Fabian Elsäßer: Das Lagerfeuer vorm heimischen Fernseher neu entzündet – das hat der Streamingdienst Netflix, finden jedenfalls manche Kollegen. Heute wird Netflix tatsächlich schon 20 Jahre alt. Anfangs hatten sie ein relativ altmodisches Modell, nämlich einen DVD-Verleih. Allerdings mit dem neuen Gedanken eines Monatsabos, sozusagen "Flatrate-Gucken". Inzwischen ist Netflix einer der großen weltweiten Unterhaltungsanbieter. Und wohl auch einer der Totengräber herkömmlicher Sehgewohnheiten. Netflix-Serien werden ja linear erzählt, aber nicht linear gesehen. Die Frage lautet eher: Geschnitten oder am Stück? Marcus S. Kleiner ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Hochschule der populären Künste in Berlin. Willkommen zum Corsogespräch!
Marcus S. Kleiner: Herzlichen Dank, hallo!
Elsäßer: Herr Kleiner, Serien aus den USA sind seit ein paar Jahren ja das ganz große Ding in der visuellen Unterhaltung – ich vermeide jetzt absichtlich den Begriff "Fernsehen". Welchen Anteil hat Netflix daran?
Kleiner: Netflix hat einen sehr großen Anteil daran, weil man an der Geschichte von Netflix den Wandel der digitalen Kultur und der Mediennutzung in den letzten 20 Jahren beobachten kann. Netflix hat verstanden, dass man Medienangebote zunehmend nicht mehr an einem Ort zu einer bestimmten Zeit sehen möchte, sondern immer dann, wann man möchte an den Orten, an denen man sehen möchte. Und so hat Netflix die sogenannte Second-Screen-Mentalität mit ausgebildet, dass man auf dem iPad schaut, auf dem Notebook schaut, dass man mit Mobilfunk schaut. Und gleichzeitig ist dadurch Fernsehen oder Bewegtbild mobil geworden.
"Eigenproduktionen mit massiver finanzieller Ausstattung"
Elsäßer: Aber was ist das eigentlich Revolutionäre, was Netflix eingebracht hat, jetzt mal abseits von der Art der Verbreitung?
Kleiner: Netflix hat unter anderem sehr viel Wert auf Eigenproduktionen gelegt. Und das hat begonnen, seitdem sie seit 2007 angefangen haben, sich aufs Streaming als Kerngeschäft zu verlagern, weg vom DVD-Versand, DVD-Handel, also diese Online-Videothek zu sein. Und dann hat man überlegt: Wie können wir einen Eigenwert schaffen? Und das bestand dann darin, 2013 gestartet mit "House of Cards", Eigenproduktionen mit massiver finanzieller Ausstattung auf den Weg zu bringen, die man nur bei Netflix sehen kann - die auch oft in Originalsprache sind oder Originalsprache mit Untertitel - und man so ein neues Fernsehen außerhalb des Fernsehens geschaffen hat.
Elsäßer: Wieso hat damals kein herkömmlicher Fernsehsender diese Idee aufgegriffen? Serien waren da ja auch schon am Start?
Kleiner: Das Spannende bei "House of Cards" war, man hat den Oscar-Preisträger Kevin Spacey und den Hollywood-Regisseur David Fincher gewinnen können, indem man etwas versprochen hat, was das herkömmliche Fernsehen nicht gemacht hat, nämlich: Wir garantieren Euch zwei Staffeln. Das hat kein konventioneller Fernsehsender gemacht - oder hätte es gemacht zu der Zeit. Und Netflix hat einfach verstanden, wie man große Schauspieler, erfolgreiche Regisseure ins Digitale holt, indem man ihnen Versprechen anbietet, die das klassische, analoge Fernsehen nicht leisten kann.
Elsäßer: Und diese Versprechen auch hält.
Kleiner: Ja, absolut. Und sie hat ja nicht nur mit "House of Cards", sondern "Orange Is the New Black", aktuell "Narcos", die Geschichte um den Drogenbaron Escobar und dann die Kartellkämpfe, die nach seinem Tod entstanden sind. Man hat immer ein Gespür für die Zeit. Was wollen die Leute sehen? Was sind Stoffe, die die Menschen ansprechen? Denn eins ist für Netflix ganz, ganz hervorragend, nämlich: Sie sind eine audiovisuelle Volkskultur. Sie versuchen, für jeden Geschmack und für jedes Alter etwas zu bieten und unterscheiden sich damit ganz grundlegend von etwa Pay-TV-Sendern wie HBO. Netflix sagt: Wir sind für die Masse da, für den großen Geschmack des Volkes da, und wollen einen Querschnitt des Volksgeschmackes anbieten. Und das unterscheidet Netflix ganz stark von HBO.
Amazon Prime spielt da auch mit, auch so wie Maxdome. Watchever ist in Deutschland zum Beispiel abgehangen in der Konkurrenz der Streamingdienste. Und diese Sender versuchen auch, die große Vielfalt anzubieten. Nur, im Unterschied zu Netflix - bei Amazon Prime etwa - mehr Vertiefung. Es gibt dann auch Spartenkanäle wieder, wo man Special Interests, also Arthaus-Filme sehen kann und so weiter.
"Fernsehserien haben die klassische Filmkultur abgelöst"
Elsäßer: Inwiefern haben sich denn Technik und Produktion durch Netflix und das finanzielle Engagement von Netflix verändert?
Kleiner: Also in der Serienkultur ist es so, dass man auf dem Niveau der Kinofilme ist. Man hat hervorragende Bildqualität, man arbeitet mit großen Regisseuren zusammen, mit bedeutenden Schauspielern zusammen, erzählt keine Stoffe mehr, die irgendwie billig wirken oder Schauspieler, die billig wirken, eine Location, die aussieht wie Fernsehen aber nicht wie Film. Sondern eigentlich haben Fernsehserien und diese Eigenproduktionen, die auf höchstem technischen Maßstab und künstlerischen Maßstab gedreht sind, die klassische Filmkultur in ihrer Bedeutung sozusagen für ästhetische Größe, ästhetische Bedeutung, abgelöst.
Elsäßer: Ich meine gelesen zu haben, dass zum Beispiel - das ist jetzt keine Netflix-Serie – aber dass zum Beispiel bei "Game of Thrones" für manche Effekte monatelang gearbeitet wird und am Ende entstehen aber nur ein paar Sekunden Film. Lohnt sich das wirklich?
Kleiner: Ja, es lohnt sich absolut. "Game of Thrones" ist eine der erfolgreichsten Serien weltweit. Und es hat gezeigt, dass Bewegtbild, und nicht das Kino-Bewegtbild, sondern auch das serielle Fernseh-Bewegtbild Kunst sein kann. Und das ist etwas, was ungewöhnlich war, das Netflix etabliert hat. Dass eigentlich ein Streamingdienst, der nur eine Durchlaufstation ist, also etwas verleiht, etwas abgibt für einen bestimmten Monatsbetrag, dass er selbst in der Lage ist, Kunst zu schaffen, Bewegtbild-Kunst zu schaffen. Und das ist ein großes Alleinstellungsmerkmal von Netflix.
Kleine Filme für mehr Vielfalt
Elsäßer: Wobei es nicht nur unbedingt die teuren Produktionen sind, die bei Netflix eine Chance haben. Ich erinnere an den Filmemacher Philipp Eichholtz, der kürzlich bei uns im Corsogespräch war und gesagt hat, Netflix sei ein Segen, denn auch mit kleinem Geld gedrehte Filme, wie seine, hätten dadurch die Chance auf ein großes internationales Publikum.
Kleiner: Das ist völlig richtig. Also es ist einerseits die Masse, die es möglich macht, auch Nischen zu bedienen und Nischen zu ermöglichen. Denn wenn man sich heute das Fernsehgeschäft anschaut, auch das Filmgeschäft anschaut, es regiert überall die Angst. Man ist unsicher: Kann das erfolgreich sein? Man produziert eine Staffel und dann zeigt man eine Folge – die ist nicht erfolgreich, man setzt es ab. Also da ist eine Riesenunsicherheit im klassischen Fernseh-, Medien- und Filmbetrieb. Und Netflix ist einfach risikobereit und sagt: Wir probieren das aus. Wir geben auch diesen kleinen Filmen, kleinen Serien, die nicht so aufwändig, nicht so teuer sind, eine Chance, um die Vielfalt bedienen zu können, von der wir sprechen.
Elsäßer: Jetzt heißt es immer, das serielle Erzählen, das sei von Netflix – oder eben auch von HBO, mit diesen großen, aufwändigen Serien – eingeführt worden. Man will unbedingt wissen, wie es weitergeht, man bleibt dran. Bingewatching ist das Stichwort, man guckt dann so gleich zwei Staffeln hintereinander weg und dann ist das Wochenende vorbei. Aber stimmt das überhaupt? Also diese Straßenfeger im deutschen Fernsehen der 60er Jahre, die haben das doch schon auch gemacht?
Kleiner: Ja, man hatte nur damals keine große Auswahl. Da gab es wenig Programme, es gab einen Straßenfeger, und dann hat man sich diese Produktion angesehen. Das Spannende bei Netflix ist: Man bietet jedem die Möglichkeit, die Serie, die man gerade feiert, die man großartig findet, durchzusehen. Wenn es vier Staffeln gibt, habe ich die Möglichkeit, weil es bei Netflix ist, diese vier Staffeln am Stück zu sehen. Ich bleibe dran und erlebe einen fast nicht enden wollenden Spielfilm, komme in eine Extase, in so ein Fieber, es sehen zu können, muss nicht warten, muss mir nicht die DVD-Box kaufen, sondern kann mir alles auf einmal, mit meinen Freunden, alleine, egal wo ich bin, auf einmal ansehen. Da ist eine große Lust auf audiovisuelle Stoffe, die viel besser befriedigt werden kann als es das herkömmliche Fernsehen oder das Kino oder auch der DVD-Verkaufshandel möglich gemacht hat.
"Netflix wird weiterhin sehr erfolgreich sein"
Elsäßer: Wir hatten es jetzt immer von dem Erfolg von Netflix, aber wie sind die Zukunftsaussichten Ihrer Meinung nach?
Kleiner: Netflix ist ein Trendsetter. Das sieht man ganz aktuell daran, dass, als Disney den Exklusivvertrag mit Netflix in den USA aufgekündigt hat und einen eigenen Streamingdienst ins Leben rufen wollte, Netflix sich entschieden hat, Millarworld, diesen Comicverlag, zu kaufen, mit Titeln wie "Kick Ass" und "Kingsman", um den Marvel-Serien Konkurrenz zu machen und eine Alternative gegenüberzustellen. Ich glaube, Netflix wird weiterhin sehr erfolgreich sein, weil sie nicht nur diese Vielfalt auch mit diesen qualitativen Highlights anbieten können, sondern auch wissen, was der Markt will und wie der Markt funktioniert und wie man so große Giganten wie auch Disney Konkurrenz machen kann und sie abhängen kann.
Elsäßer: Netflix feiert genau heute 20. Geburtstag. Warum das Unternehmen so erfolgreich ist erklärte uns Marcus S. Kleiner, er ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Hochschule der populären Künste in Berlin. Herzlichen Dank fürs Gespräch!
Kleiner: Sehr gerne.
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