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Einhand-Weltumseglung der Oper

Ein "Opernführer für Fortgeschrittene" muss einem als Widerspruch vorkommen. Denn Opernführer dienen landläufig der schnellen Einführung ins musiktheatralische Hauptprogramm von Mozart bis Puccini. Von ganz anderer Art ist das Unternehmen des Musikkritikers Ulrich Schreiber: eine Weltgeschichte der Kunstform Oper von ihren Anfängen bis in die aktuellste Gegenwart mit Blick auf die Umstände ihrer Ermöglichung.

Von Holger Noltze |
    Auf Seite 632 hört es dann einfach auf, mit einem Blick auf die japanische Oper, eine "Lear"-Vertonung von Toshio Hosokawa und eine Kammeroper nach Yukio Mishima.

    "Hier umfasst das Changieren der Klangmittel zwischen Ost und West die zwischen Wahn und Wirklichkeit schwankende Wahrnehmungsperspektive der Frau","

    heißt es, in typischer Verschränkung von Klangbeschreibung, Analyse der ästhetischen Mittel und interpretatorischer Sicht aufs große Ganze, und schließt dann lapidar:

    ""- kein schlechter Wechsel auf die Zukunftsfähigkeit der alten Oper."

    Punkt. Ende. Und auch das ist bezeichnend, dass da am Schluss dieses wahrhaft monumentalen "Opernführers für Fortgeschrittene" der Autor sich jeden Ausblick-Pomps enthält und so lakonisch endet, wie er vor 20 Jahren angefangen hat mit dem obsessiven Projekt, den Globus der Oper als Einhand-Segler zu umrunden.

    Das Verlagslabel des "Opernführers" hat Ulrich Schreiber dabei nie ganz behagt, denn als Medium der eiligen Kurzinformation vor dem Abo-Abend funktioniert das durchaus nicht; auch nicht der "Fortgeschrittenen". Näher an den Absichten des Autors liegt wohl der Titel der Parallelausgabe in der Büchergilde Gutenberg: "Die Kunst der Oper". Nicht um Nacherzählungen der in solcher service-orientierter Komprimierung meist ohnehin recht blödsinnig erscheinenden Top 100 des ewigen Repertoires geht es, sondern um Zusammenhänge, Vernetzung von Ideen- und Musikgeschichte und Vergleiche, worin sich etwa 1905 Janaceks geniale "Jenufa" von Bohuslavs Foersters fünf Jahre älterer, gleichfalls auf einem mährischen Dorf-Drama von Kamila Preissová basierender "Eva" unterscheidet.

    In solchem Differenz-Verfahren erweist sich, worauf Schreiber zielt: Einordnung, vor allem ästhetische Würdigung. Das schließt, bei aller Nüchternheit, Strenge des Urteils nicht aus. Einen kompositorischen Konservatismus der Gediegenheit kann Schreiber im Fall des Italieners in Amerika Gian Carlo Menotti,"verlogen" finden, gegen das "abendfüllende Trallala" einer Meredith Monk und die Exzesse der Vereinfachung im ungebremsten Minimalismus kann er messerscharf formulieren, eben weil er eine Haltung hat. Und die ist jedenfalls nicht Pop: Die Beatles, als sie ihr "All you need is love" mit einer Collage klassischer Musik enden lassen, werden in einem Nebensatz vernichtet, und hier erscheint der Meister einmal allzu streng. Zumal er dann für Philip Glass’ musikalische Gefälligkeiten in "Echnaton" vier Seiten übrig hat, für Morton Feldmans Beckett-Konzentrat "Neither" aber nur ein paar Zeilen.

    Der fünfte Band, gleichzeitig der dritte Teil, der sich mit dem 20. Jahrhundert beschäftigt, verfolgt mit einer unfassbaren Informiertheit die Geschichten des Musiktheaters in Ost- und Nordeuropa, die Verbreitung der unmöglichen Kunstform Oper in Nord- und Südamerika, im Nahen und Fernen Osten, in Australien und bis nach Afrika. Was wussten wir vor Schreiber über die belorussische Partisanenoper, über das Musiktheater in Transkaukasien? Der fünfte Band ist überreich an ersten Nachrichten von fernen Klängen, prägnant gelingt auch die Beschreibung von nie gehörter Musik. Zwei große Einzelne bekommen Personalkapitel: Strawinsky, der nur eine einzige abendfüllende Oper vollendete, aber als Großanreger auch für das musikalische Theater der Moderne zu Recht hochgeschätzt wird, und Leos Janacek, der die merkwürdige Sprachmelodien des Tschechischen der Musikgeschichte unverwechselbar eingeschrieben hat. Er ist so etwas wie der Held dieses fünften Bands. Jenseits von Atonalität und Neoklassizismus findet er einen "rau-bittersüßen Ton", fern auch der

    "vom Orchester in Oktavparallelelen gestützte[n] Sinnlichkeit der Aufschwünge und Verzweiflungsausbrüche Puccinis. Aber die Spannung zwischen den sprachnah kurzen Eruptionen und der bohrenden Intensität des umgebenden Orchesterfelds gibt Janaceks Opernsprache ihre im Musiktheater der Zeit vergleichslose Energetik."

    Vergleichslos, wie souverän hier der Bogen geschlagen wird von Bartoks "Blaubart" über drei Jahrhunderte zurück zu Monteverdis "Combattimento" von 1624: Oper als Schlachtfeld des Geschlechterkampfs. Doch nicht nur ihre enzyklopädische Beschlagenheit macht das Alleinstellungsmerkmal von Schreibers Operngeschichte aus, sondern erst deren Verbindung mit der lebendigen Theatererfahrung des Musikkritikers. Unter den gegebenen Umständen des Medien- und Wissenschaftsbetriebs scheint so ein Spagat zwischen Praxis und Theorie, zwischen Journalismus und Gelehrsamkeit, kaum wiederholbar. Umso kostbarer das Ergebnis: eine einzigartige Weltumseglung der Oper, auch jenseits der großen Dampfschifffahrtslinien der MS Mozart, Wagner, Verdi.