Nein! Ich finde, als guten Wunsch ist das absolut legitim. Wenn Sie mir das nicht wünschen würden, sondern mich dazu verpflichten, dann würde ich vielleicht sagen, das geht zu weit. Aber ich finde, wünschen darf man sich das schon nach wie vor.

    Hondl: Verpflichtung zur Gesundheit, das gibt es in Ihrer fiktiven schönen neuen Gesundheitsdiktaturwelt, die Sie da in "Corpus delicti" entwerfen, und das, was Sie da beschreiben, das beschreibt ja im Grunde auch etwas, was es in Ansätzen schon in unserer realen nicht-totalitären Gesellschaft gibt. Schon allein, um die Krankenkassen zu entlasten, rät man uns ja, von allen Seiten gesund zu leben. Was beunruhigt Sie daran so, warum ist das so schlimm?

    Zeh: Das Problem hat ganz viele Facetten. Wenn man mal beim Einzelnen anfängt, quasi beim Individuum, würde ich schon sagen, es ist nicht besonders gesund, sich zu stark auf die Gesundheit zu konzentrieren, vor allem dann nicht, wenn man mit diesem Begriff was rein physisches, objektives, messbares und normiertes meint. Wir neigen alle ein bisschen zu so einer Körperegozentrik, als wäre tatsächlich Gesundheit das höchste Gut. Wenn man sich mal überlegt, was dann alles nicht die höchsten Güter sind, so etwas wie Liebe, Solidarität vielleicht, Verantwortung für andere und so weiter, dann wird, glaube ich, auch ziemlich schnell klar, was damit gemeint ist. Menschen, die sich sehr stark auf ihren Körper fixieren, da hängen dann so Begriffe dran nicht nur wie Gesundheit, sondern auch wie Schönheit, Jugend, Leistung, Fitness, alles sehr kapitalistische Begriffe. Das ist einfach eine stark ichbezogene egozentrische und irgendwie sozialfeindliche Haltung, von der ich einfach nicht glaube, dass die für den Menschen als Sozialwesen besonders adäquat oder auch nur vernünftig ist.

    Hondl: Aber es gibt ja doch diesen ganz alten Spruch, der auch in Ihrem Roman, glaube ich, eine gewisse Rolle spielt, "Mens sana in corpore sano", ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Das ist doch eigentlich ein Spruch, der möglicherweise nicht ganz falsch ist, oder?

    Zeh: Aber der ist nur deswegen nicht ganz falsch, weil der Spruch ja nichts darüber sagt, was mit gesund überhaupt gemeint ist. Gesund wird von uns ja quasi inzwischen als ein Synonym für gut oder für normal verstanden, und wenn man das so übersetzt, könnte man auch sagen, ein guter Geist in einem guten Körper, ein normaler Geist in einem normalen Körper. Das klingt alles richtig, das ist ein vollkommen redundanter Satz, der eigentlich für sich genommen wenig Aussagekraft besitzt. Ich glaube, worüber wir uns mal wieder klar werden sollten, einfach weil der Trend da jetzt schon seit Langem in eine andere Richtung geht, ist, dass, wenn man überhaupt über Gesundheit sprechen will, man das als etwas sehr, sehr Individuelles verstehen muss und etwas, was wirklich jeder Mensch für sich definieren muss und was sich überhaupt dazu neigt, zum Daueropfer von Statistiken, Studien und Objektivierungsversuchen zu werden, die dann hinterher auch noch staatlich umgesetzt werden sollen, weil das alles ja immer nur funktioniert, indem man eben Grenzwerte festlegt, was ist der zulässige Bluthochdruck, was ist der zulässige Body Maß Index. So etwas kann man jetzt einfach definieren und sagen, irgendeine neue Studie hat das so und so ergeben, was diesen Grenzwert übersteigt, ist nicht mehr normal, nicht mehr gut, nicht mehr gesund, und daran knüpfen wir jetzt irgendwelche Konsequenzen. Und genau dieses Denken ist meiner Ansicht nach einfach komplett falsch. Da steckt schon das falsche Menschenbild dahinter.

    Hondl: Und wenn Gesundheit alles ist und alle danach streben sollen, dann heißt das ja in letzter Konsequenz auch, dass Krankheit zu so was selbst verschuldetem fast wird. Inwiefern bedeutet denn dieser Gesundheits- und Fitnesswahn auch eine Ablehnung oder Tabuisierung von Krankheit?

    Zeh: Das bedeutet es auf jeden Fall und ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass in letzter Konsequenz da auch eine Aufkündigung des Solidaritätsgedankens drinsteckt, nämlich dieser Idee, dass man sich für Menschen mitverantwortlich fühlt und auch weiter für die sorgt, selbst wenn die krank sind und selbst dann, wenn die von mir aus auch selbst verschuldet krank sind. Wenn man überhaupt jetzt erst mal sagt, es gibt objektive Gesundheit, und wenn man davon ausgeht, dann gibt es automatisch auch ganz objektive Regeln, die man befolgen kann, um diese Gesundheit zu erreichen. Die werden uns ja auch ständig um die Ohren gehauen. Und wenn die jetzt jemand nicht befolgt, kann man ja quasi weiter so ganz logisch daran knüpfen, dann gibt es eigentlich auch keinen Grund, wenn er dann krank wird, dass man sich um den kümmert, weil wir haben ihm ja gesagt, was er machen soll, und wenn er das nicht macht, dann gilt die "selber Schuld"-Regel und wir lassen ihn halt fallen, wird ja auch zu teuer für uns alle. Das ist halt auf den ersten Blick so eine Argumentation, die hört man heute sehr häufig in der Politik und von den Krankenkassen; da stimmen die meisten Leute spontan zu, weil die irgendwie das Gefühl haben, ist doch richtig, warum soll ich denn für jemanden zahlen, der jetzt raucht und dann Lungenkrebs kriegt und solche Geschichten.

    Hondl: ... , oder der sich beim Skifahren ein Bein bricht oder so.

    Zeh: Genau! Oder der in die Dusche steigt, wo er auch vorher wusste, dass das total gefährlich ist. Man kann das im Grunde auf alles anwenden. Wer Auto fährt und dann einen Unfall hat, hätte er ja alles lassen können. Also wenn man das so ein bisschen weitertreibt, dann sieht man sofort, wo das Problem ist: Man kann dabei überhaupt keine Grenze ziehen, sondern es geht hier um was ganz Prinzipielles. Die Ursprungsidee ist eigentlich zu sagen, wir in der Demokratie garantieren dem Einzelnen die möglichst große Handlungsfreiheit und wir erlauben auch das Eingehen von Risiken und das halten wir auch aus. Wenn jemand anderes etwas Unvernünftiges macht, was ich unvernünftig finde – das sind ja immer Einzelmeinungen; der selber findet das vielleicht total vernünftig -, und es geht schief, bin ich trotzdem bereit, das mitzutragen. Das ist ein ganz erwachsener, ein ganz reifer Gedanke, und der fällt den Leuten zunehmend schwer. Die verstehen nicht mehr, dass da auch ein Gegenseitigkeitsprinzip drin ist, was ihnen erlaubt, das zu tun, was sie gern möchten. Wenn wir damit einmal anfangen, dann bauen wir quasi schleichend, ohne uns Rechenschaft abzulegen, unser komplettes System um. Wir entziehen die Grundlage und errichten stattdessen so eine Art Selektionssystem. Nur die Guten, die alles richtig machen, sind dann die, für die auch gesorgt wird, und die anderen, die fallen alle irgendwie hinten herunter, und gerechtfertigt wird das über diese "selber Schuld"-Idee.

    Hondl: Sie selbst, Frau Zeh, beziehungsweise Ihr Körper stehen ja zurzeit auch unter besonderer medizinischer Beobachtung: Sie erwarten ein Kind, und da gehören ja Vorsorgeuntersuchungen und gesundes Leben zum Pflichtprogramm irgendwo. Empfinden Sie das auch als problematisch?

    Zeh: Ich habe mich in den letzten Monaten wirklich viel – geärgert ist fast zu wenig gesagt. Ich war öfter regelrecht schockiert, inwieweit ich das Gefühl hatte, dass meine schon ein bisschen überspitzten "Corpus delicti"-Diagnosen spätestens dann anfangen zuzutreffen, wenn man schwanger ist. Weil diese Tendenz, Leuten vorzuschreiben, was sie zu tun haben, und quasi auch zu glauben, man wüsste von außen immer irgendwie besser, was gut ist für den Einzelnen, das nimmt dann wirklich Überhand, wenn man schwanger ist, weil nämlich irgendwie auch zunehmend sozusagen das Wohlergehen des Kindes über das Gefühl von der Frau gestellt wird. Man hat quasi den Eindruck, die Verantwortung soll einem komplett abgenommen werden, die Entscheidung soll nicht mehr die eigene sein, sondern die Gesellschaft hat wie so eine Art Anspruch auf dieses Kind und auch auf die Gesundheit dieses Kindes, und wenn man jetzt irgendwas macht oder machen würde, was dem nicht gerecht ist, dann ist man nicht nur dumm, dann ist man quasi ein Verbrecher. Wenn ich mir vorstelle, mit einem dicken Bauch mir öffentlich eine Zigarette anzustecken – ich glaube, die würden mich lynchen.

    Hondl: Also geht es letztlich um die Freiheit und unser Verständnis von Freiheit?

    Zeh: Absolut! Es ist ja auch kein Zufall, dass jetzt in dem Buch "Corpus delicti" ich versuche, eine Beziehung herzustellen zu einem totalitären Denken, weil eine Gesellschaft zu bauen auf den Begriff von körperlicher Gesundheit, oder überhaupt auf physische Kriterien - das wurde im 20. Jahrhundert in Deutschland schon mal gemacht; das waren die Nazis, die das so gemacht haben. Die haben auch körperlich Physisches, damals unter dem Rassebegriff, aber auch unter dem Begriff der Volksgesundheit, als einen staatlich garantierten Wert definiert und alles daran ausgerichtet. Und ich höre schon wieder die empörten Aufschreie, aber wir sind doch heute nicht mehr bei den Nazis. Das sind wir natürlich nicht, aber manchmal hilft so ein Blick zurück, um zu verstehen, was dem inne wohnt, was man tut. Ich glaube, wir täten ganz gut daran, das einfach noch mal mit einem bisschen Distanz zu reflektieren, bevor wir immer nur sagen, na ja, auf den ersten Blick ist das doch alles irgendwie logisch und vernünftig.

    Hondl: Ein Plädoyer gegen den Gesundheits- und Fitnesswahn. Die Schriftstellerin Juli Zeh war das in unserer Reihe "Wir schenken Ihnen Zeit".

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Weitere Teile der Serie: "Wir schenken Ihnen Zeit"

    Teil I - Der Soziologe Hartmut Rosa über Kunst und die Beschleunigungskultur
    Teil II - Der neue Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, Gedanken über die Fotografie und die Zeit
    Teil III - Gesine Schwan über Demokratie und Gemeinsinn
    Teil IV - Opernsängerin Edda Moser: Ein Loblied auf die deutsche Sprache
    Teil V - Kulturpolitikerin Monika Grütters über die Rolle der Kultur in multi-ethnischen Gesellschaften
    Teil VI - Der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski über die Chancen des Philosophierens
    Teil VII - Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu im Gespräch über das Ruhrgebiet