Altenbeken in Ostwestfalen. Der Bahnhof liegt oberhalb des Ortes und ist für die 5.000 Einwohner eindeutig zu groß ausgefallen. Aber Altenbeken ist Eisenbahnknotenpunkt. Sechs Bahnlinien laufen hier zusammen. Der Zug aus Paderborn ist über einen imposanten Viadukt in den Bahnhof Altenbeken eingefahren. Altenbeken war ein verschlafenes Örtchen gewesen, bevor Bahn-Ingenieure Mitte des 19 Jahrhunderts hier Eisenbahngleise zusammenführten und verzweigen ließen. Zur Blütezeit standen über 1000 Menschen bei der Bahn oder der Post in Brot und Lohn. Heute sind es noch ein Dutzend, die auf dem Bahnhof ihren Dienst tun. Altenbeken ist weitgehend abgehängt vom Fernverkehrsnetz und liegt abseits der neugebauten Hochgeschwindigkeitsstrecken, aber weiterhin inmitten ausgelassener Buchenwälder und unberührter Natur. Der Tourismus soll in solchen Fällen die Wirtschaft beflügeln. Marion Wessels aus der Gemeindeverwaltung hatte die Idee zum themenbezogenen Wandern. Mitten im Ort, auf einem kurzen Stück Gleis, das in ein Schotterbett gelegt ist, thront ein schwarzes Stahlross.
"Die Lok ist 1977 hierher gebracht worden und ist früher hier in Altenbeken auch gefahren, sie ist eine Güterzugdampflokomotive, gebaut 1941. Das war schon ein sehr, sehr großer Aufwand, die hierher zu bekommen. Alles aus Spenden finanziert, das zeigt, wie verbunden sich die Altenbeker mit der Bahn auch fühlen, das war damals so und ist auch heute noch so."
"Der Viaduktwanderweg - wir haben natürlich überlegt, wie nennen wir den. Der Eisenbahnviadukt ist das Wahr- und Wappenzeichen unserer Gemeinde und es war naheliegend, einen Wanderweg zum Thema Eisenbahn muss irgendwie mit Viadukt zu tun haben. Damit war der Viaduktwanderweg in Altenbeken geboren. Und hier an der Dampflok ist Start und Ziel der 29 Kilometer."
Auf 35 Meter Höhe und über 28 Bögen überspannt der Viadukt das Beketal. Vor über 160 Jahren, 1851, begannen die Arbeiten, bereits zwei Jahre später war das Bauwerk fertiggestellt. Preußenkönig Friedrich-Wilhelm IV. reiste zur Einweihung nach Altenbeken und glaubte, eine goldene Brücke vorzufinden. 570.000 Taler hatte das 450 Meter lange Bauwerk verschlungen.
"Ich darf Sie mal hier nach oben bitten auf den Weg zur Aussichtsplattform. Denn das ist natürlich auch etwas, was wir unseren Gästen zeigen wollen, wenn wir darüber sprechen Eisenbahn zu erleben, dann muss ich das mal ganz hautnah zu Gesicht zu bekommen. Auf der Aussichtsplattform ist genau das möglich."
Marion Wessels ist aus dem Ort gefahren und steht am Fuß eines Viadukt-Pfeilers. Aus der Nähe betrachtet offenbart jeder der einzelnen Kalksandsteinblöcke seine wahren Ausmaße und die Brücke als Ganzes entpuppt sich als steinernes Ungetüm, das den Blick zum Himmel versperrt.
"So, jetzt einmal von oben."
In leichtem Bogen über die hügelige Mittelgebirgslandschaft
In einem leicht geschwungenen Bogen überspannt der Eisenbahnviadukt das Beketal. Von oben betrachtet verliert die Brücke ihre Mächtigkeit und fügt sich in die gewundene und hügelige Mittelgebirgslandschaft harmonisch ein. Ein Zug nähert sich dem Viadukt.
"Der ICE auf dem Weg nach München."
Altenbeken, sagt Marion Wessels mit Stolz, sei wohl Deutschlands kleinste Ortschaft, in dem ein ICE hält. Einmal am Tag verkehrt der Zug von Dortmund über Altenbeken und Kassel in den Süden der Republik. In vier Stunden ist er in München.
"Wenn Sie sich überlegen, dass wir alle zwei Jahre Dampflokfest haben, dann ist hier oben kein Durchkommen mehr. Wir haben Sicherheitspersonal stehen, weil es gibt Leute, deren Begeisterung für die Eisenbahn kennt keine Grenzen. Dann müssen wir die Gleise sichern, da müssen wir schon aufpassen. ... Das ist ein tolles Bild, wenn Sie hier den Viadukt haben, der ICE kommt aus der einen Richtung, die Dampflok aus dieser Richtung. Sehr beeindruckend."
Der Viadukt, so erzählt man sich, soll einst die letzte Lücke auf der Magistrale von Paris nach Moskau geschlossen haben. Für das imposante Bauwerk womöglich ein wenig zu viel der Ehre.
"Aber man spricht davon, dass es wohl die größte Kalksandsteinbrücke Europas sein soll und das ist ein Attribut, mit dem wir uns gerne schmücken. Wir sagen, wohl die größte, weil man es genau nicht sagen kann, aber uns reicht das so, die wohl größte Kalksandsteinbrücke Europas. Das klingt sehr gut und wir sind sehr stolz darauf. Ja, sie steht jetzt hier als größte Kalksandsteinbrücke Europas."
Ort der Superlative
Altenbeken, ein Ort der Superlative. Auch in anderer Hinsicht. Das Bahnhofsgebäude beherbergt Deutschlands letzte Bahnhofsgaststätte. Bis vor eineinhalb Jahren. Schweren Herzens gab Pächter Ingo Klüter auf. Die Gäste blieben aus. Wer früher in Altenbeken umstieg, wechselt heute in Paderborn den Zug.
"Das ist das, was ich früher bewirtschaftet habe und das ist der Hauptraum. Wir können uns an die Theke stellen."
So sahen sie also aus, die Gaststätten, die früher in jedem größeren Bahnhof den Umsteigern einen warmen Platz und warmes Essen boten. Ein großer, hoher, halliger Raum, die Wände bis zur Hälfte mit dunklem Holzimitat vertäfelt, ebenso die Raumpfeiler, zu jeder Seite jeweils bestückt mit einem Kleiderhaken. Von der Decke hängen schmucklose Lampen, die die furnierten Tische beleuchteten. 130 Gäste hatte ihr Platz. Die verblichenen Gardinen vor den hohen Fenstern gewähren einen Blick auf den Bahnsteig. Wer von draußen in die Gaststätte kam, musste durch zwei Flügeltüren – der Windfang.
"Ich sehe zu, dass ich immer regelmäßig hier rein komme, um zu lüften, um das Mobiliar sauber zu halten, die Vertäfelung abgewaschen. Einmal in der Woche bin ich Minimum hier drin und sehe zu, dass alles sauber, ordentlich und kein Ungeziefer, Spinnweben bisschen abfegen. Ich bin mir zwar im Klaren, dass die Gaststätte nie wieder in Betrieb genommen. Nichtsdestotrotz fühle ich mich immer dafür noch ein ganz kleines bisschen verantwortlich."
So ganz abgeschrieben hat Ingo Klüter seine Bahnhofsgaststätte noch nicht. Wie auch, fragt der 45jährige und zündet sich eine Zigarette an.
"Auf Gleis 21 Einfahrt S-5 Nach Hannover, Abfahrtszeit 13:27"
Kein Platz zum Rangieren
Vor 20 Jahren hatte er das Lokal von seinen Eltern übernommen, die seit 1960 die Gaststätte führten. Zu 90 Prozent lebten sie von den Umsteigern der Bahn. Bis nach Altenbeken fuhren die Nahverkehrszüge, wurden hier umgespannt und fuhren wieder zurück. Für das Rangieren fehlte im Bahnhof Paderborn der Platz. Heute, wo im Nahverkehr Triebfahrzeuge fahren, ist das Lokumspannen nicht mehr nötig. Jährlich 1,6 Millionen Reisende stiegen noch in den 90er Jahren in Altenbeken um.
"Wir haben sonntags zu siebt gearbeitet. Zwei nur im Kiosk, der Rest vor und hinter der Theke."
"Da war der Kiosk?
"Da war der Kiosk?
"Da war unser Kiosk."
"Können wir mal hingehen?"
"Ja, natürlich. Es ist alles leer."
"Von Herford runter, das waren Kurswagen, die dann weiter nach Bremen oder Hamburg fuhren über Osnabrück, die dann hier auch Halt, meist auch ein, zwei Stunden. Die kehrten dann hier ein für Mittag, hatten ja Zeit genug. Wir hatten natürlich auch die Interzonenzüge, die nach Karl-Marx-Stadt fuhren, gerade zur Zeit der Wende haben diese Züge ja massiv zugelegt, das war eine Renaissance für Altenbeken gewesen. Wir hatten nachts noch den durchgehenden Zug von Hamm nach München gehabt, der hier in Altenbeken um halb Elf abends fuhr. Auch da hatten wir Anschlussreisende, die hier vorher hier eineinhalb Stunden gewartet haben, gerade im Winter war hier der Raum knackevoll. Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, wo ich mit meinem Vater hier gearbeitet habe, wenn der Zug dann mal Verspätung hatte, dann haben wir immer so lange aufgelassen, dass die Reisende die Möglichkeit hatten, im Warmen zu sitzen. Man konnte ja nicht sagen, so wir machen um 11 zu, wir schicken euch jetzt raus auf den kalten Bahnsteig."
"Natürlich hatten wir eine Speisekarte. Wir hatten früher noch 10 Gedecke auf der Speisekarte stehen, von Bratwurst mit Sauerkraut und Kartoffelpüree bis zur Rinderroulade mit Rotkohl und Kartoffeln mit Vorsuppe und Nachtisch. Das ist alles mit der Zeit, als immer weniger zu tun war, immer mehr eingestrickt. Am Schluss war es nichts anderes als Rührei mit Bratkartoffeln und Bockwurst mit Kartoffelsalat."
"Wir haben das sehr bedauert, als Herr Klüter aufgeben musste."
Eisenbahnspezifische Sehenswürdigkeiten
Marion Wessels steht auf freiem Feld, der Wind bläst die Anhöhe empor. Am Ausgang eines Waldstückes haben die Wanderer die Möglichkeit zu rasten – mit Blick auf die Eisenbahntrasse, die sich in einen flachen Berghang eingräbt und im Tunnel verschwindet. Wer sich in Altenbeken auf den Viaduktwanderweg begibt, wird zu allerlei eisenbahnspezifischen Sehenswürdigkeiten gelotst – und wenn es nur eine Quelle ist.
"Wir haben ein sehr, sehr weiches Wasser, das ist für die Dampfloks damals sehr gut gewesen, das hat man auch genutzt, um die Dampfloks damit zu versorgen."
Alle zwei Jahre treffen sich noch heute Dampfloks zum schönsten Eisenbahnfest Deutschlands – behaupten zumindest die Altenbeker. Auch wieder ein Superlativ.
"Ja, diesen Anspruch erheben wir, auch seit einigen Jahren schon, den hat uns bislang auch noch niemand streitig gemacht. Das ist ein Fest, das getragen wird von allen, das spüren auch die Gäste, die zu uns kommen."
Das nächste Mal ist es Anfang Juli wieder soweit. Vivat Viadukt heißt das Spektakel, zu dem Zehntausende Eisenbahn-Enthusiasten in Altenbeken erwartet werden. 2003, als sich die Fertigstellung des Viadukts zum 150. Mal jährte, kamen die Altenbeker auf die Idee, die Brückenpfeiler zu beleuchten. Spenden sollten es wiederum möglich machen.
"Nach elf Monaten hatten wir die Brücke komplett beleuchtet. Und es ist heute ein ganz fantastischer Anblick, jeden Abend bei Einbruch der Dunkelheit mit der Straßenbeleuchtung gekoppelt erstrahlt der Viadukt dann im goldenen Licht, und dann sind wir wieder beim Ausspruch von damals, die goldene Brücke von Altenbeken."