Archiv

Eine Lange Nacht über Conrad Schnitzler
Manchmal artet es in Musik aus

Zirpen, blubbern, flimmern, es klingt mal nach Fabriksirene, mal nach einem ratternden Zug oder einem pulsierendem Schiffsdiesel. Der Intermedia-Künstler Conrad Schnitzler mischt alle diese Geräusche zu neuer Musik. Als Handwerker ohne musikalische Ausbildung wird er ein wichtiger "Klangarbeiter" - und gilt als einer der Wegbereiter der elektronischen Musikszene der 70er-Jahre.

Von Beate und Stefan Becker |
    Intermedia-Künstler Conrad Schnitzler.
    Intermedia-Künstler Conrad Schnitzler. (Photo © MaxJoy.org)
    Inspiriert wurde Conrad Schnitzler (1937 - 2011) von der Neuen Musik von Cage bis Stockhausen. 1968 eröffnet er in Berlin mit dem Zodiak den ersten Underground-Club der Stadt als Freiraum für Happenings, Theater- und Musikperformances.
    Trailer zur Langen Nacht über Conrad Schnitzler (Fotoquelle: Photo © MaxJoy.org)
    Schnitzler ist Musiker, Komponist und Produzent seiner Stücke, nennt sich Intermedialist, arbeitet mit Videotechnik und als Aktionskünstler. Ob in kleinen Galerien in New York, in den Straßen von Linz bei der Ars Electronica, im Aufzug des Musée d'Art moderne in Paris oder auf der Empore der Ostberliner Erlöserkirche: Freiheit und Unabhängigkeit sind seine obersten Prämissen. Die kommerzielle Verwertbarkeit seiner Kompositionen hingegen ist kein Kriterium für ihn.
    Conrad Schnitzler gilt als einer der Wegbereiter der elektronischen Musikszene der 1970er-Jahre, und wird von Industrial-, Noise- und Ambiente-Musikern ebenso wie von Techno-Djs als Vorbild genannt. Eine Lange Nacht über einen Pionier der elektronischen Musik.
    Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendungsfassung hier: Manuskript als PDF / Manuskript als TXT. Die Webbegleitung zu dieser Sendung ergänzt und fokussiert das Thema der Sendung, bietet einen eigenen Zugangsweg zu dem Thema.

    "Wenn ich die Hand aufmache und da ist nichts drin, dann ist das schon Intermedia. Die Luft die ich atme ist schon ein Ereignis und die Töne, die ich mache, lösen sich in Luft auf." (Conrad Schnitzler)

    Die Jugendjahre Conrad Schnitzlers

    Das offizielle Video #44 "Con-Lux Bonus" von Conrad Schnitzler auf Youtube:
    "Diese ganze Zeit, das geht von den Kriegserlebnissen, dieser wahnsinnig gemeine Sound, wenn man in einem Keller sitzt und da oben rumst es und die Leute schreien oder auch als ich wach wurde als Kind, das Fenster stand auf und ich wusste ganz genau, es hat geschneit. Das hört man am Glockenklang, da war ich vier Jahre alt oder so. Hab ich das ganz mit Bewusstsein gehört. Also das Kontrollieren der Klänge ist mir sehr früh in die Wiege gelegt worden und dann ging das halt weiter. Ich war zuerst in der Fabrik, damit fing es ja an. In so einer Halle. Alle Hallen haben einen anderen Klang. Und je nachdem, wo man steht, klingt es auch anders."
    Die Industriegeräusche in der Fabrikhalle, die den jugendlichen Conrad Schnitzler tagsüber umgaben, wurden nach Feierabend abgelöst von avantgardistischer, elektronischer Musik. Der NWDR sendete ab 1953 Neue Musik, "unerhörte Musik". Musikalische Experimente produziert im Studio für elektronische Musik in Köln, das zunächst Herbert Eimert, ab 1963 Karl-Heinz Stockhausen leitete.
    Conrad Schnitzler wurde Schüler von Joseph Beuys, der 1961 Professor für Bildhauerei an der Kunstakademie in Düsseldorf geworden war. Joseph Beuys erweiterter Kunstbegriff überzeugte ihn: "Jeder Mensch ist ein Künstler". Nach kurzer Zeit verließ Conrad Schnitzler die Akademie. Aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis zu Beuys entwickelte sich eine Freundschaft. 1964 erlebte Conrad Schnitzler in der Berliner Galerie von René Block eine der ersten Beuys-Performances: "Der Chef".
    Conrad Schnitzler: "Der hat in der Blockgalerie eine Aktion gemacht, da lag diagonal in einem Raum eine Filzrolle, und es gab einen Lautsprecher. Und an den Wänden waren Mimosen und Fingernägel angeheftet und angeklebt und es standen Kupferstangen quer gegen die Wand, umwickelt in der Mitte mit, ich würde mal sagen, Asbestband. Und es gab immer einen Ton wuwuwu und die Aktion lief sechs Stunden. Ach, ich vergaß, an jedem Ende des diagonal im Raum liegenden Teppichs lag ein ausgestreckter toter Hase. Jedenfalls nach sechs Stunden wickelte er sich aus und dann sah man, dass er die Töne gemacht hat, er hatte ein Mikrofon da drin und er machte halt immer diese Töne, die aus dem Lautsprecher kamen."
    Wolfgang Seidel: "Dass Conrad in diesen Kulturbetrieb hinein konnte, verdankte er dieser ganz speziellen 60er-Jahre-Gemengelage, wo diese alte gesellschaftliche Ordnung, Hierarchie, das "Kastenwesen", infrage gestellt wurde. Das war dann gerade so in den 60ern, Anfang 70er, wo dann das Bürgertum und der Kunstbetrieb so linke Aufwallungen hatte, war er da als ein Vorzeigearbeiter natürlich ganz toll. Aber genau auf diese Rolle hatte Conrad keine Lust und hat sich auch immer verweigert dieser Art von Networking, die man betreiben muss, um in dieser Welt zu überleben."
    Besuch bei Conrad Schnitzler in seinem Keller-Studio, zusammen mit Andreas Schneider (links).
    Besuch bei Conrad Schnitzler in seinem Keller-Studio, zusammen mit Andreas Schneider (links). (Photo © MaxJoy.org)
    1962 heiratete Conrad Schnitzler die Schauspielerin Christa Runge.1963 kam ihre Tochter Katharina zur Welt und die Familie zog nach West-Berlin. Der Umzug in die Mauerstadt markierte die Verwandlung vom Bildhauer zum Musiker. Schnell fand er Gleichgesinnte, wie zum Beispiel Hans-Joachim Roedelius mit dem er ein Leben lang verbunden blieb. Dieser schrieb über Conrad Schnitzler:
    "Eine Zeitlang war ich als Gast Teil seiner Familie, arbeitete mit ihm gelegentlich als Anstreicher beim Renovieren von runter gewirtschafteten Altbauwohnungen. Wir beschlossen also, gemeinsam Musik zu machen. Und so entstanden zuerst die Formationen "Geräusche" und "Plus/Minus"."
    1968 gründete Schnitzler mit dem Zodiak das erste freie artslab Berlins, den ersten Undergroundclub der Stadt. Er ging als Geburtsstätte des Krautrocks in die Geschichte ein. Doch das ist zu kurz gegriffen, da das Programm viel breiter war. Es fanden Happenings, Freejazz-Konzerte und fluxusinspirierte Aktionen statt. Entgegen der zeittypischen Raumgestaltung mit Ornamenten und bunten Batiken strich Conrad Schnitzler einen Raum weiß, den anderen schwarz: Bauhaus statt Flower-Power. Conrad Schnitzler war der Anti-Hippie.
    1969 formierte sich "Kluster", mehr Konzept als Band. Im Gegensatz zu vielen Bands, die sich amerikanisierte Namen gaben, distanzierte man sich bewusst von Rock und Pop. Conrad Schnitzler notierte das Konzept:
    "Kluster hat eigene Formgesetze.
    Kluster liebt Überraschungen und abrupten Stimmungsbruch.
    Kluster verzichtet auf Klarheit und Übersicht.
    Kluster ist Chaos.
    Kluster ist Gruppenindividualität.
    Kluster hat Übereinstimmung ohne Absprache.
    Kluster hat nur einen Anspruch: Kluster!"
    Conrad Schnitzler: "Der da singt, das bin ich. Ich hatte damals ein paar Metallflöten mit Kontaktmikrofonen. Wenn die aneinander kamen, rappelte es nur so durch die Echomaschine. Moebius spielte meine Riesen-Kesselpauken und eine Fleischerspirale, die machte total sonderbare Geräusche – die hat er mir nie wiedergegeben! Wir haben damals wirklich alles elektrifiziert, jedes kleine Fürzchen."
    "Kluster" existierte zwei Jahre. Es gibt keine Fotos, keine Zeitungsausschnitte, keine Poster, keine Eintrittskarten. Nur Schallplatten. Nahezu zeitgleich experimentierte Conrad Schnitzler mit dem jungen Schlagzeuger Klaus Schulze und Edgar Froese in dessen Gruppe "Tangerine Dream". Schnitzler gab die wegweisenden Impulse. Auf ihrer ersten Platte "Electronic Meditation" ist Schnitzler als "Cellist" zu hören. "Tangerine Dream" besteht bis heute, hat große Plattenverträge und internationale Erfolge vorzuweisen. Conrad Schnitzler ging andere Wege.
    Wolfgang Seidel: "Und nach diesem Split von Achim Roedelius und Dieter Möbius und diesem Streit "wer ist nun ‚Kluster‘?" und die beiden erst mal sagen, na ja, wir sind zwei und Conrad ist nur einer, hat Conrad dann erst mal unter diesem Namen "Eruption" weiter dieses offene Konzept verfolgt, was ja heute in dieser Echtzeit-Musik in dieser Berliner Improv-Szene normal ist. Und in Conrads Kiste habe ich einen Flyer aus der Zeit gefunden und der sagt eigentlich dieses Konzept ziemlich klar. "Das Publikum bringt Kleintransistor-Radios mit, erhält dadurch eine Eintrittsermäßigung und ist verpflichtet, mit den Transistorradios Musik in der Halle zu machen". Aber amüsant finde ich, dass die Wortwahl etwas seltsam ist: "ist verpflichtet"!
    In technischer Hinsicht brachte das Jahr 1971 einen großen Fortschritt. Conrad Schnitzler erwarb in England einen tragbaren Synthesizer, den Synthi-A der Firma EMS. Ohne Tastatur. Der Synthie-A war im Gegensatz zu anderen Synthesizern in einen Koffer verbaut und somit leicht transportierbar. Seine Module waren nicht fest verbunden, sondern konnten im Handumdrehen vom Spieler selbst gekoppelt werden. Er eignete sich hervorragend für Soundexperimente und Liveauftritte. Ab jetzt wurde Conrad Schnitzlers Musik elektronisch.
    "Mit "Kraftwerk" war ich in Düsseldorf befreundet. Denen habe ich damals mal einen kleinen EMS Synthi-A besorgt – mit solchen Geschäften habe ich mir manchmal noch ein paar Mark dazuverdient. Aber um ehrlich zu sein: Kraftwerk waren mir eigentlich zu straff, zu Deutsch. Ich bin 1937 geboren und kann so was nicht leiden."
    Zu zwei experimentellen Filmen, die der Maler Karl Horst Hödicke in New York Ende der 60er drehte, nämlich "Slow Motion" und "Made in New York" steuerte Conrad Schnitzler die Musik bei. In den 70ern fing der Intermedia-Künstler selbst an, mit Video zu arbeiten. Er experimentierte mit einfachsten Mitteln. Es sind Videos, die dazu gedient haben, die Musik zu untermalen nicht umgekehrt. Abstrakte Bilder, Licht- und Schattenspiele sind zu sehen, schwarz-weiß, und Punkte, die über die Leinwand schweifen. Die Vorbilder für Schnitzlers Videokunst sind vor dem Krieg zu finden. Der "abstrakte Film" von Walter Ruttmann oder die Bauhaus-Ästhetik von Moholy-Nagy der 20er Jahre waren wegweisend.

    Conrad Schnitzler in der musikalischen Zeitenwende

    Das offizielle Video #43 "Con-Lux" von Conrad Schnitzler auf Youtube:
    Der Amerikaner Barney Childs war Autodidakt und Komponist avantgardistischer Musik. Sein Konzept funktionierte wie ein Kompass für Conrad Schnitzlers hierarchielose Musik der "freien Töne". Der Tonarbeiter, der keine Noten lesen konnte, und sich als Künstler und nicht als Musiker verstand, tauchte, mit Kassettenabspielgeräten, Mikrofonen und Lautsprechern behängt, in Stadt, Wald und Wiese auf. In einem weißen Lederanzug und schwarzem Lautsprecherhelm performte er auf dem Kurfürstendamm als "Berliner Klangwolke". Fluxus-Aktionen, ganz im Sinne seines Freundes und Kollegen Josef Beuys.
    1978 meldete sich Schnitzler mit "CON" zurück. Das dokumentierte einen Wandel in Schnitzlers Schaffen. Er nannte sich nicht mehr Konrad mit "K", sondern ab jetzt Conrad mit "C".
    Produziert wurde die Platte im Paragon Studio des Musikers Peter Baumann. Unter solchen professionellen Bedingungen hatte Conrad Schnitzler noch nicht gearbeitet. "CON" wurde jetzt über das französische Label Egg vertrieben: in Frankreich, Italien, Spanien, Kanada und Japan. Damit vergrößerte er schlagartig seine Reichweite. Aber wer dachte, Schnitzler würde zum Popmusiker mutieren, der wurde spätestens mit einem Blick auf der Hüllenrückseite eines besseren belehrt: Man sieht die Bilderserie einer seiner Performances. Darunter steht: "Intermedia-Life-Aktion". "CON" war aber die Initialzündung für Conrad Schnitzlers sehr produktive Phase in den 80er-Jahren.
    Zu Beginn des Jahres 1980 wurde Conrad Schnitzler als Gastdozent an die Hochschule für Bildende Künste (HFBK) nach Hamburg berufen. Dort begegnete er auch dem Klangkünstler und zweifachen Karl-Sczuka-Preisträger Asmus Tietchens, der bis 2013 Sounddesign an der HFBK unterrichtete. Er besitzt ein Dokument dieses Schnitzler-Seminars: eine Doppel-LP.
    "Das sind Unikate, da ist man mit der Tapetenrolle rübergegangen, also jedes Exemplar ein Unikat. Das quält die Sammler, dass ich so ein Exemplar habe. Handgemacht, handgemacht, handgemacht. Aber irgendwo gibt es auch Credits – hier sind die Credits. Und da sieht man dann eben unter vielen unbekannten Namen auch so Namen wie Holger Hiller und Thomas Fehlmann, die also offensichtlich an seinem Projekt oder an seinem Workshop mitgewirkt haben. "Das ist Schönheit" heißt dieses Album."
    Der Nicht-Musiker Conrad Schnitzler erkundete mit Kunststudenten den Bereich der Töne und Klänge. Er forderte sie auf, zwischen den Künsten intermedial zu agieren und ermächtigte sie, neue Welten zu entdecken.
    Asmus Tietchens: "Den Begriff "ermächtigen" finde ich richtig gut und wahrscheinlich hat Schnitzler das hier auch gemacht. Dass er gesagt hat: Kinder, hier habt ihr einen kleinen Gerätepark, mit dem kann man dieses und jenes machen. Ich führe euch das mal kurz vor, was man damit machen kann. Und dann seht mal zu, dass ihr auch etwas damit macht. So klingen die Stücke im Übrigen auch."
    Im selben Jahr erschien die Maxi-Single "Auf dem schwarzen Kanal". Vier Tracks: "Schnitzler goes Disco". Ein typisches Beispiel für seinen Humor. Er bezog sich mit dem Titel auf die antikapitalistische DDR-Fernsehsendung seines Namensvetters Karl-Eduard von Schnitzler, karikierte musikalisch die Deutschtümelei des singenden Bundespräsidenten Walter Scheel mit dem Titel "Der Wagen, der rollt" und amüsierte sich über die Neue Deutsche Welle. Wieder wurde von Peter Baumann produziert, dieses Mal aber für das große Label RCA. Einen Plattenvertrag für weitere Veröffentlichungen unterschrieb Conrad Schnitzler allerdings nicht, da er die PR-Aktivitäten der RCA-Manager verachtete. Er wollte sich weder die Pose für PR-Fotos diktieren lassen, noch vor Einkaufszentren seine Street-Performances "abliefern". Persönliche Freiheit und künstlerische Unabhängigkeit verteidigte er mit aller Konsequenz.
    Im September trat Conrad Schnitzler auf der zweiten "Ars Electronica" in Linz auf. Diese wurde mit einem Konzert von Klaus Schulze eröffnet, der seine "Stahlsymphonie" mit Geräuschen aus einem Linzer Stahlwerk aufführte. In dem Prospekt hieß es:
    "Klaus Schulze als Solo-Elektroniker verfügt über die größten Live-Synthesizer-Burgen der Welt, die für das Linzer Konzert mit den zwei neuesten Digital-Live-Musikcomputern von Fairlight und GDS sowie 20 speziell entwickelten Gongs unterstützt werden. Die Klangteppiche aus elektronisch verfremdeten Maschinengeräuschen werden durch die frei spielbaren Synthesizer spontan zu einer Rock-Sinfonie geformt."
    Conrad Schnitzler war ohne Computer und Digitaltechnik der wahre Alien. In seinem weißen Lederanzug, ausgestattet mit Lautsprecherhelm und Kunstkopf, spazierte er durch Linz. Das war gleichzeitig Performance, Street-Art, Happening, Komposition und Musik. Conrad Schnitzler, der Intermedia-Künstler, ließ sich nicht auf ein einzelnes Genre festlegen.
    Neben seinen Soloaktivitäten hat Conrad Schnitzler kontinuierlich mit Wolfgang Seidel zusammen gearbeitet. Ihre musikalischen Experimente machten sie dort, wo sie Zugang zu Räumen und Equipment hatten. 1980 erschien die LP "Consequenz".
    Wolfgang Seidel: "Auf der einen Platte, die wir so als unseren ironischen Kommentar zu diesen NDW-Sachen Anfang der 80er gemacht hatten, hatten wir ja einen Flyer beigelegt, wo einmal erklärt wurde das technische Prozedere, wie das entstanden ist, und dass man mit sehr einfachen Mitteln so etwas selber machen kann. Und ihr könnt auch unsere Platte abspielen und einfach was dazu machen. Und wir würden uns freuen, wenn jemand das aufnimmt, wenn er uns ein Ergebnis schickt. Da kam auch was. Auf diese Weise haben wir den Ken Montgomery kennen gelernt."
    Zu Beginn des Jahres 1981 fand im "Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris" im Centre Georges Pompidou eine Ausstellung unter dem Titel "Art Allemagne Aujourd'hui" statt. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wurde in Frankreich ein umfassender Überblick über die zeitgenössische Kunst aus Deutschland gezeigt. Gerhard Richter, Sigmar Polke, Karl Horst Hödicke, Joseph Beuys, Georg Baselitz, Markus Lüpertz, Isa Genzken, Anselm Kiefer, Thomas Schütte und Jörg Immendorff sind einige der mehr als 40 beteiligten Künstlerinnen und Künstler. Und Conrad Schnitzler sprichwörtlich mittendrin. In einen Fahrstuhl des Centre Pompidou baute er eine "Kassettenorgel" aus zwölf Abspielgeräten und schwebte von oben in die Ausstellung. Das war einer seiner letzten öffentlichen Auftritte. Fast alle der in Paris beteiligten Künstler haben Anerkennung und finanziellen Erfolg erfahren, Conrad Schnitzler nicht in dem Maße.
    Conrad Schnitzler: "Ich lasse mein Leben so laufen wie bisher. Was auch immer auf mich zukommt, ich nehme es an. Es ist so einfach. Wenn Du Business machst und dem Geld hinterher bist, macht es Dich kaputt – dieser ganze Stress und so. Ich arbeite gerne. Wenn ich keine Musik mache, mache ich was anderes: Texte, Filme, Aktionen, - was ich will!"
    Das offizielle Video #26 "Collection A" von Conrad Schnitzler auf Youtube:
    Conrad Schnitzler veröffentlichte inzwischen auf kleinen Independent-Labels in ganz Europa. 1982 entschloss sich Ken Montgomery zusammen mit seinem Musikerkollegen Michael Zodorozny aus New York ganz spontan zu einem Berlin-Besuch.
    "Conrad Schnitzler lud mich zu sich in die Kalkreuthstraße ein. Es war 1982 und ein unvergesslicher Moment für mich, im Studio und zuhause bei Conrad zu sein. Alles war schwarz, schwarze Vorgänge, und er war weiß gekleidet. Es war ein tolles Zusammentreffen. Auch seine Frau war da und ich erfuhr an diesem Tag mehr über ihn und darüber, was er gemacht hatte und an was er gerade arbeitete. Das war unser erster persönlicher Kontakt."
    Mit Ken Montgomery hatte Conrad Schnitzler seinen ersten "Kapellmeister" ernannt. Seine Musik ging auf Tournee, ohne dass Conrad Schnitzler anwesend sein musste. 1989 mietete Ken Montgomery einen kleinen Laden im New Yorker East Village und eröffnete die Generator Soundgallery. Eine Mischung aus Plattenladen und Veranstaltungsraum. Er hatte ab 1986 an verschiedenen Orten in Europa und den USA Schnitzlersche Kassettenkonzerte aufgeführt. Jetzt hatten sie dafür einen eigenen Raum. Ganz in schwarz und ausgestattet mit acht Lautsprechern. Music in the dark, Musik im Dunkeln war das neue Konzept: Keine Videos, keinerlei visuelle Ablenkung.
    Conrad Schnitzler: "Hello, hello, hello, hello. Hello from here, from here and hello from here. Hi everybody. Welcome to Generator's. Welcome to the concert-night Music In The Dark. You can't see pictures. There are no pictures to the music. The pictures running through your head, maybe. And so, have a nice time. I just whish you a nice evening with my music. Hope to see you the next time in the gallery again. That's all, bye bye. So long. So long, bye bye."
    Im Grunde war das der Beginn des Live-DJing. Ein Stereo-Mix war mit zwei Solospuren auf je einer Kassette möglich. Standard bei Schnitzler waren jedoch vier, acht oder manchmal auch zwölf Spuren. Sie ermöglichten einen individuellen Mix. Seit Mitte der 80er-Jahre arbeitete er an dem sogenannten "1000er Projekt". Mit 1000 dafür individuell produzierten Tonspuren. Das Projekt blieb unvollendet.
    Nach dem Mauerfall verändert sich West-Berlin. Die Mauerstadt, die "Insel im roten Meer" war Geschichte. Und in New York schloss die Generator Soundgallery und fast zeitgleich endeten die Veröffentlichungen des Labels Generations Unlimited. Für Conrad Schnitzler standen größere Veränderungen an.

    Die persönliche und musikalische Wende

    Das offizielle Video #42 "ABAB" von Conrad Schnitzler auf Youtube:
    In Berlin wich die anfängliche Euphorie der Wiedervereinigung allmählich Ernüchterung. Conrad und Gilli Schnitzler verließen die Metropole und zogen ins Weserbergland. Nach fast 30 Jahren in der Großstadt Berlin nutzte Conrad Schnitzler die ländliche Ruhe für das tägliche Komponieren. Wie zu seinen Anfangszeiten veröffentlichte er hauptsächlich Eigenproduktionen. Seine Werke brannte er auf CDs, die er privat vertrieb. Die Zusammenarbeit mit dem Ostberliner Jörg Thomasius wurde weitergeführt. Im Sommer 1990 konnte Thomasius, der in der DDR-Kunstszene gearbeitet hatte, im Ausstellungszentrum unterm Fernsehturm am Alexanderplatz vier Wochen lang Conrad Schnitzlers Musik präsentieren.
    "Er hat keine Platten mehr groß rausgebracht, er hat sich nicht mehr um seine Kunst gekümmert, zumindest nicht um die Vermarktung. Das war ein Manko gewesen von ihm. Andererseits kann ich es ihm nicht übel nehmen."
    Conrad Schnitzler: "Ich nehme mal an, wenn "Tomate" (Anm.: Jörg Thomasius) nicht erschienen wäre und hätte gesagt, los, lass uns mal gemeinsam was machen, dann wäre von mir mal wieder gar nichts veröffentlicht worden, weil ich einfach nicht nötig habe, etwas auf den Markt zu bringen."
    Für eine Radiosendung demonstrierte Conrad Schnitzler, wie er komponiert: "Du denkst an nichts Gutes oder Böses, gehst hin, erfindest den ersten Ton und der sagt dir meistens schon, der lässt dich ahnen, was du finden könntest dazu. Und so geht das immer weiter. Da müssen wir vielleicht wieder ein Beispiel finden... Lass mich den dunklen als ersten gefunden haben, unten den: "buang". Die leg ich übereinander und lasse sie erst mal fahren, das ist aber nicht genug, weil, wir sind ja klassisch ausgebildet in Europa, der würde eigentlich für viele schon reichen. Das ist auch mein Ding, ich packe sehr viel übereinander."
    Conrad Schnitzler war zu Beginn seiner musikalischen Experimente der Meinung, dass das "wohltemperierte" Stimmen eines Instruments eine Beschränkung der musikalischen Möglichkeiten und der Grund für Konformität sei, die es zu überwinden galt. Ab Anfang der 90er wagte er sich an das System der Klaviatur.
    Conrad Schnitzler: "Hätte ich, wie ein klassischer Pianist, Mozart, Beethoven und Chopin studiert, könnte ich nie so komponieren wie ich es tue. Man ist schon geprägt. Momentan spiele ich ein Spiel mit den 88 Tasten. Mir ist egal, was andere über mich denken, aber wenn ich ein Konzert veranstalten dürfte, ja, dann die Carnegie Hall, den besten Flügel, der über den Computer läuft und dann gebe ich den Leuten ein Zehn-Stunden-Konzert. Und die Leute können kommen und gehen, wenn sie genug haben und niemand muss klatschen. Es befindet sich ja kein Künstler auf der Bühne, nur der offene Flügel. Und ich sitze irgendwo im Publikum und habe jemanden, der die Disketten am Computer wechselt. Sie können immer klatschen, sich schnäuzen, sie können jeden Lärm machen im Konzert, denn da ist kein Klavierspieler, der sich umdreht und schreit: Seid ruhig! Ich möchte hier spielen und muss mich konzentrieren! Und mein Kaffee war zu heiß! Meine Finger sind kalt, gib mir warmes Wasser! Der Sitz ist zu hoch, ich will ihn tiefer!"
    Es wurde zwar nicht die Carnegie Hall, aber 1994 kam es zur Aufführung eines computergesteuerten digitalen Klavier-Konzertes im New Yorker Club "Roulette: Adventures with structered noice", "Abenteuer mit strukturiertem Lärm", hieß die mehrtägige Veranstaltung. Conrad Schnitzlers war nicht anwesend. Seine Klavierarbeiten wurden von Diskette abgespielt.
    Conrad und Gilli Schnitzler vermissten Berlin. In Dallgow-Döberitz, im Umland der Stadt, fanden sie ihr neues Zuhause. Nach fast 30 Jahren arbeitete Schnitzler wieder mit seinem alten Kollegen aus den Berliner Anfangszeiten Hans-Joachim Roedelius zusammen. Dieser hat mit "Cluster" und "Harmonia" große internationale Erfolge gefeiert und "Krautrock"-Geschichte geschrieben.
    Zusammen mit dem US Amerikaner Michael Thomas Roe und dem Japaner Masato Oyama ließ Conrad Schnitzler das Konzept von "Kluster", der herrschaftsfreien Musik, mit der 1969 sein musikalisches Schaffen begann, noch einmal aufleben. Bis zu seinem Tod entstanden mit dieser Besetzung vier Kluster-CDs.
    "Ich wollte mir eigentlich schon länger mal schriftlich Gedanken darüber machen, was genau ich meine, wenn ich "Rhythmus" sage. "Rhythmus" bedeutet bei mir einen Maschinenrhythmus, nur Drive sozusagen. Währenddessen ein richtiger Tanzrhythmus immer genau auf den Punkt kommt, auf die Eins, wo man dann mit dem Fuß aufstampft. So ein Tanzrhythmus muss sehr genau ausgearbeitet sein. Dafür hätte ich gar keine Geduld. Bei mir ist Rhythmus Drive. Wie in einem Zug, unter dem die Gleise rattern."
    Ab 2008 initiierte Conrad Schnitzler das Kunstprojekt Global Living. Er schickte DNA-Material von sich in alle Welt und ließ es vergraben, auf Lanzarote, am Nordkap, in Liverpool. In San Francisco.
    "Seit einiger Zeit globalisiere ich mich. Warum soll ich nur in einem Land leben, in einem Land schlafen, in einem Land beerdigt werden? Heute, wo wir global denken und leben. Ich möchte an wunderschönen Plätzen auf der Welt sein, ohne mich von hier wegbewegen zu müssen. Ich schicke meine DNA, meine Haare, an verschiedene Orte in der Welt. Das bedeutet, ich bin auf der ganzen Welt. Ich bin überall, sogar wenn ich tot bin."
    Am 4.8.2011 starb Conrad Schnitzler. Er arbeitete bis wenige Tage vor seinem Tod an seinem letzten Werk. Die laufende Nummer 830 wurde von Jens Strüver unter dem Titel "Endtime" veröffentlicht.
    Produktion der Langen Nacht:
    Autoren: Beate und Stefan Becker, Regie: Beate Becker, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Zitator (Conrad Schnitzler): Bernhard Schütz, Zitator 2 (verschiedene): Max Urlacher, Zitator 3 (Asmus Tietchens): Thomas Schendel, Overvoice (Ken Montgomery): Romanus Fuhrmann, Sprecherin: Meriam Abbas, Webproduktion: Jörg Stroisch
    Über die Autoren Beate und Stefan Becker:
    Beate Becker, geboren 1967 in Nürnberg, machte eine Buchhändlerlehre und studierte dann Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft in Freiburg i.Br. und in Berlin. Heute arbeitet sie als Autorin und Regisseurin. Stefan Becker, geboren 1966 in Kaiserslautern, machte eine Ausbildung zum Buchhändler und Schreiner und arbeitet als freier Autor. Gemeinsam haben sie mehrere Features produziert, zum Beispiel für den WDR, HR und SWR.