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Einwanderung und Flucht
Eine Geschichte der Migration

Nicht jede Art der Migration ist eine Flucht, aber jede Flucht über Landesgrenzen hinweg bedeutet Migration. In seinem Buch "Kurze Geschichte der Migration" beschreibt Massimo Livi Bacci die wichtigsten Flucht- und Migrationsbewegungen der vergangenen Jahrhunderte - und widmet sich auch Lösungsansätzen für die aktuelle Situation.

Von Silke Ballweg |
    Flüchtlinge gehen am 21.11.2015 an der deutsch-österreichischen Grenze nahe Wegscheid (Bayern) während eines Schneeschauers nach Deutschland.
    Flüchtlinge gehen am 21.11.2015 an der deutsch-österreichischen Grenze nahe Wegscheid (Bayern) während eines Schneeschauers nach Deutschland. (dpa / picture alliance / Armin Weigel)
    Massimo Livi Baccis Buch beginnt mit einem persönlichen Eindruck: Im Vorwort berichtet der Autor, wie er 1960 mit dem Ozeandampfer "Queen Frederika" der Linie Piräus – Neapel – New York in die neue Welt reiste. Mit an Bord: Griechische und italienische Auswanderer, die in den USA ein besseres Leben suchten. In der Erinnerung an diese Menschen spricht Bacci vom Ende einer historischen Epoche. Denn kurz darauf schlossen die USA die Türen für weitere Migranten.
    Das aber hieß nicht, dass die Migration zum Erliegen kam. Sie verlagerte sich auf andere Routen, andere Orte. Nicht zuletzt die Bilder der Entschlossenen, die seit Jahren über das Mittelmeer zu uns kommen, zeigen ein Verhalten, das Bacci in seinem Buch "Kurze Geschichte der Migration" zunächst allgemein beschreibt.
    "Sich räumlich zu bewegen, ist eine Wesenseigenheit des Menschen, ein Bestandteil seines Kapitals, eine zusätzliche Fähigkeit, um seine Lebensumstände zu verbessern. Es ist diese tief im Wesen des Menschen verwurzelte Eigenschaft, die das Überleben der Jäger und Sammler, die Verbreitung der menschlichen Spezies über die Kontinente, die Verbreitung des Ackerbaus, die Besiedelung leerer Räume, die Integration der Welt und die erste Globalisierung im 19. Jahrhundert ermöglichte."
    Schilderung einer langen Migrationsgeschichte
    Der Autor schildert in seiner Studie, dass sich der Homo sapiens von Afrika aus über die Erde ausbreitete. Und dass vor rund 9000 Jahren Menschen aus dem Nahen Osten in den Süden Europas kamen und allmählich bis auf die Britischen Inseln vordrangen. Wesentliche Triebfeder für die Wanderungsbewegung war der Ackerbau, denn die Menschen suchten Land, das sie nutzen und bearbeiten konnten. Und während sie zunächst noch in unbesiedelte Gebiete vordrangen, mussten sie sich später immer häufiger mit der einheimischen Bevölkerung in Verteilungskämpfen messen:
    "Die Migrationsprozesse erzeugen Konflikte, Konfrontationen, Mischungen und Hybridisierungen – kultureller, bio-demografischer und sozialer Natur."
    Im Mittelalter erschlossen sich Migranten in Europa dann weitere Gebiete. Mit Unterstützung der Fürsten und Bischöfe kolonisierten sie etwa Mecklenburg, Brandenburg, Schlesien und Pommern. Die Landschaft veränderte sich.
    "Ein großer Teil des europäischen Raumes überzieht sich mit einem Netz von Gehöften, Dörfern, Burgen und Städten, das sich als stabil und widerstandsfähig erweist."
    Nach 1500 setzte die Migration nach Übersee ein. Zehntausende strömten in die Neue Welt. Bacci argumentiert, dass die Migration eine wesentliche Voraussetzung für die Prosperität diesseits und jenseits des Atlantiks dargestellt habe. Denn nur weil Menschen weggingen, konnten sich die Dörfer in Europa auch unter schwierigen Bedingungen halten, mit den Auswanderern entwich ökonomischer Druck. In der neuen Welt wiederum konnten sich die Neuankömmlinge eine Existenz aufbauen.
    "Die Mobilität über geringe, mittlere, große oder sogar sehr große Entfernungen stellt eine bedeutende Kraft in der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft dar, mit komplexen Implikationen für Demografie, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Migrationen sind keine Begleiterscheinungen, sondern eine strukturelle Komponente des sozialen Lebens."
    Vor allem Armut und Hunger drängten ab 1830 immer mehr Menschen dazu, Europa Richtung Amerika zu verlassen.
    "Nach Berechnungen sollen zwischen 1840 und 1932 18 Millionen Menschen von Großbritannien und Irland, 11,1 Millionen von Italien, 6,5 von Spanien und Portugal, 5,2 von Österreich-Ungarn, 4,9 von Deutschland und 2,1 von Schweden und Norwegen über den Ozean aufgebrochen sein, um nur die größeren Herkunftsländer zu nennen. Die Auswanderung erreichte ihren Gipfel in den ersten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts, als jährlich eine bis anderthalb Millionen Europäer ihren Kontinent verließen."
    Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg
    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Europa selbst als Ziel von Einwanderung erneut attraktiv. Mit Anwerbeabkommen, etwa zwischen Deutschland und der Türkei Anfang der 1960er-Jahre, versuchten Regierungen nun aber, den Migrationsstrom gezielt zu bündeln. Zudem machten es repressive Gesetze immer schwerer, sich in der Ferne eine Existenz aufzubauen – etwa eine zeitlich befristete Aufenthaltsdauer für ausländische Arbeitnehmer.
    "Die wahren Opfer sind die Migranten selbst, verloren im Labyrinth der Gesetzgebungen, das es ihnen unmöglich macht, die Möglichkeiten voll auszuschöpfen, die ihnen ihre Entscheidung, wegzugehen, bieten könnte, oft mit illegalem Status und daher noch mehr der Ausbeutung ausgeliefert. Es ist ein Gemeinplatz, wenn man sagt, die Migrationen seien ein Spiel mit positivem Ausgang, bei dem jeder Spieler etwas gewinnt."
    Bacci berichtet in seinem Buch über weite Strecken von bekannten Phänomenen: Die aktuelle Flüchtlingsfrage macht die Lektüre dennoch zu einem Erkenntnisgewinn. Denn einerseits führt sie eindringlich vor Augen, dass es Europäer waren, die über Jahrhunderte hinweg ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben verließen und Länder wie Australien, Brasilien oder die USA nachhaltig veränderten. Gleichzeitig erkennt man, dass auch unsere Kultur und Gesellschaft überhaupt erst durch die Migration anderer möglich geworden ist.
    Umso spannender wäre es deswegen gewesen, wenn Bacci am Schluss seines Buches stichhaltige Lösungen präsentieren würde, wie sich die aktuelle Flüchtlingskrise bewältigen lässt. Doch überzeugende Ideen bleibt auch er schuldig, das Problem scheint zu komplex. Zwar fordert er, die Konventionen sowohl der Internationalen Arbeitsagentur wie der Vereinten Nationen zu ratifizieren, um die Rechte von Arbeitsmigranten zu stärken. Auch dürfe die Migrationspolitik innerhalb der Europäischen Union nicht nationalstaatlich bleiben, sondern sei EU-weit zu regeln. Doch die Entwicklungen der vergangenen Monate, etwa die neu gebauten Grenzzäune auf dem Balkan oder die Weigerung mehrerer osteuropäischer Staaten, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, zeigen: Von solchen Lösungen sind Europas Regierungen noch weit entfernt. Statt auf deutlich markierten Pfaden der Migrationspolitik zu wandern, irren die Flüchtlinge auch wegen unklarer Gesetze auf dem Balkan umher. Wir haben noch keine langfristige Perspektive, wie wir Zuwanderung gestalten wollen.
    Buchinfos:
    Massimo Livi Bacci: "Kurze Geschichte der Migration", Übersetzung von Marianne Schneider, Klaus Wagenbach Verlag, 176 Seiten, Preis: 10,90 Euro