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Eine süße schwedische Tradition

Das schwedische Städtchen Gränna ist weit über seine Grenzen hinaus für seine Zuckerstangen bekannt. Jedes Jahr kämpfen Bonbonmacher um die besten und schönsten Zuckerstangen. In diesem Jahr waren auch zwei Zuckerbäckerinnen aus Deutschland mit dabei.

Von Julia Batist |
    Grännas Herz liegt auf seiner Hauptstraße. Kleine Ladenlokale reihen sich hier aneinander. Die Schaufenster sind liebevoll dekoriert. Auf nur einer Straßenseite befinden sich gleich acht Zuckerbäcker. Insgesamt gibt es 13 Zuckerstangenkochereien im Ort. Sie verkaufen Zuckerstangen in vielen Farben und Geschmacksrichtungen, aber das Original ist immer rot-weiß gestreift. Genauso wie die Markisen der kleinen Lädchen, die mit großen Tafeln vor der Tür werben. Nach Gramm wird berechnet. Die Zuckerstangen, die hier Polkagris heißen, sind einzeln in Papier eingewickelt. Sie drängeln sich in randvollen Regalen und Auslagen. Daneben gibt es oft Bonbons und Souvenirs.

    Alte Holzhäuser prägen das Bild, hell oder rot angestrichen. Wer nach Gränna fährt, landet automatisch hier auf der Hauptstraße. Oberhalb der Straße erstreckt sich der felsige Grännaberg. Steile Wege führen entlang farbenfroher Gärten nach oben. Unterhalb liegt der Vätternsee, der zweitgrößte See der Provinz Småland. Immer wieder glitzert er in der Sonne zwischen den Häusern hervor. In der Mitte der Hauptstraße befindet sich das Gränna Museum. Sylvia Haring, eine zierliche Holländerin, in langem Rock, gibt hier Führungen. Sie verrät, was es mit dem Namen Polkagris auf sich hat.

    "Wir wissen, dass der Name Gris, das heißt in heutiger Zeit Ferkel oder Schwein auf Schwedisch. Früher war es der Name für Bonbons. Und Polka ist ein Tanz, der in 1850 sehr modern war. Es war auch ein Modewort Polka. Und die jungen Herren hatten oftmals Süßigkeiten in der Tasche, das wenn sie eine Dame aufgefordert haben zum Tanz, dann haben sie der Süßigkeiten angeboten. Und vermutet wird, dass der Name Polkagris daher führt."

    Amalia Eriksson bekam eine Sondererlaubnis für ihr Geschäft
    In damaliger Zeit war es Frauen kaum möglich, ein eigenes Geschäft zu führen. Doch Amalia Eriksson bekam vom Magistrat eine Sondererlaubnis. Ihr Mann war gestorben, sie musste sich und ihre Tochter ernähren und fing an, ihre rot-weißen Zuckerstangen zu kochen. Eine geschichtsträchtige Entscheidung.
    "In den 20er Jahre, als der Tourismus leicht in Schwung kam hier, damals gab es noch keine große Straße um Gränna herum, sondern die Leute, die Richtung Norden gingen, mussten durch Gränna durch. Die sind auch hier angekommen und haben dann eben die Zuckerstangen gefunden und dann gekauft. Und die fingen an zu bestellen."

    Nach vielen Jahren war Amalia Eriksson eine der reichsten Personen in Gränna. Ihr altes Wohnhaus stand lange Zeit zum Verkauf. Niemand wollte es haben - die Renovierung schien teuer. Bis eine Familie eine Geschäftsidee hatte. Was mit drei Gästezimmern anfing, ist heute ein Hotel mit 19 Zimmern und drei Konferenzsälen. Eine Steintreppe führt zum Wohnhaus von Amalia Erikson. Der Eingang ist überdacht. Die gelbe Fassade ist weiß umrandet. Ein freundlicher Anblick. Dafür waren aufwendige Renovierungsarbeiten nötig. Und die verliefen spannend, berichtet die 25-jährige Hotelmanagerin Caroline Larsson.


    "Als wir die Wände abgerissen haben haben wir alles Mögliche gefunden. Es war wie eine Schatzsuche. In einem Raum fanden wir den Arbeitsplatz ihres Mannes. Alle Werkzeuge lagen noch auf dem Tisch. Wir haben den Mietvertrag von ihr gefunden. Sie hat 1859 gerade zwölf Kronen für ein Jahr bezahlt. Einen Euro für ein ganzes Jahr."

    Schräg gegenüber hat das Ehepaar Wetter sein Geschäft. Schon ihre Eltern hatten hier in den Sechzigern eine Zuckerbäckerei. Die 60-jährige Schwedin mit hellem halblangem Haar und freundlichem Lächeln erinnert sich gern an 1970, als das Ehepaar das Geschäft übernahm.

    "Als wir angefangen haben, gab es nur einen anderen Zuckerbäcker hier. Es war eine gute Zeit. Heute sind es zu viele geworden."

    Touristen können bei der Produktion zuschauen
    Trotzdem machen die Wetters weiter - aus Leidenschaft. Neben Zuckerstangen verkaufen sie Spielzeug und Souvenirs. Und natürlich kann man in ihrer Küche, die von Glasscheiben umgeben ist, bei der Produktion zuschauen. Mehrmals am Tag wird hier heiße Zuckermasse verarbeitet. Für die richtige Konsistenz muss die zähe Masse über einen Haken an der Wand gezogen werden, solange sie heiß ist. Aroma und Farbe kommen hinzu und dann wird geknetet, gerollt und abgeschnitten. Bis am Ende die berühmten Zuckerstangen herauskommen. Das macht mittlerweile eine junge Mitarbeiterin. Für die Weltmeisterschaft hatte sie leider keine Zeit. Gudrun Wetter:

    "Wir hätten gewonnen - Maria ist sehr gut."

    Das originale Rezept für Polkagris ist einfach.

    "Es ist nur Zucker, Wasser und ein bisschen Essig. Und Pfefferminzöl. Das ist das Original."

    Dieses Originalrezept müssen auch die Bonbonmacher bei der Weltmeisterschaft beherzigen. Nach strengen Regeln und unter den Augen einer noch strengeren Jury sollen sie auf der Bühne, an kleinen Arbeitsplätzen, ihre Zuckerstangen fertigen. Die Zuckermasse zubereiten, auf die Wärmplatte geben und ordentlich zu Zuckerstangen weiter verarbeiten. Gleich geht es los. Schon bei den Vorbereitungen ist Fingerspitzengefühl gefragt. Jeder Teilnehmer bekommt die Zutaten an den Tisch gebracht. Organisator Fredric Agnhammar ist selbst Zuckerbäcker:

    "Du bekommst niemals eine zweite Chance beim Kochen von Zucker. Du musst ihn kochen und direkt verarbeiten oder du kannst ihn wegschmeißen. Also darf jetzt nichts schief gehen."

    Heute ist am Ufer des Vätternsees richtig viel los. Vor der großen Bühne warten neugierige Zuschauer, ganze Familien. Zuckerbäcker aus sechs Ländern wollen sich hier messen. Der Weltmeistertitel wäre für alle ein Aushängeschild im Heimatland. Annika Büsselmann arbeitet als Bonbonmacherin in einer kleinen Manufaktur in Bremen. Zuckerstangen macht sie selten. Doch gleich muss alles klappen und noch dazu soll sie bei der Arbeit das Publikum unterhalten. Die 27-jährige mit den roten, halblangen Haaren trägt ihre pinke Arbeitsschürze und schaut gespannt den Helfern zu:

    "Wovor ich Angst habe, ist, dass mir Zuckerstangen runterfallen. Das wär schon schade."

    Bei der Zuckerstange sind Details wichtig
    Plötzlich geht alles ganz schnell. Die Teilnehmer müssen einzeln auf die Bühne laufen. Gleich neben der Bühne wartet der Kölner Bonbonmacher Florian Belgard auf seinen Einsatz als Jurymitglied. Seit acht Jahren macht er kunstvolle Bonbons, Zuckerstangen sind seine leichteste Disziplin. Er legt Wert auf's Detail:

    "Das ist die Show, das Strecken des Zuckers. Wie ist die Zuckerstange gewickelt, wie sind die Streifen, wie ist der Geschmack? Welche Dicke hat die Zuckerstange - das Gewicht. Muss nachher ordentlich eingerollt sein, es darf nachher keine Zuckerstange fehlen. Wir machen hier eine Produktion mit 1,6 Kilo - daraus entstehen 32 Zuckerstangen."

    1,6 Kilo Zucker sind gemeint und jeder Einzelne muss am Ende 32 perfekte Rollen einzeln in Papier einwickeln. Die Zuckerbäcker gehen ans Werk – doch bevor sie richtig in Fahrt kommen gibt es eine feuchte Überraschung. Graue Wolken, heftiger Regen, Sturm. In Windeseile wird das Werkzeug gerettet – alles abgedeckt. Das Verarbeiten des Zuckers an der frischen Luft ist ohnehin eine Herausforderung. Die richtige Temperatur ist das A und O. Jetzt geht nichts mehr. Florian Belgard:

    "Wir versuchen jetzt, das Beste daraus zu machen. Es sieht so nach aus, als ob es jetzt gleich aufhört, wobei es donnert immer noch im Hintergrund."

    Der Vätternsee strahlt dunkelblau. Jetzt ist er in Aufruhr. Doch noch gibt keiner auf. Annika Büsselmann bleibt zuversichtlich:

    "Die Töpfe müssen erst mal ausgekocht werden, dass der Zucker von vorhin raus ist. Und dann wird neu abgewogen und dann geht’s noch mal von vorne los."

    Die Sonne kehrt zurück. Zweiter Versuch: Jetzt wird es ernst. Aufgereiht an ihren Arbeitstischen arbeiten die Zuckerbäcker konzentriert auf der Bühne und versuchen dabei stets das Publikum anzulächeln. Ein Schwede tritt mit Krone auf. Ein Holländer schmeißt seinen Zuckerteig durch die Luft. Annika Büsselmann hat sich eine besondere Showeinlage überlegt. Auf dem einen Arm rollt sie einen Hoola-Hoop-Reifen, mit dem anderen zieht sie ihren Teig lang.

    In unterschiedlichem Tempo werden die Zuckerbäcker nach und nach fertig. Ein schwedischer Star-Moderator kommentiert das Geschehen für das Fernsehen, auf einer riesigen Leinwand neben der Bühne wird die Großaufnahme der Handarbeit gezeigt. Und als für das Publikum ein kurioses Unterhaltungsprogramm beginnt, bewertet die Jury im Hintergrund jede einzelne Zuckerstange.

    Die Vize-Weltmeisterin kommt aus Deutschland
    Es dauert lange – doch dann kommt endlich die Jury auf die Bühne. Banner mit der Aufschrift Annika hängen an den Bäumen. Annikas Chefin persönlich hat sie aufgehängt. Jetzt steht sie aufgeregt vor der Bühne.

    Ob Heimvorteil oder nicht – ein Schwede macht das Rennen. Jetzt bangen alle um den Vize-Titel. Strahlend rennt Annikas Chefin auf die Bühne und fällt ihr um den Hals. Annika Büsselmann:

    "Ich bin total glücklich. Ich hab immer gesagt, erster will ich nicht werden, weil das so viel Hype um einen ist. Und zweiter ist das Beste. Wir sind Vizeweltmeister – ich denke, das ist ziemlich gut."

    Den Pokal wird Annika Büsselmann prominent in ihrer Zuckerküche in Bremen aufstellen. Aber außer ihrem neuen Titel nimmt sie andere wertvolle Erfahrungen mit nach Hause:

    "Man muss halt in Deutschland immer ewig weit fahren, bis man mal einen anderen Bonbonmacher sieht. Hier ist es halt so toll. Man kann von Laden zu Laden gehen und sieht immer nur Menschen, die eigentlich genau dasselbe machen, wie man selber."

    Für Jurymitglied Florian Belgard ist vor allem das Miteinander hier in Schweden eine große Bereicherung:

    "Dieses Zusammenbringen von allen Bonbonmanufakturen, das man vielleicht auch Erfahrungen austauscht, finde ich ist eigentlich ein ganz großes Ding. Und es ist sehr schön."

    Simone Roth aus Eigeltingen war gerne dabei, auch wenn es nicht zu einem Titel gereicht hat. Für sie war die Weltmeisterschaft dennoch ein voller Erfolg:

    "Es ist ein ganz tolles Handwerk. Durch diese großen Fabrikationen der Bonbons denkt jeder ach ja, ein Bonbon machen, das ist einfach. Und dass das gar nicht so einfach ist, das sieht man ja hier."

    Und die Teilnehmer tragen eine wichtige Botschaft mit nach Hause – raus in die ganze Welt. Genauso hatte es sich der Initiator Fredric Agnhammar vorgestellt:

    "Meine Vision war es Gränna zur Zuckerstangen-Hauptstadt der Welt zu machen."

    Zumindest für dieses Wochenende ist das dem Zuckerbäcker voll und ganz gelungen.