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Ende der DDR
Der Mauerfall aus Sicht der Ost-Polizei

In "Damit hatten wir die Initiative verloren" beschreibt Rüdiger Wenzke den Aufstand vom 9. November 1989 aus Sicht der Polizei und der Truppenverbände in der DDR. Dabei ermöglicht er bisher unbekannte Einblicke die entscheidenden Stunden vor 25 Jahren.

Von Michael Kuhlmann |
    Von Rostock bis Suhl verharrten die Menschen in beklommener Spannung. In Leipzig würde die Opposition wieder auf die Straße gehen, wie an jedem Montag seit dem 4. September nach dem Friedensgebet in den Kirchen der Stadt. Diesmal aber hatte der SED-Staat offen gedroht – mit einem gesteuerten Leserbrief in der Lokalpresse:
    "Wir sind bereit und willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand."
    Was das heißen konnte, hatte die Staatsmacht Tage zuvor in Berlin und Dresden angedeutet: sie hatte gewaltsam auf die Regimegegner eingeknüppelt. Friedrich Kühn, heute Rechtsanwalt, gehörte zu den Demonstranten in Leipzig.
    "Wenn man dann mit dem Fahrrad durch die Stadt fuhr, sah man ja auch in den Außenbezirken die Panzer stehen, die Mannschaftswagen stehen, man wusste also: Es wird damit gerechnet, dass es dort wirklich zum Showdown kommt."
    Unter den bewaffneten Kräften des Regimes allerdings herrschte zu dieser Zeit tiefe Verunsicherung. Das Innenleben dieser Kräfte beleuchtet ein neuer Sammelband aus dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Herausgegeben hat ihn der Historiker Rüdiger Wenzke. Er selbst betrachtet in seinem Beitrag die Entwicklung in der NVA und bei den Grenztruppen, seine Co-Autoren befassen sich mit den Polizeibereitschaften und den paramilitärischen Kampfgruppen, mit der sowjetischen Armee und mit dem militärpolitischen Umfeld. Moskau hatte 1987 eine neue Militärdoktrin verordnet, im Zeichen der Entspannung. Glasnost und Perestroika wirkten auch auf NVA-Soldaten – freilich nicht auf alle. Wenzke stellt fest:
    "Ohne Zweifel waren im November 1989 in der NVA und in den Grenztruppen der DDR demokratische Wandlungsprozesse in Gang gesetzt worden. Großen Anteil daran hatte die Basis – die wehrpflichtigen Soldaten und Unteroffiziere in der Truppe. Die militärische Führung war bemüht, ihre eigene Vergangenheit als Parteifunktionäre in Uniform ebenso abzustreifen wie die der NVA als Parteiarmee. Im Offizierskorps zeigten sich allerdings weiterhin sowohl progressive als auch restaurative Kräfte."
    An deren Spitze stand Verteidigungsminister Heinz Keßler. Zu den Progressiven hingegen gehörte Admiral Theodor Hoffmann, der im November 1989 Keßlers Nachfolger wurde und sich um innere Reformen der Armee bemühte. Wie leicht die Situation in Gewalt umschlagen konnte, hatte sich Anfang Oktober in Dresden gezeigt. Dort passierten die Züge mit den Prager Botschaftsflüchtlingen den Hauptbahnhof – und viele Menschen drängten hin, um auf die Züge aufzuspringen. Der Journalist Daniel Niemetz lässt – eng an den Archivquellen erzählt – die dramatischen Abende wieder lebendig werden: Pflastersteine flogen, die Sicherheitskräfte knüppelten brutal los und schikanierten sogar Unbeteiligte. Hunderte wurden festgenommen und bewusst erniedrigt. Doch so rücksichtslos die bewaffneten Kräfte auch noch am Republikgeburtstag, dem 7. Oktober, dreinschlugen – die SED konnte immer weniger auf sie bauen. Auch nicht auf die paramilitärischen Kampfgruppen. Sie waren nach dem 17. Juni 1953 gegründet worden, um derartige Aufstände künftig im Keim zu ersticken. Auch in Leipzig rückten sie aus, am 9. Oktober 1989. Susanne Rummel war damals unter den Demonstranten.
    "Da haben wir gedacht: Wir reden jetzt mit denen! Die haben bestimmt genauso viel Angst wie wir. Da hab ich den offensichtlichen Chef der Leute gefragt, ob er uns denn gerne verprügelt hätte. Da hat er gesagt, das könne er nicht beantworten, er wisse nur eines: Sein Sohn sei bei uns. Und wie er jetzt wirklich gehandelt hätte, könne er nicht mehr sagen, aber jetzt habe er keine Lust mehr zum Hauen. Und ist dann mit seiner Truppe weggegangen."
    Der Sammelband macht Hintergründe solcher Erlebnisse deutlich. Zwar gab es unter den Paramilitärs immer noch regimetreue Hardliner; aber viele hatten zu zweifeln begonnen. Das Ministerium für Staatssicherheit hielt in einem Bericht fest:
    "Nach der Alarmierung des ersten motorisierten Kampfgruppenbataillons Karl-Marx-Stadt und der anschließenden Einweisung der Kämpfer legten neun Angehörige demonstrativ ihren Kampfgruppenausweis auf den Tisch; und weitere 15 Kämpfer lehnten den Einsatz ab. Unter diesem Personenkreis befinden sich drei Gruppenführer und zwölf Mitglieder der SED."
    Allerdings: auf Befehl losgeschlagen hätten viele Bewaffnete vermutlich doch. Womöglich solche aus dem Luftsturmregiment 40, einer Eliteformation, die noch am 16. Oktober in Leipzig bereitstand. Dass dieser Befehl ausblieb, lag wohl vor allem am Zaudern und an der Konfusion unter den Entscheidern. Rüdiger Wenzke vermutet, dass auch die oberste Parteiebene vor Gewalt zurückscheute. Denn der damalige ZK-Sekretär für Sicherheit Egon Krenz lauerte darauf, Erich Honecker abzulösen – und selbst wenn das Militär die Proteste vollständig niedergeschlagen hätte, wäre es mit Krenz' politischer Karriere vorbei gewesen. Aber noch nach dem 9. November war die Lage kritisch: Hardliner in der NVA-Führungsebene spielten mit dem Gedanken, die Berliner Mauer durch eine motorisierte Schützendivision wieder schließen zu lassen. Es waren die besonneneren Offiziere, die solche Einsätze verhinderten – wohl auch, weil sie fürchteten, dass die Soldaten offen gemeutert hätten. Schließlich hatte das MfS schon Wochen zuvor erkannt:
    "In beachtlichem Maße hat 'Neues Forum' auch in den Streitkräften Wirkung erreicht. Zum Beispiel gibt es an der Offiziershochschule der Landstreitkräfte verstärkt die Meinung, zunächst alle Standpunkte offenlegen zu lassen und dann die dominierenden Interessen herauszufinden, die zu realisieren seien."
    Die Autoren des Sammelbandes neigen weder jener Seite zu, die den Sicherheitskräften pauschal Gewaltwillen unterstellt, noch der anderen, die etwa die NVA für eine Garantin der friedlichen Revolution hält. Es war, wie schon der Buchtitel mit einem Zitat des Grenztruppenchefs Baumgarten umschreibt: den Schützern des SED-Staates war das Heft des Handelns schlicht entglitten.
    Rüdiger Wenzke (Hrsg.): "Damit hatten wir die Initiative verloren" - Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90. Ch. Links Verlag, 272 Seiten, 29,90 Euro.