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Eine Lange Nacht über Frauenstimmen in der italienischen Musik
"Launisch wie eine Feder im Wind“

Ob Göttin oder Mutter, Heilige oder Geliebte - seit Jahrhunderten diente die Frau in Italien den Künstlern, Komponisten und Poeten als Projektionsfläche. Eine lange Tradition, an die auch die Popmusik Italiens anknüpfte. Im Laufe der Zeit lernten selbstbewusste Frauen, mitzureden und sich gegen das überkommene Frauenbild zu wehren.

Von Cristiana Coletti und Wolfgang Hamm |
    FLO (Floriana Cangiano), Sängerin und Liedermacherin
    FLO (Floriana Cangiano), Sängerin und Liedermacherin (Wolfgang Hamm)
    Italien ist vielleicht das einzige Land in Europa, in dem zwischen traditioneller Volksmusik, populären Canzoni und hochkultureller Oper keine Welten liegen.
    Opernarien wurden auf der Straße gesungen, Komponisten ließen sich von der Volksmusik inspirieren. Und Sängerinnen wurden in jeder Verkörperung - als Primadonna, als Volkssängerin, als Cantante geliebt.
    'La Donna è mobile' ('Oh wie so trügerisch sind Frauenherzen') singt aus dem Blickwinkel des Mannes der Tenor in Verdis 'Rigoletto'. Gemordete und dem Wahnsinn verfallene, verführte und verlassene, vergiftete und misshandelte Heldinnen - die italienische Oper ist reich an tragischen Frauengestalten. Ein ganz anderes Frauenbild zeigt dagegen die italienische Volksmusik in Arbeits-, Liebes- und Wiegenliedern, in Totenklagen oder Tänzen wie der Tarantella.
    Doch was hat der italienische Medienbetrieb heute aus ihrer Emanzipation gemacht?
    Eine Lange Nacht u.a. mit der Opernsängerin Desirée Rancatore, der großen alten Dame des italienischen Folkrevivals Giovanna Marini, mit Sängerinnen wie Lucilla Galeazzi, Etta Scollo, Floriana Cangiano, der Komponistin Caterina Calderoni, dem Canzone-Spezialisten Felice Liperi und der Publizistin Lorella Zanardo.
    Caterina Calderoni (Komponistin)
    Floriana Cangiano (Sängerin und Liedermacherin)
    Lucilla Galeazzi (Sängerin)
    Felice Liperi (Journalist und Dozent)
    Giovanna Marini (Volksmusikforscherin und Komponistin)
    Desirée Rancatore (Opernsängerin)
    Etta Scollo (Sängerin und Liedermacherin)
    Lorella Zanardo (Autorin und Publizistin)
    Der Tod in der Oper
    Cathérine Clément, französische Philosophieprofessorin: (in ihrem Buch "Die Frau in der Oper - Besiegt, verraten und verkauft"): "In den Texten mehr noch als im Gesang, der von angebeteten Stimmen gefangen ist, habe ich mit Schrecken, mit Entsetzen Wörter gefunden, die töten, Wörter, die jedes Mal den Untergang der Frauen besiegelten. Kein anderer Ausweg als der Tod ist das heimliche Ziel der Oper."
    Cathérine Clément: "Neun mit dem Messer, davon zwei Selbstmorde; drei durch Feuer; zwei stürzen sich in die Tiefe; zwei Schwindelsüchtige, drei Ertrunkene; drei Vergiftete; zwei Ängstliche; und einige schlecht Klassifizierbare, denen dafür gedankt sei, dass sie sterben, ohne dass man auch nur im Geringsten wüsste, warum und wie sie sterben. Und das hier ist nur eine erste Auswahl. Und mit meinem schön sauberen, kleinen Verzeichnis zwischen den Fingern betrachte ich all diese Vornamen aneinander-gereihter Träume in Fächern, wie auf Brettern zur Schau gestellte Schmetterlinge. Man müsste nur noch die Namen dran heften: Violetta, Mimi, Gilda, Norma ... Antonia, Marfa ..."
    Desirée Rancatore, Opernsängerin: "In der Tat wurden die Opern von Männern geschaffen, von den Librettisten und Komponisten. Aber ich habe nie einen Mangel an Respekt empfunden. Auch in der Musik fühle ich eher ein Mitleid und eine große Liebe den Frauen gegenüber, auch wenn sie in der Geschichte vielleicht sterben müssen. Ich kann da keinen Machismus entdecken."
    Caterina Calderoni, Komponistin: "Ich finde in der Oper immer diese Zweideutigkeit: Auf der einen Seite, die Frau verherrlichen zu wollen, auf der anderen die Angst vor der Frau und die Entschlossenheit, sie zu beseitigen, wenn sie gegen die Regeln verstößt."
    Populäre Sängerinnen des Caffè Concerto nach 1900:
    Felice Liperi, Autor des Buches "La storia della canzone italiana": "Wie ein Enrico Caruso hatten auch einige der Sängerinnen einen riesigen internationalen Erfolg. Sie kamen zwar vom Caffè Concerto, sangen aber keine charmanten Canzoni mehr, sondern interpretierten dramatische Emigrantenlieder. Dann kommt aber eine Phase, in der dieses Diventum, dieser Erfolg auch politisch instrumentalisiert wird. Als die bekannte Libyen-Kampagne des italienischen Kolonialismus ausgerufen wird, helfen die Frauenstimmen aus dem Caffè Concerto, eine breite Zustimmung für diesen militärischen Eroberungsfeldzug zu finden. Es war Propaganda. Die Ära der Regierung Giolitti profitierte von diesen Sängerinnen, um das romantische Bild von der Suche nach einem Platz an der Sonne – im Klartext: Eine Kolonie in Afrika – durchzusetzen. Ein Bild, das später auch Mussolini benutzt. Die berühmte ,Sciantosa‘ Gea della Garisenda umhüllt sich mit der italienischen Nationalflagge und singt ,Tripoli bel suol d‘amore‘ (Tripolis, schöner Ort der Liebe) für die italienischen Gebirgsjäger, die nach Libyen aufbrechen."
    Rita Pavone, Teenageridol der 60er-Jahre: Umberto Eco: "In diesem Mädchen gab es eine Art Botschaft, die man auf die üblichen Kategorien nicht reduzieren konnte. Rita Pavone erschien als erste Diva des canzone, die keine erwachsene Frau war, aber auch kein Kind mehr. Mit Rita Pavone wurde die Pubertät – zum ersten Mal und vor der ganzen Nation – zum Tanz."

    Rita Pavone, Sängerin in ihrem canzone "Datemi un martello" (Gib mir einen Hammer): "Ich möchte diese geschminkte Tussi schlagen, die mit allen tanzt, ich möchte die Pärchen schlagen, die aneinander kleben und nur langweiligen slowfox tanzen wollen. Ich möchte das Telefon kaputt schlagen, weil meine Mutter mich gleich anrufen wird: Vater kommt! Ich soll nach Hause gehen und habe keine Lust dazu!"
    Die italienische Schlagersängerin Rita Parone bei einem Auftritt. (undatierte Aufnahme)
    Die italienische Schlagersängerin Rita Parone bei einem Auftritt. (dpa/ picture alliance / Georg Goebel)
    Gianna Nannini in ihrem Song "Le corna" (Die Hörner): "Was für eine Angst haben die Männer vor den Hörnern. Als ob ein anderer Besitz nimmt von ihrem Gebiet. Als ob ein Hund ihr Revier markiert. Es reicht schon, dass man die Geste macht, und sie verlieren den Verstand. Wie kann es sein, dass er ihr nachspioniert ... es ist zu dunkel, der Kuss ist nicht beweisbar."
    Lorella Zanardo, Medienkritikerin, über italienische Fernsehshows der Berlusconi-Ära: "Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir unsere Showgirls immer mit dem Kopf gezeigt: d.h. als Mensch, als Person. Mit ,drive in‘ beginnen die Aufnahmen vom Hals bis zum Knie, d.h. jene "Stücke" wie beim Metzger, welche die Einschaltquoten sichern. Die Zuschauer sollen an der Sendung festkleben, auf keinen Fall umschalten. Deshalb werden Brüste, Hintern und Schenkel gezeigt. Was scheinbar uninteressant ist, wird weggelassen: das Gesicht. Die Aufnahmen werden also entmenschlichend."
    Carmen Consoli in ihrem Song "A.A.A. Cercasi" (Gesucht wird): "Angenehme, gut gebaute und unternehmungslustige Signorina gesucht. Jung und brillant, vor allem aber willig. / Jungfrau aus Sizilien oder der Po-Ebene gesucht, gebürtige Italienerin oder Migrantin ohne Aufenthaltserlaubnis. ,Ah, lass mal sehen, wie du Samba oder Cha Cha Cha tanzt. Du scheinst begabt zu sein und sehr telegen, aber vielleicht bist du eher an Musik interessiert.‘ / Gesucht wird: Betreuerin für faszinierenden, achtzigjährigen Milliardär. Bietet Straßenhündinnen die Möglichkeit eines bequemen Lebens. / Gesucht wird: Unverbesserliche Diebin. Heilige, nicht vorbestraft. Vorgestern verstorbene, aber geile Frau. ,Ah, wie würdest du küssen, wenn du Schauspielerin wärest? Oder interessierst du dich mehr für Politik?’ – ‚Sing mir ein Lied! Ah, du scheinst für die Oper begabt zu sein! Oder interessierst du dich mehr für Astrophysik?"
    Die andere Welt der "musica contadina"
    Giovanna Marini, Volksmusikforscherin und Komponistin: "Als ich die Reisarbeiterinnen sah, verstand ich, dass sie diese Stimmen haben, weil sie ganz gebückt singen, den Kopf zum Boden gerichtet. Ein Sänger oder eine Sängerin singt normalerweise im Stehen direkt nach vorne. Es ist also klar, dass die Stimmen der Reisarbeiterinnen anders klingen – nasal. Die Schäfer in Sardinien, die draußen im Freien, in der Natur singen, bringen wiederum Klänge hervor, mit denen sie die Geräusche ihrer Herden nachahmen. Die Entstehung dieser Klänge hat also nichts mit dem temperierten Tonsystem der klassischen Musik zu tun! Es ist eine ganz andere Welt! Für mich war es sehr wichtig, diese andere Welt zu entdecken."
    Giovanna Marini: "Giovanna Daffini hatte eine besondere Stimme. Es war nicht nur die Stimme einer mondina, einer Reisarbeiterin. In einer snobistischen Gesellschaft würde man sagen, dass es sich um die Stimme einer ‚Frau aus dem Volk’ handelt. Und genau das verstand eine distinguierte Dame im Publikum von Spoleto, wo wir sangen und einen riesigen Skandal auslösten. Die Frau sagte: ,Ich habe doch nicht tausend Lire bezahlt, damit ich hier auf der Bühne mein Dienstmädchen singen höre!‘ Da habe ich begriffen, dass wir musica contadina, bäuerliche Musik machen. Diese Frau hatte die musica contadina erkannt und das gefiel ihr gar nicht. Für sie hatte diese Musik keinen Wert."

    Floriana Cangiano, Liedermacherin, über die sizilianische Volkssängerin Rosa Balistreri: "Die Art und Weise, sich in der Musik als Frau zu verstehen, das beeindruckt mich bei Rosa Balistreri, zusammen mit ihrer Stimme. Später, als ich ihre Biografie las, fand ich einige Ereignisse in ihrem Leben, die uns verbinden, die auch ich erlebt habe. Ich verstand, warum sie mich bewegt: Sie singt das Gefühl der Leidenschaft, der Rebellion. Sie singt, um nicht zu kapitulieren, wenn eine Melancholie, ein Drama oder ein großer Schmerz das Leben quälen. Das ist es, was mich bei ihr so sehr berührt. Ab diesem Moment habe ich angefangen, alle ihre Lieder zu hören, und wenn ich sie singe, empfinde ich sie zutiefst."
    Giovanna Marini, Volksmusikforscherin und Komponistin
    Giovanna Marini, Volksmusikforscherin und Komponistin (Wolfgang Hamm)
    Bibliografie:
    • Cathérine Clément: "Die Frau in der Oper - Besiegt, verraten und verkauft" (dtv/Bärenreiter)
    • Felice Liperi: "Storia della canzone italiana" (RAI-ERI)
    • Felice Liperi: "Le stelle del folk" (Manifestolibri)
    • Ignazio Macchiarella: "Il Canto necessario – Giovanna Marini compositrice, didatta, interprete" (Note)
    • Lorella Zanardo: "Il corpo delle donne" (Feltrinelli)
    • Lorella Zanardo: "Senza chiedere il permesso" (Feltrinelli)
    Weiterführende Links:
    Auszug aus dem Manuskript der Dritten Stunde:
    "Buttana di to mà" – ein Lied der sizilianischen Volkssängerin Rosa Balistreri –interpretiert auch von der Neapolitanerin Floriana Cangian, die eine neue Generation von Sängerinnen repräsentiert, welche nicht nur vergessene Volkstraditionen in ihrer Musik aufgreifen, sondern auch ein anderes Frauenbild zum Ausdruck bringen. "Quale amore" (Welche Liebe) entstand spontan nach Gesprächen mit Freundinnen, die als Freiwillige für einen Verein arbeiten, der Frauen vor Männergewalt beschützt.
    Floriana Cangiano: "Von ihnen habe ich erfahren, dass all diese Frauen immer von Liebe sprechen. Von einer gewalttätigen, besitzergreifenden Liebe, aber immer von Liebe. Ich habe mich gefragt, wie kann man Liebe mit Gewalt verwechseln? Im Herzen und im Kopf dieser Frauen entsteht eine Dynamik, die sie überzeugt, dass der eifersüchtige Mann, der sie schlägt, sie so sehr liebt, dass er sie deswegen verprügelt. All diese Gedanken reiften in mir und ich habe spontan ein Lied geschrieben, in dem eine Frau spricht. Eine Frau, die schon gestorben ist und als Begrabene unter der Erde spricht. Sie sagt: Ich, die gleich zittern musste, als ich Deine Schritte hörte, jetzt, unter der Erde, spüre ich nicht einmal dein Gewicht, wenn du vorbei gehst. Jetzt kannst Du mir nie mehr weh tun. Jetzt kannst Du mir nie mehr Angst machen."

    "Ich habe mir Worte vorgestellt, die nach dem Sturm der Gewalt ausgesprochen werden. In der Stille einer Distanz von all dem Schmerz".
    So Floriana Cangiano über eines der schönsten Stücke aus ihrem Album "Il mese del rosario" (Der Rosenkranzmonat). "Malmaritate" (Unglücklich Verheiratete) lautet der Titel eines anderen Liedes, das sie geschrieben hat. "Malmaritate" wurden Klöster genannt, welche "unglücklich Verheiratete" empfingen. Im Klartext: Hier fanden Prostituierte Zuflucht, die zu alt geworden waren, um noch arbeiten zu können, oder Frauen, die uneheliche Kinder bekommen hatten. Also "Sünderinnen", die zu arm waren, um alleine zu überleben. In ihrem komplexen, raffiniert gereimten Text mischt Floriana verschiedene Blickwinkel, Stimmen und Geschichten, die sich überkreuzen.
    (Die Stimme der Kirche) "Im Kloster der 'unglücklich Verheirateten' befinden sich Weiber, um ihre Sünden zu büßen. Gefallen in der Jugend, nun alt, aber mit sauberer Seele. Von Schafen unter Wölfen wie euch, die ein Dach brauchen, gibt es zu viele, ihr müsst das Bett teilen. Wenn es für uns schon wenig Brot gibt, dann gibt es noch weniger für euch Sünderinnen. Meine Tochter, ich befreie dich von deiner Sünde, wenn du büßt. Komm in meine Arme aus heiliger Barmherzigkeit. Wenn es nicht um Geld geht, dann ist es ein Akt des Erbarmens."
    (Die Stimme der Prostituierten) "Das Sakrament, Priester, können Sie gut rezitieren, aber wenn es nicht um Geld geht, dann kehre ich zurück auf die Straße. Zwischen dem einen Elend und dem anderen behalte ich lieber wenigstens meine Freiheit. Die Kirche verurteilt mich. Jesus wird mich verstehen. Glücklich war die Frau, die Liebe verkaufte, einmal aus Wollust, hundert mal aus Schmerz. Glücklich war die Frau, die unter den Priestern lag. Nachts wollt ihr sie haben, tagsüber verachtet ihr sie."
    Komplexe Facetten des Frauenbildes
    Das Bedürfnis zu singen und die Liebe zu einer Musiktradition, die ohne sie vielleicht verschwunden wäre, das verbindet fünf Sängerinnen aus drei Generationen.
    Poetisch oder kritisch, ironisch oder liebevoll – die canzoni, die Opernarien oder die Volkslieder, zeigen die komplexen Facetten des Frauenbildes in Italien aus unterschiedlichen Perspektiven und verschiedenen Epochen.
    "La donna è mobile", der Titel der Verdi-Arie, den wir als Motto dieser Langen Nacht über Frauenstimmen in der italienischen Musik gewählt haben, heißt wörtlich übersetzt: Die Frau ist beweglich. Die Publizistin und Medienkritikerin Lorella Zanardo.
    Lorella Zanardo: "Natürlich, wenn wir an das Thema denken, meinen wir: Die Frau ist beweglich, weil sie sich als Dekoration bewegen und hinstellen lässt. Aber ich interpretiere diesen Satz anders, positiv. Frauen sind in Bewegung, weil sie in der Lage sind, ihr Denken schneller zu verändern, weil sie aufmerksam die Impulse um sich herum wahrnehmen können. Wenn wir daran denken, wie Frauen oft sogar gezwungen sind, auf tausend Bedürfnisse in Notsituationen zu reagieren und Schwierigkeiten zu bewältigen, heutzutage ganz besonders. Der Sozialstaat existiert nicht mehr in Italien. Ich treffe Hunderte von Frauen, die das Notwendige tun, weil keiner es sonst macht, Dinge, die früher vom Staat und von den Institutionen garantiert waren. Und sie machen es gut. Diese Beweglichkeit der Frauen, die lange schlecht angesehen wurde, sehe ich als eine großartige Eigenschaft."