Eine Französin über ihr lange verschwiegenes
Schicksal, das Kind eines deutschen Soldaten zu sein:
"Ich habe es fast nie verraten. Immerhin hatte eine Frau
- meine Mutter – mit dem Feind geschlafen. So etwas
durfte nicht passieren. Wir hatten Schuldgefühle, wir
schämten uns, das Kind des Feindes zu sein. Wir
mussten erst alt werden, bis wir endlich wagen,
darüber zu sprechen."
Und ein junger Franzose über die langen Schatten der
Vergangenheit im deutsch-französischen Alltag:
"Ich glaube, dass es sogar heute noch Ressentiments gibt. Nicht bei jungen Menschen, aber bei den Alten. Der Krieg hat die Gemüter geprägt."
Als die Außenminister Frankreichs, Italiens, Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande zusammen mit Bundeskanzler Konrad Adenauer am 25. März 1957 die Römischen Verträge unterzeichneten, unterschrieben sie die Geburtsurkunde der Europäischen Union. Auf den Tag genau 50 Jahre später beschwören die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten der EU an diesem Wochenende die gemeinsamen europäischen Werte und Ziele.
Die EU als Wirtschaftsraum und Friedensprojekt: Die Römischen Verträge sind wohl nur zustande gekommen, weil Frankreich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum historischen Frieden mit Deutschland nutzte. Der Handschlag über den Rhein wurde mit der Montanunion. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl wies beiden Ländern schon 1951 einen Weg aus ihrer Erbfeindschaft in eine europäische Zukunft.
Zwischen den Kriegen damals und dem Frieden heute liegen Welten. Die Friedhöfe bezeugen das. Zum Beispiel in Verdun und auf den anderen Schlachtfeldern des 1.Weltkriegs. Sie sind Symbole für die Sinnlosigkeit des Krieges. Und sie sind Symbole der Versöhnung. Zwei Schulklassen besuchen die Erinnerungsstätten – die eine aus Montpellier, die andere aus Heidelberg. Die Schüler aus den beiden Partnerstädten arbeiten gemeinsam an einem Projekt mit dem Titel: "Gekreuzte Schicksale, geteilte Erinnerung".
"Gekreuzte Schicksale, geteilte Erinnerung": Deutsche und französische Schüler auf den Schlachtfeldern von Verdun
Ein Parkplatz in weiter Landschaft, ein kleines Museum. An seiner Stelle stand einst der Bahnhof von Fleury. Das Dorf gibt es nicht mehr. Es lag in der Schusslinie, wurde völlig zerstört und nicht wieder aufgebaut. Die Fremdenführerin hat zwei Schulklassen um sich geschart.
"… et toujours sous le feu d´artillerie. Wo sind die Deutschen? Ich hab euch hier warten lassen, weil man hier alles sehen kann, was wir heute Vormittag besichtigen. Das Gebeinhaus dort drüben und dort oben auf dem Hügel die Festung Douaumont …"
Die Blicke folgen der ausgestreckten Hand, schweifen über die Krater im Erdreich, in denen sich Regenwasser sammelt, verharren am Horizont. Dort ragt - wie eine riesige Granate - ein weißer Turm in den Himmel. Eine Totenhalle, erklärt die Fremdenführerin, errichtet für alle Knochen und Schädel, die hier im Schlamm gefunden wurden. Skelette, von denen keiner weiß, ob sie einst deutsche oder französische Uniformen trugen.
"Acht Monate Kämpfe auf diese kurze Distanz. Die französischen Kanonen standen hier hinten, die deutschen Kanonen dort hinten. Il faut pas vous imaginer que…"
Rund 60 Schüler haben sich versammelt. Eine Klasse kommt aus Heidelberg, die andere aus Montpellier. Die 16-Jährigen und ihre Lehrer haben sich in Verdun getroffen, wo eine der grausamsten Schlachten des Ersten Weltkriegs möglicherweise 700.000 Opfer forderte. Viele Jungen tragen Gel-Frisuren, die Mädchen lange Haare und Wimperntusche. Wer von ihnen das Hölderlin-Gymnasium besucht und wer das Lycée Jean Monnet – das ist ihnen nicht anzusehen.
Im Gebeinhaus von Douaumont: Die Schüler sehen einen Film über das Gemetzel. Danach sind sie stiller als zuvor:
"Eindrucksvoll. Das nimmt einen schon mit. So Kriegsszenen sind immer so bedrückend, da kann man sich's besser vorstellen."
Sie gehen außen am Gebäude an Fensterluken vorbei. Dahinter türmen sich die Gebeine. Ein Mädchen schiebt die Sonnenbrille ins Haar, presst das Gesicht an die Scheibe, kann sich kaum losreißen.
"Schrecklich, das quillt ja über. Da sieht man, wie leicht ein Leben zerstört werden kann. Die Knochen sind total zersplittert."
Der Bus setzt sie auf einer Kuppe ab. Wie eine schlecht verheilte Narbe zieht sich dickes Mauerwerk durch den Hügel. Meterdicker Beton mit Schießscharten, von Gras überwuchert. Das sind die Reste der Festung Douaumont. Die Fremdenführerin deutet auf zwei Schusslöcher.
"Das da vorne war ein französisches Geschoß, mit 400 mm Durchmesser, dagegen hier, in der Kasematte, ein deutsches Geschoss, 420 mm Durchmesser."
Zwei Stockwerke tief wurde die Festung in die Erde getrieben. Die ganze Gruppe steigt ins Untergeschoss, aber Deutsche und Franzosen bleiben jeweils unter sich. Es ist feucht und schlammig. Damals, sagt die Reiseleiterin, war das Sickerwasser von den vielen Leichen verseucht. Die Soldaten litten Hunger und Durst, außerdem mussten sie sich gegen die Ratten wehren. Für viele wurde die Festung zum Sarg.
Letzte Station: Das Weltfriedenszentrum von Verdun. Die Lehrer stehen zusammen, besprechen sich halblaut. Eine blonde Frau schüttelt missmutig den Kopf. France Calvetti ist unzufrieden. Sie wünscht sich mehr Gemeinsamkeit, echte Begegnungen. Die Geschichtslehrerin aus Montpellier trommelt die Schüler zusammen:
"Le but était de marquer une forme de rapprochement. Or depuis ce matin, nous avons été à Douaumont… mais chaque fois…"
Ihr deutscher Kollege übernimmt:
"Nachdem wir den ganzen Tag eigentlich heute nebeneinander her diese Besichtigungen gemacht haben, versuchen, mal gemeinsam zu finden, was wir an Eindrücken heute gehabt haben. Und dazu, meinte die France, wäre es das beste, auch damit wir die Begegnung intensivieren, dass wir jeweils ein Pärchen bilden, deutsch-französisch, und dass man sich gegenseitig hilft."
Auf einmal kommt Bewegung in die Gruppe. Mädchen und Jungen mustern sich verlegen, dann gehen die Mutigsten aufeinander zu, radebrechen in der Sprache des anderen. Paare bilden sich, setzen sich auf den Boden, kramen Stift und Papier aus dem Sack, diskutieren, notieren. Zwei Jungen sind sich schnell einig und zeigen auf.
"Les films étaient très instructifs. Je trouve que c´est très triste parce qu´il y a beaucoup de morts et je pense : attaquer avec des gas, c´est très injuste."
"Ich habe viel gelernt, das war nicht langweilig. Ich fand es auch sehr traurig und musste mit den Gestorbenen mitfühlen. Ich fand es schrecklich, wie die Menschen gestorben sind und wie sie gelebt haben."
Alle beharren auf der Sinnlosigkeit dieses Krieges. Wie gut, dass wir nicht in solchem Hass aufgewachsen sind, meint Juliette. Sie hält es für ausgeschlossen, dass Deutsche und Franzosen jemals wieder aufeinander schießen könnten. Dann melden sich Andriana und Laura.
"Es ist ein sehr gutes Projekt. Es war wichtig, darüber zu reden, aber jetzt wollen wir aufpassen und in die Zukunft schauen."
Das Eis ist gebrochen. Unter Schubsen und Lachen stellen sich die Jugendlichen zum Gruppenfoto auf. Verdun liegt in der Frühlingssonne. In der Ferne ragt wie eine Granate der Turm der Totenhalle in den Himmel.
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Wenn vom Weltkrieg die Rede ist, dann denken die Deutschen zuallererst an den Zweiten Weltkrieg – an das Naziregime, an Größenwahn und Judenvernichtung. Die Franzosen denken an den 1. Weltkrieg, den "Grossen Krieg": La Grand Guerre. Er hat in Frankreich viel mehr Opfer gefordert als der 2. Weltkrieg – und die Erinnerung an ihn ist Teil des nationalen Selbstverständnisses.
Als sich das Ende des 1. Weltkrieges 1998 zum achtzigsten Mal jährte, strahlten der Deutschlandfunk und Radio France eine gemeinsame Sendereihe aus – Feldpostbriefe, Lettres de poilus. Angehörige aus beiden Ländern hatten die Briefe eingesandt: Sie waren zwischen 1914 und 1918 von deutschen und französischen Soldaten auf den Schlachtfeldern geschrieben und zu ihren Familien nach Hause geschickt worden. Diese Briefe sind heute Erinnerung und Mahnung gleichermaßen.
Literatur:
Hauptmann Heinrich von Helldorf, 10. August 1914
"Wundervoll war die Fahrt über den Rhein bei Köln. Auf den Maschinengewehren sitzend fuhren wir über die schöne neue Brücke, gerade auf den Dom zu. Die Regiments-Musik spielte die "Wacht am Rhein". Auch die Fahrt durch die Eifel war schön."
Léon Hugon, 5. August 1914
"Chère Sylvaine,
Tout est très calme, on dirait qu'on part pour les manoeuvres ...
Liebe Sylvaine, alles ist sehr ruhig. Man könnte meinen, wir ziehen ins Manöver. Ich habe all meine alten Kameraden gesehen, alle sind glücklich, nach Deutschland zu fahren.
J'ai vu mes anciens copains, tous contents d'aller en Allemagne."
Mit dem Zweiten Weltkrieg verbinden die Franzosen nicht nur die Erinnerung an den deutschen Überfall, an das nationalsozialistische Besatzungsregime, an das Massaker der SS in Oradour: In die Erinnerung mischt sich auch der fade Beigeschmack des eigenen Versagens, das erst in den späten 60er Jahren öffentlich wurde. Da kam die Rolle der Vichy-Regierung ans Licht, das Statthalter-Regime Hitlers in Frankreich. Da kam die alltägliche, heimliche Kollaboration zutage, das Abwarten, Wegsehen, Dulden. Und schließlich die französische Beteiligung an der Judendeportation in die deutschen Vernichtungslager. Frankreich reagierte schockiert: Der über zwei Jahrzehnte gepflegte Mythos vom geschlossenen heroischen Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht hatte Risse bekommen.
Dabei wollte niemand die historischen Leistungen der Resistance schmälern. Sie bestand aus der Exilregierung unter General De Gaulle, die von London aus den Sturz des Nazi-Regimes betrieb und 60.000 Freiwillige im Ausland befehligte. Und sie bestand aus den über 200.000 Aktivisten des sog. "inneren Widerstands", die im Land selbst gegen die Besatzer kämpften.
Es waren ausgerechnet die Verfolgten des Naziregimes, Juden und ehemalige Widerstandskämpfer, die sich nach dem Kriegsende für die Aussöhnung mit Deutschland stark machten.
Madeleine Riffaud gehörte dazu: Schon im Alter von 17 Jahren hatte sie sich dem Widerstand angeschlossen hatte, war aufgegriffen und gefoltert worden. Dass sie überlebte, war ein Wunder.
Der ganz persönliche Friedensschluss einer ehemaligen Widerstandskämpferin: Die Geschichte der Madame Riffaud
Fünf Volieren stehen in dem kleinen Wohnzimmer, zwei weitere im Arbeitszimmer, überwuchert von einem Gummibaum. In den verbeulten Käfigen sitzen zitronengelbe Kanarienvögel, ein leuchtend blauer Exot aus Afrika, graue Nachtigallen aus Indonesien. Nachtigallen singen in tiefer Nacht. Das ist die Zeit, in der Madeleine Riffaud an ihrem Schreibtisch sitzt. Vor zwei oder drei Uhr früh findet die 82-Jährige keinen Schlaf.
"Vielleicht haben die Stromschläge etwas in meinem Großhirn durcheinander gebracht. Jedenfalls habe ich den Reflex zum Einschlafen verloren und kein Arzt hat es geschafft, ihn wieder herzustellen. Nach dem Krieg hat mich ein hervorragender Psychoanalytiker behandelt, ohne ihn hätte ich wohl Selbstmord begangen. Trotz starker Schlafmittel kommt es vor, dass ich eine Woche lang nicht schlafen kann."
Die alte Dame trägt eine orangefarbene Fleece-Jacke, eine schwarze Wollhose, Stiefeletten mit Reißverschluss. Sie nimmt eine Papiertüte, streut Körner in eine Futterschale. Dann dreht sie sich um. Die Worte des SS-Mannes, der sie zum Sprechen bringen wollte, kann sie einfach nicht vergessen.
"Tag und Nacht sagte man das zu mir. Wenn ich trotzdem einschlief, schütteten sie mir Wasser ins Gesicht. Oder sie schlugen mich. Das hat sich eingeimpft: ich darf nicht schlafen."
Über 60 Jahre ist das her. So lange schluckt sie nun schon diese starken Schlaftabletten, die ihr ein Militärarzt besorgt.
Damals, im August 1944, als sie in der Pariser Gestapo-Zentrale in der Rue des Saussaies gefangen war, schützte sie ihre Tuberkulose vor den schlimmsten Handgreiflichkeiten. Die SS-Leute wollten sich nicht anstecken. Stattdessen wurde sie seelisch gefoltert.
"Zwei Wochen lang saß ich gefesselt auf einem Stuhl und musste ihnen zusehen. Am Schlimmsten war es, als sie vor meinen Augen einen etwa 15-jährigen Jungen quälten. Er trug noch kurze Hosen. Sie brachen die Knochen seiner Arme und Beine. Dabei sagte einer der SS-Leute zu mir: 'Wenn Sie auspacken, Mademoiselle, dann hören wir auf. Er hat nichts angestellt, dieser Knirps. Aber sie mögen wohl keine Kinder, Mademoiselle?'"
Mit einem Ruck schließt sie den Vogelkäfig.
"Dieser Satz: Sie mögen keine Kinder, Sie können sich gar nicht vorstellen, was der in meinem Leben angerichtet hat."
Madeleine Riffaud hat keine Kinder. Das ist der wunde Punkt in ihrem Leben, darüber spricht sie nicht. Alles andere ist Geschichte. Zum Beispiel das erste Erlebnis mit den Deutschen. 1940 war sie sie mit Mutter und Großvater vor der anrückenden Wehrmacht geflohen. Kurz vor der Loire dann der Angriff der Luftwaffe auf den wehrlosen Flüchtlingstreck.
"Da wuchs in mir neben der Angst auch ein Gefühl von Hass gegen die Deutschen, die so etwas unter Hitlers Führung taten."
Aber eigentlich war es ein ganz banales Erlebnis, dass ihren Widerstandswillen weckte: Ein Besatzungsoffizier trat sie in den Hintern. Madeleine Riffaud fühlte sich derart gedemütigt, dass sie den Kontakt zur Résistance suchte. Mit 17 schloss sie sich einer kommunistischen Widerstandsgruppe an. Als Tarnnamen wählte sie "Rainer", nach ihrem Lieblingsdichter, Rainer-Maria Rilke. Sie besorgte Essensmarken, transportierte Nachrichten, schmuggelte Waffen.
"Ministerpräsident Pierre Laval verstärkte die Polizei in Paris und schuf eine patriotische Miliz, die aus reinem Gesindel bestand. Vor denen hatten wir sogar mehr Angst als vor den Deutschen. Das Leben wurde unerträglich."
Nach dem Massaker der SS in Oradour, das über 600 Männern, Frauen und Kindern das Leben kostet, bekommt Madeleine den Befehl, einen Deutschen zu töten. Es ist Sonntag, ein strahlender Sommertag im Juli. Die 19-Jährige setzt sich aufs Fahrrad, fährt los.
"Es war meine Pflicht und ich hatte einen klaren Kopf. Ich fühlte absolut keinen Hass. Ich wollte nur den militärischen Auftrag erfüllen, schließlich war ich Chef einer Gruppe. Ich musste mich opfern. Ich war überzeugt, dass man mich an Ort und Stelle töten würde."
Auf der Solferino-Brücke sieht sie einen Unteroffizier. Er steht am Geländer, schaut auf die Seine. Madeleine hält an, steigt vom Fahrrad, nimmt ihren Revolver, drückt zweimal ab. Kopfschuss. Ihre Flucht wird von einem französischen Milizionär vereitelt. Er liefert sie an die Gestapo aus, kassiert das Kopfgeld: 10.000 Francs.
Ihre Erschießung ist auf den 5. August 1944 angesetzt. In letzter Minute wird das Mädchen aus der Gruppe der Verurteilten fortgeführt und erneut verhört. Wie durch ein Wunder entkommt sie dem bereits besiegelten Schicksal der KZ-Haft in Ravensbrück. Als die Allierten in Paris einmarschieren, ist sie gerade einmal 20 Jahre alt.
Nach dem Krieg bleibt die junge Frau lange unfähig, ein bürgerliches Leben zu führen. Sie wird Kriegsreporterin, arbeitet für Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsender. Nur wenn Gefahr droht, legt sich ihre innere Unruhe.
Madeleine Riffaud streift einen breiten Armreif ab. Er stützt ihren rechten Arm, dessen Knochen bei einem Attentat in Algerien zersplitterten. Sie berichtete aus Indochina und aus Vietnam, filmte auch fürs deutsche Fernsehen.
"Ja - wann entwickelte ich gute Beziehungen zu Deutschland? Schon ziemlich bald nach dem Krieg. 1951 schickte mich die Gewerkschaftszeitung "La vie ouvrière" zu den Weltfestspielen nach Ost-Berlin."
Dass sie wegen deutscher Folter nicht einschlafen kann, hat sie längst akzeptiert.
"Das gehört halt zu Kriegsfolgen. Ich habe keinen Grund, zu klagen: ich habe nur wenige Nachwirkungen und bin schon 82 Jahre alt geworden. Das ist reichlich viel."
Literatur:
Ernst Wittefeld, 31. Oktober 1914
"Ich kann Euch in diesem Brief nur sehr wenig von dem, was ich gesehen, mitteilen, denn all das Unglück und all die Verwüstungen und all den Hunger, den wir an kleinen Kindern und Frauen wahrgenommen haben, kann ich Euch nicht schreiben.
Etienne Tanty, 28. Januar 1915
"Voilà six mois bientôt que cà dure, six mois, une demi-année qu'on traîne entre vie et mort…
Fast sechs Monate, ein halbes Jahr dauert nun dieses elende Dasein zwischen Leben und Tod, Tag und Nacht, das nichts Menschliches mehr hat; sechs Monate und noch nichts hat sich abgezeichnet, keine Hoffnung…
Und warum dieses ganze Gemetzel ? Ist es der Mühe wert, tausende Unglückliche so lange warten zu lassen, nachdem man ihnen ihr Leben schon monatelang geraubt hat ?
... Et pourquoi tout ce massacre ? Est-ce la peine de faire attendre la mort si longtemps à tant de milliers de malheureux, après les avoir privés de la vie pendant des mois."
"In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts werden wir Besseres zu tun haben, als uns gegenseitig umzubringen", erklärte Frankreichs Staatspräsident De Gaulle 1963 bei der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages und drückte seinem verdutzten Gegenüber Konrad Adenauer einen Kuss auf die Wange. Dieser Vertrag ist bis heute die Grundlage für die enge Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern geblieben – seither sind ständige Konsultationen politisches Prinzip. Und ebenso wichtig wie visionäre Reden oder symbolische Gesten.
Nicht zu vergessen die ganz alltäglichen Begegnungen und Beziehungen. Das Kennen-, Schätzen-, Liebenlernen mit unverstelltem Blick, ohne den Grauschleier der tradierten Vorurteile.
Manchen gelang das schon im Krieg. Anderen in der Gefangenschaft. 750.000 deutsche Kriegsgefangene befanden sich 1945 in Frankreich. 1948 waren es noch 300.000 – sie mussten bleiben, weil Frankreich Arbeitskräfte für den Wiederaufbau brauchte. Andere blieben freiwillig und für immer. 40.000 ehemalige Kriegsgefangene verliebten sich und heirateten. Wie Hans Flindt.
Verliebt, verlobt, verheiratet: Nach der Freilassung aus der
Gefangenschaft ein Leben wie Gott in Frankreich
Dichte Hecken ziehen sich in geraden Linien durch die Weiden. Auf den Wiesen grasen schwarzweiß gescheckte Kühe. Ein Flüsschen schlängelt sich durchs Gras. Hans Flindt steht auf der Brücke. Er ist größer als die meisten Menschen in der Normandie, hat hohe Backenknochen und eine große Nase, darunter wächst ein borstiger grauer Schnurrbart. Die karierte Schirmmütze verbirgt dichtes weißes Haar. Der 80-Jährige deutet in die Landschaft, die gegen den Horizont sanft ansteigt.
"Aus dem Hohlweg da sind wir raus gekommen, weil - die Lautsprecher waren hier, auf der Brücke, und da standen die Kanadier. Und da haben wir im Hohlweg die Waffen weggeschmissen, und sind hier runter gegangen."
Es war der 21. August 1944. Der Panzerjäger Flindt war im Kessel von Falaise eingeschlossen. 10.000 deutsche Soldaten starben in den Kämpfen, ehe sich ihre Kameraden - 45.000 Männer - ergaben. Der Junge von der Insel Usedom kam in britische Gefangenschaft. Drei Tage später wurde er 18 Jahre alt.
Der alte Mann steigt ins Auto, durchquert Saint Lambert. In diesem Dorf hatte ein Pfarrer in schwarzer Soutane gestanden und die Gefangenen mit Steinen beworfen, sagt er. Das empört ihn heute noch.
Drei Jahre war der junge Flindt Kriegsgefangener. Er arbeitete im Steinbruch und machte sich bei den Bauern nützlich. Als gelernter Elektriker war er begehrt. Auf einem Hof bei Montabard schmiedete er Pflugscharen aus und verliebte sich in Marie-Thérèse, die Bauerntochter. 1949 heiratete er die Französin.
Eine Kirche, Häuser aus grauem Naturstein. Flindt fährt an Montabard vorbei. Auf derselben Straße war er im Krieg mit seiner Kompanie unterwegs. Heute ist das 300-Seelen-Dorf sein Zuhause.
"Wenn ich gewusst hätte, ich würde hier einmal landen. Das ist Schicksalssache. Kann man nicht immer wissen was passiert später. Dann hätte ich die Kasse hier lassen können."
Die Papiere und das Geld seines Regiments hat der Soldat ganz in der Nähe verbrannt, so wie es ihm die Vorgesetzten eingeschärft hatten. Später hätten er und seine Frau das Geld gut brauchen können. Flindt parkt vor einem Bauernhaus. Die großen Fenster und der helle Putz sind neu, doch in den Gemäuern dieses Hofes haben schon die Großeltern seiner Frau gewirtschaftet.
In der Wohnküche steht Marie-Thérèse am Herd. Sie ist klein und zierlich, reicht ihrem Hans knapp über die Schulter. Das kurze weiße Haar steht burschikos ab. Sorgen haben ihr Gesicht gezeichnet. Doch die braunen Augen blitzen lebhaft, und wenn sie spricht, bewegt sie unablässig die Hände und den Oberkörper.
"Die Liebe kennt kein Vaterland. Ich habe Hans geliebt. Was interessiert mich da seine Nationalität? Ich habe nicht Deutschland geheiratet, sondern einen Deutschen. Fertig."
Ihre Mutter war dagegen. Der Vater hatte in beiden Kriegen gegen die Deutschen gekämpft, aber er lebte damals schon nicht mehr. Am Tag der Trauung war das Dorf wie ausgestorben. Alle Türen und Fenster waren geschlossen, sagt Marie-Thérèse, nur die Gardinen bewegten sich.
"Wir wurden alle als Boches beschimpft, ich auch und später die Kinder. Einer wollte mich überfahren. Ich musste in den Straßengraben springen. Das war nach der Hochzeit mit Hans. Vorher, im Krieg, da hatte ich nie Probleme, weil ich keinen Umgang mit den Besatzern hatte. Ich war ein anständiges Mädchen."
Ein Mann überquert den Hof, das ist Guy, 43 Jahre alt. Er setzt sich zu den Eltern an den Tisch. Und auch Kathy kommt mit Mann und Tochter zum Nachmittagskaffee. Guy und Kathy sind die Jüngsten der sechs Kinder der Flindts.
"Ihr habt gelitten und ich war schuld daran. Ich glaube, dass es sogar heute noch Ressentiments gibt. Nicht bei jungen Menschen, aber bei den Alten. Der Krieg hat die Gemüter geprägt."
Selbst die Familie Flindt ist gespalten. Die zwei ältesten Töchter haben als Kinder am meisten unter dem Deutschen-Hass gelitten. Heute meiden sie ihre Eltern. Seit sie selbst verheiratet sind, wollen sie ihr deutsches Erbe offenbar vergessen.
Hans Flindt kramt eine alte Zeitung hervor, deutet auf einen Bericht über den 60. Jahrestag des D-Day, an dem damals Bundeskanzler Gerhard Schröder teilnahm. Der Tag der Landung der Alliierten wird in der Normandie groß gefeiert. Aber erst im Jahr 2004 wurde dazu ein deutscher Regierungschef eingeladen. Und der Kanzler hat ihn, Flindt, doch tatsächlich in seiner Rede erwähnt. Hat ihn einen Beweis dafür genannt, dass scheinbar Unmögliches Realität wurde: die Versöhnung von Feinden. So wurde das Ehepaar bekannt. Journalisten fragten nach. Damals erzählte Marie-Thérèse zum ersten Mal, wie es der Familie ergangen ist.
"Die Töchter verstehen nicht, dass ich verriet, wie sehr ich gelitten habe – persönlich und für die Kinder. 2004, da habe ich gesagt, dass wir unglücklich waren, aufgrund der Franzosen hier und der Schwiegerfamilien. Das mochten sie nicht."
Die alte Frau seufzt. Dann lächelt sie ihrem Hans zu. Der große Mann legt seinen Arm um ihre Schultern.
Literatur:
Etienne Tanty, 28. Januar 1915
Hier , ou avant-hier, au rapport, on a lu des lettres de prisonniers boches. Pourquoi ? Je n'en sais rien, car elles sont les mêmes que les nôtres. ...
Gestern oder vorgestern, beim Rapport, wurden Briefe der gefangenen Deutschen gelesen. Warum ? Ich habe keine Ahnung, denn sie schreiben dasselbe wie wir: Das Unglück, die vergebliche Hoffnung auf Frieden, die ungeheuere Dummheit all dieser Dinge. Diese unglücklichen Boches sind wie wir! Sie sind wie wir und das Unglück ist für alle gleich ...
Je vous embrasse, Etienne."
Ernst Wittefeld, 25. Februar 1915
Seit über fünfzig Jahren schreiben Deutsche und Franzosen nicht mehr Kriegs-, sondern Friedensgeschichte. Und zum Motor der europäischen Integration werden sie immer dann, wenn sie die europäische Bühne brauchen, um ihre jeweiligen Ziele durchzusetzen. So einigten sich Francois Mitterand und Helmuth Kohl über die deutsche Wiedervereinigung. So entwickelten Valerie Giscard d`Estaing und Helmut Schmidt das Europäische Währungssystem, das die Vision von der gemeinsamen Währung nährte. So legten auch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer das Fundament für die gemeinsame Zukunft.
Dieses erste deutsch-französische Tandem hatte sich aus ganz unterschiedlichen Motiven zusammengetan. Der französische Präsident verfolgte ureigene Sicherheitsinteressen und wollte via Montanunion die Kontrolle über Deutschlands Schwerindustrie gewinnen. Der erste deutsche Bundeskanzler nutzte die Chance des französischen Friedensangebotes, um die junge Bundesrepublik aus der politischen Isolation zu befreien und die Westbindung voranzutreiben. Die gemeinsame europäische Perspektive half ihnen über bilaterale Hindernisse hinweg – auch, als sich das Saarland von Frankreich lossagte und sich für die Bundesrepublik entschied. Was zum nationalen Aufschrei hätte führen können, wurde zur europäischen Gemeinschaftsaufgabe.
Pierre Maillard hat das alles miterlebt – mehr noch: Mit gestaltet. Der französische Spitzendiplomat war Beamter in der Zentralverwaltung des Saarlandes und viele Jahre Berater Charles de Gaulles.
Die deutsch-französische Freundschaft aus der Sicht
eines Spitzendiplomaten: Pierre Maillard hofft auf Kontinuität
Paris, 8. Arrondissement, im Viertel der Ministerien und Botschaften. Ein silbergrauer Wagen fährt am Quai d´Orsay vorbei, dem Sitz des Außenministers. Am Steuer sitzt Pierre Maillard. Der 90-Jährige biegt in die Rue de Solferino, manövriert in eine schmale Toreinfahrt, parkt im Hof einer Stadtvilla.
Im Außenministerium hat seine Karriere vor sechs Jahrzehnten begonnen. In diesem unauffälligen Gebäude nahm sie eine entscheidende Wendung. Denn hier hatte von 1947 bis 1958 Charles de Gaulle seine Arbeitsräume, zu einer Zeit also, in der sich der General in der Opposition befand und sich dann aus der Politik zurückzog – es war eine politische Durststrecke, die Zeit der Durchquerung der Wüste. Heute ist in der Villa eine Stiftung zur Erinnerung an den Staatsmann untergebracht.
Mühelos steigt der weißhaarige Mann im eleganten, hellbraunen Wollmantel die Treppe hoch in den ersten Stock. Eine Sekretärin eilt herbei, sperrt eine große Flügeltür auf. Maillard betritt ein Büro.
"Während der Durchquerung der Wüste arbeitete der General in diesem Raum, wo wir jetzt sind. Ich hatte ihn zu dieser Zeit manchmal besucht, und mit ihm sprechen können."
Pierre Maillard setzt sich bescheiden auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch. So als wolle er klar machen, wer hier der große Staatsmann war und wer nur Mitarbeiter. Dabei muss er de Gaulle beeindruckt haben. Als der General zum Staatspräsidenten gewählt worden war, ernannte er Maillard zu seinem außenpolitischen Berater. Fünf Jahre lang, bis 1964, arbeitete der Diplomat im Elysee-Palast. Es war die Zeit der deutsch-französischen Aussöhnung.
"Deutschland war für mich immer sehr wichtig. Und dieses Interesse teilte ich mit dem General, der sich gut mit Deutschland, seiner Geschichte und Kultur auskannte, seine Vorzüge pries und seine Fehler anprangerte. Nie hat er Deutschland als einen Erbfeind für die Ewigkeit betrachtet."
De Gaulle wurden lange Zeit anti-deutsche Gefühle nachgesagt. Maillard bewahrt jedoch ein anderes Bild des großen Politikers. Er greift zu einem Buch, zitiert die Reden und Schriften des Generals.
"Der General hegte schon lange den Traum einer deutsch-französischen Annäherung. Zum Beispiel in seinem Buch "Vers l´armée de métier", das er 1935 geschrieben hat… Mit einer großen Wehmut sprach er von den großen Dingen, die man zusammen tun könnte."
Nachdem der General an die Macht zurückgekehrt war, erlebte der Diplomat den Prozess der Aussöhnung hautnah mit. Im Juli 1962 begleitete er Bundeskanzler Adenauer auf seiner Frankreich-Reise. Im September fuhr er mit dem französischen Staatspräsidenten durch Deutschland. Und als de Gaulle in Ludwigsburg der deutschen Jugend zurief: "Sie sind ein großes Volk", da hatte sein Berater die Finger im Spiel.
"Bevor er nach Deutschland reiste, formulierte er seine Reden. Wir besprachen sie, ich übersetzte die Reden ins Deutsche, und dann sagte er sie mir auf, denn er lernte sie immer auswendig. Ich korrigierte seine Aussprache - das war eine noble Aufgabe. Bei dieser Gelegenheit sprachen wir viel über Deutschland."
Die deutsche Bevölkerung war begeistert und die Reise wurde zum Triumphzug. Das bestärkte den General in der Überzeugung, dass er auf dem richtigen Weg war. Am 22. Januar 1963 unterzeichneten de Gaulle und Adenauer im Elysee-Palast den Versöhnungsvertrag.
Und heute? Deutschland hat sich verändert, sagt Maillard, der Osten hat andere Traditionen. Der Ost-West-Konflikt – für Adenauer und de Gaulle ein Fundament des Vertrags - existiert nicht mehr. Dann die Globalisierung. Vielen jungen Menschen erscheine die deutsch-französische Freundschaft wohl nicht mehr so wichtig, meint der alte Mann nachdenklich. Die gemeinsamen Interessen seien aus dem Blickfeld geraten.
"Ich hoffe nur, dass der Elysee-Vertrag seine Bedeutung behält. Das war damals ein wichtiger Augenblick. Die deutsche Wiedervereinigung hat der Vertrag immerhin unbeschadet überlebt und die Kontakte sind nach wie vor sehr eng. Es gibt Ungewissheiten, aber auch solide Übereinstimmungen."
Pierre Maillard steht auf.
"Deshalb meine feste Hoffnung, dass alles ewig sein wird."
Literatur:
Joachim Klinkhammer, 11. November 1915
"Meine Lieben,
Da wird nun die Stadt beflaggt. Alles brüllt Hurra, wenn ein Sieg errungen ist. Aber was damit verbunden ist, bleibt außer acht. Daß hunderte Leichen herumliegen, in den Drahthindernissen hängen, überhaupt, wie ein Angriff zugeht, daran wird nicht gedacht. Und wer fällt, der stirbt den Heldentod. Auch ein schönes Wort, das jedoch hier keinen Anklang mehr findet. Das war einmal"!
Trotz Elyséevertrag und europäischer Partnerschaft: Europapolitisch ziehen Deutschland und Frankreich noch immer nicht an einem Strang – die Konzeptionen liegen so weit auseinander wie eh und je. Frankreich sieht sich in der Tradition einer unabhängigen europäischen Großmacht und wünscht sich ein Europa der starken Nationen. Deutschland sieht seine gesamte Nachkriegsgeschichte im Kontext der europäischen Integration und wünscht sich ein Europa der starken Institutionen.
Da kann gelegentlicher Familienkrach unter dem gemeinsamen europäischen Dach nicht ausbleiben. Und doch ist aus dem deutsch-französischen Gegensatz immer wieder ein guter europäischer Kompromiss geworden, dem sich die anderen Partner anschließen konnten.
Auch im Alltag ist der Weg beschwerlich geblieben – die Vergangenheit wirft lange Schatten und meldet sich immer wieder zurück. Das letzte Tabu wird nur langsam aufgebrochen – erst seit ein paar Jahren wagen sich die Betroffenen an die Öffentlichkeit und erzählen von ihrem Schicksal. Es sind die schätzungsweise 200.000 Kinder von deutschen Besatzungssoldaten. Unmittelbar nach Kriegsende wurden ihre französischen Mütter entweder verhöhnt, durch die Strassen getrieben, interniert. Oder sie konnten ihre Geschichte für sich behalten und schwiegen fortan. Die "enfants maudits", Frankreichs verfluchte Kinder, sind heute über 60 und begeben sich spät, aber doch, auf die Suche nach ihrer Identität.
Verheimlicht, verschwiegen, vertuscht: Das Schicksal von
Frankreichs "verfluchten Kindern"
Jeanine Nivoix steht am Herd. Mit der rechten Hand rührt sie in den Bohnen, in der linken hält sie einen Brief aus Deutschland. Eine Frau schreibt über ihren Vater. Erzählt, wie er vor dem Sterben beichtete, im Krieg ein Kind gezeugt zu haben. Als Besatzungssoldat in Frankreich. Jetzt sucht die deutsche Briefautorin ihren französischen Halbbruder.
"Fischer, der Name sagt mir was. Rudolf Fischer. Vielleicht gibt es in unserem Verein ein Mitglied, das gerade einen Fischer sucht… Dieser Brief ist sehr interessant, weil wir hier einen Vornamen, einen Nachnamen und ein Geburtsdatum haben."
Jeanine ist klein und drall, ihre Augen sind so graublau wie ihre Lurexbluse, und in den weißen Haare schimmert noch ein Rest von Blond. Die einfachen goldenen Ohrringe baumeln, während sie zwischen Kochtopf, Schreibtisch und dem kleinen Enkel jongliert. Die 65-Jährige strahlt. Immer wieder rufen bei ihr französische Kriegskinder an, die die Familien ihrer deutschen Väter suchen. Aber ein Brief von deutscher Seite – das ist ein Zeichen für sie, dass die Dinge endlich in Bewegung geraten. Sie legt den Kochlöffel hin, stützt die Hände auf den Tisch. Ihr gutmütiges Gesicht wird ernst.
"Ich muss Ihnen das erklären. Wir alle hatten große Probleme, über unsere Abstammung zu sprechen. Ich habe es fast nie verraten. Immerhin hatte eine Frau – meine Mutter - mit dem Feind geschlafen. So etwas durfte nicht passieren. Wir hatten Schuldgefühle, wir schämten uns, das Kind des Feinds zu sein. Wir mussten alt werden. Jetzt endlich wagen wir es, darüber zu sprechen."
Jeanine holt ein Foto aus der Schublade. Zu sehen ist ein junger Mann, sehr blond, mit einem offenen, sympathischen Lächeln. Das ist ihr Sohn. Der Junge, das sagte ihr eine Freundin der verstorbenen Mutter, sei ein Abbild ihres eigenen Vaters. Jeanine kann das nicht bestätigen, sie kennt den Vater nicht, hat nie ein Foto gesehen. Der Mann war 1940 und 1941 in einem Dorf in der Nähe von Caen stationiert, er hieß Werner und soll so lebensfroh gewesen sein. Mehr weiß sie nicht. Ihre Mutter arbeitete damals in einer Gaststätte, wo Werner ein- und ausging. Sie war erst 16 Jahre alt. Nach der Landung der Alliierten starb sie im Bombenhagel. Jeanine wuchs bei einer Kinderfrau auf, später nahm sie der Großvater zu sich. Er schlug und demütigte das Kind. Wer Jeanines Vater war, verriet er nicht.
"Ich habe es rein zufällig erfahren. Und mich sofort wie die Tochter eines Mörders gefühlt. Schlagartig. Das war im Jahr 1954, ich war 13 Jahre alt. Ich war völlig verstört: Bis dahin Waisenkind, und jetzt auf einmal Tochter einer ledigen Mutter und eines Verbrechers."
Ein Auto parkt vor dem dunkelroten Backsteinhaus. Jeanine öffnet die Haustür, umarmt Régine Billaret, die ihren Mann mitbringt. Platinblondes kurzes Haar, blaue Augen wie Jeanine, gleiches Alter, gleiches Schicksal. Das weiß sie aber erst seit kurzem.
"Im Februar 2005 habe ich zu meiner Mutter gesagt: gib zu, mein Vater war nicht mein leiblicher Vater. Sie sagte nein. Ich darauf: Hoffentlich war es eine schöne Liebesgeschichte. Sie sagte ja. Ich stand in der Küche und spülte. Dann habe ich mich umgedreht und gefragt: erinnerst du dich wenigstens an seinen Namen? Mama sagte nein. Ein paar Monate später gestand sie mir: er war nicht Franzose, sondern Deutscher."
Régine fand heraus, dass ihre Mutter Anfang der 40er Jahre in der Nähe von Hamburg in der Dynamit-Fabrik Krümmel gearbeitet hatte. Dass ihr Vater dort Chemiker war, und dass er Franz hieß. Die Mutter weigert sich, ihr weiterzuhelfen.
"Jahrelang durfte sie nicht darüber sprechen. Und jetzt ist es in ihr ganz tief vergraben. Ich sage ihr: ich habe doch ein Recht, zu erfahren, wer mein Vater war! Heute tut das keinem weh, mein Adoptivvater ist längst gestorben. Aber sie wiederholt immer: ich erinnere mich nicht mehr. Sie kann den Namen nicht vergessen haben! Das ist unmöglich! Oder vielleicht doch? Jetzt hat sie mir versprochen, dass sie mir sagen wird, wenn ich ihr ein Foto zeige, ob er es ist. Aber werde ich jemals ein Foto von meinem Vater haben?"
Die Frauen gehen ins Büro, ihre Männer übernehmen die Küche. Jeanine öffnet einen Packen Briefumschläge, holt Broschüren aus einem Karton. Régine tütet sie ein. "Freundschaftsverband der Kriegskinder", steht auf dem Heft.
Jeanine hat schon vor 35 Jahren begonnen, ihren Vater zu suchen, hat an unzählige Behörden geschrieben. Erst vor kurzem aber konnte sie es zulassen, dass ihre Geschichte in einem Buch über die Schicksale der Kriegskinder veröffentlicht wurde. Durch einen Zeitungsartikel wurde Regine auf Jeanine aufmerksam, rief sie dann an. Vor zwei Jahren gründeten die beiden Frauen mit weiteren Schicksalsgefährten den Verein.
"Wenn wir viel darüber sprechen, die Medien kontaktieren, in Zeitungen annoncieren… dann rütteln wir die Menschen auf. Es ist eine Riesenarbeit. Aber immerhin haben jetzt schon einige Deutsche unseren Verein entdeckt, wie diese Frau, die ihren Bruder sucht. Man muss auf das richtige Puzzleteil stoßen. Jedes Mal, wenn einer von uns seine Familie findet, frage ich mich: Und wer ist als Nächster dran?"
Literatur:
"Mon cher petit,
Tu viens d'avoir 9 ans, et cet âge charmant, le voici devenu le plus émouvant des âges ...
Mein Kleiner, Du bist gerade neun Jahre alt geworden. Dieses bezaubernde Alter ist in dieser Zeit vielleicht das bewegendste von allen . Noch zu jung, um in den Krieg zu gehen, bist Du groß genug, daß Dein Geist von den Erinnungen an ihn gezeichnet ist. Und vernünftig genug, um zu verstehen, daß Du es bist, Ihr es seid, die Kinder von neun Jahren, die später die Folgen zu ermessen und die Lehren aus diesem Krieg zu ziehen haben.
Ich werde all das bedauern, was ich nicht getan habe, all das, was ich hätte tun können; doch gleichzeitig denke ich daran, daß Du da bist, Du, mein Sohn, um mich fortzusetzen, um das zu verwirklichen, was ich nur geplant oder erträumt hatte.
... Je regretterai ce que je n'ai pas fait, tout ce que j'aurais du pouvoir faire; mais je penserai en même temps que tu est là, toi mon fils, pour me continuer, pour réaliser ce que j'avais seulement projeté ou rêvé."
Deutschland und Frankreich haben die Lehren aus ihrer gemeinsamen Geschichte gezogen – die deutsch-französische Aussöhnung gilt als Modellfall für die friedliche Lösung von Konflikten.
Das deutsche französische Jugendwerk hat mittlerweile sieben Millionen Deutsche und Franzosen betreut. Es gibt 239 deutsch-französische Gesellschaften, 1900 Städtepartnerschaften, eine deutsch-französische Brigade, eine deutsch-französische Hochschule mit Dutzenden von Partneruniversitäten in beiden Ländern, seit neuestem ein gemeinsames Schulbuch für Geschichte – und trotz allem die Befürchtung, dass das gemeinsame Projekt Ermüdungserscheinungen zeigt. Abzulesen ist das auch an der weiter sinkenden Zahl der Schüler, die Deutsch oder Französisch lernen.
Vor allem das private deutsche Kulturinstitut Heidelberg-Haus in Montpellier ergriff in Frankreich die Initiative: Weil es nicht auf neue staatliche Förderprogramme warten wollte, schickte es 2001 das Deutsch-Mobil auf die Straße. Seither fahren junge deutsche Lektoren mit einem Kleinbus durch ganz Frankreich, um französischen Schülern die deutsche Sprache und Kultur näher zu bringen. So erfolgreich, dass es in Deutschland mittlerweile ein France-Mobil gibt.
Botschafter der Sprachförderung: Mit dem Deutsch-Mobil in
Frankreich unterwegs
Diesmal geht die Fahrt übers Land. Vorbei an Rübenfeldern und Hochspannungsmasten steuert Annette Gramß den weißen Mini-Bus nach Saint Mard, 50 Kilometer nördlich von Paris. "Deutschmobil" steht kreuz und quer auf der Karosserie.
Annette hat lange braune Haare und eine eckige dunkle Brille, den grob gestrickten roten Wollschal trägt sie mehrfach um den Hals gewickelt. Die 29-Jährige arbeitet als Botschafterin für die Fremdsprache Deutsch.
Der Weg zur Gesamtschule "Georges Brassens" ist schlecht ausgeschildert. Vor dem Schultor steht ein Mann in hellgrauem Anorak und winkt mit beiden Armen. Schon vor zwei Jahren hat Siegfried Pollert beschlossen, das Deutschmobil zu bestellen. Doch in der Region Ile-de-France gibt es nur eine Sprachbotschafterin, und die ist überaus begehrt. Deshalb musste der Deutschlehrer lange warten. Auf dem Weg ins Klassenzimmer erkundigt sich Annette nach der Schule.
"Etwa 530 Schüler haben wir hier. Davon haben wir im Schnitt so knappe 20, die Deutsch anfangen. Die fangen alle gleichzeitig Deutsch und Englisch an.
- Und ist das auch das Problem, dass sie für die 2. Sprache nicht mehr so viele rekrutieren können?
- Richtig. Wir hatten dieses Jahr zum ersten Mal keine Deutschklasse für Deutsch als zweite Fremdsprache.
- Gar keine!"
Im sechsten Schuljahr gleichzeitig mit Englisch und Deutsch beginnen – das ist ein neuer Trick in Frankreich, um überhaupt noch genügend Schüler für Deutsch zusammen zu bekommen. Im Collège von Saint Mard wählen jedes Jahr rund 20 Schüler diese Option. Alle anderen fangen nur mit Englisch an.
28 Jugendliche strömen in den Raum, eine siebte Klasse. Vor dem Sommer müssen sich die 12- und 13-Jährigen für die zweite Fremdsprache entscheiden, zur Auswahl stehen Deutsch und Spanisch. Annette will ihnen Lust auf Deutsch machen.
"Hallo, guten Tag. Mein Name ist Annette. Ich komme aus Deutschland. Ich habe hier eine Karte von Deutschland, aber sie ist kaputt. Wir werden sie reparieren."
Annette hat die Landkarte in Puzzleteile zerschnitten, die sie jetzt verteilt. Außerdem Karten mit deutschen Vokabeln, alle leicht verständlich, weil sie dem Englischen oder Französischen gleichen. Sie erzählt, dass sie aus Jena kommt, im Zentrum Deutschlands, dass dort ihre Mutter und ihr Vater leben. Sobald ein Schüler sein deutsches Wort in ihrer Rede hört, soll er die Karte hoch halten.
Im Hintergrund steht Isabelle Ugelle und schaut zu. Sie ist Deutschlehrerin in einem Nachbardorf. Eine ihrer Klassen besteht aus nur drei Schülern.
"Unser großes Problem ist die Wahl der zweiten Fremdsprache in der 8. Klasse. Wenn die Schüler erst einmal im Collège sind, dann folgen sie dem Herdentrieb und nehmen Spanisch, wie alle anderen. … Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, um sie für Deutsch zu begeistern. Wir Deutschlehrer haben das Gefühl, dass wir mit unserem Fach hausieren gehen."
Deutsch gilt als schwierig, sagt Madame Ugelle. Und hat zudem ein schlechtes Image, meint Siegfried Pollert.
"Ich habe letzten Sommer in einer Grundschule gesehen, was sie an Büchern haben über Deutschland. Da waren in der Bibliothek – wie fast an allen Schulen – fünf, sechs Bücher über Deutschland, immer nur Literatur über 1933/45. Immer ist Anne Frank dabei, mon ami Frédéric, dann noch zwei, drei unterschiedliche. Ist ja auch in Ordnung, aber es ist nur das da."
Den Schülern fällt zu Deutschland erstmal gar nichts ein. Nach langer Pause sagt Louis: Die Berliner Mauer. Cédric denkt an Hitler und den Krieg. Da ist es kalt, sagt Jerôme. Aurelien gefällt die Musik von Ramstein und Tokio Hotel. Und Mathilde:
"Ich mag Deutschland, weil ich die deutsche Fernsehserie "Verliebt in Berlin" anschaue. Das scheint ein tolles Land zu sein. Aber Deutsch lernen ist mir zu schwer. Das könnte meine Noten herunter ziehen."
Annette legt CDs von Gruppen auf, die die Schüler noch nicht kennen, fragt, ob sie sich deutsche Musik so vorgestellt hätten.
Eine Junge meldet sich: er dachte bisher, deutsche Sänger würden schreien.
Die Stunde ist zu Ende. Die Schüler packen zusammen. Annette erwartet eine neue Gruppe. Fünf Klassen will sie heute überzeugen, dass Deutschland anders ist, als sie sich das vielleicht vorstellen.
Literatur: Auszüge aus der CD "Feldpostbriefe – Lettres de poilus", Deutschlandfunk, 1998
Schicksal, das Kind eines deutschen Soldaten zu sein:
"Ich habe es fast nie verraten. Immerhin hatte eine Frau
- meine Mutter – mit dem Feind geschlafen. So etwas
durfte nicht passieren. Wir hatten Schuldgefühle, wir
schämten uns, das Kind des Feindes zu sein. Wir
mussten erst alt werden, bis wir endlich wagen,
darüber zu sprechen."
Und ein junger Franzose über die langen Schatten der
Vergangenheit im deutsch-französischen Alltag:
"Ich glaube, dass es sogar heute noch Ressentiments gibt. Nicht bei jungen Menschen, aber bei den Alten. Der Krieg hat die Gemüter geprägt."
Als die Außenminister Frankreichs, Italiens, Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande zusammen mit Bundeskanzler Konrad Adenauer am 25. März 1957 die Römischen Verträge unterzeichneten, unterschrieben sie die Geburtsurkunde der Europäischen Union. Auf den Tag genau 50 Jahre später beschwören die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten der EU an diesem Wochenende die gemeinsamen europäischen Werte und Ziele.
Die EU als Wirtschaftsraum und Friedensprojekt: Die Römischen Verträge sind wohl nur zustande gekommen, weil Frankreich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum historischen Frieden mit Deutschland nutzte. Der Handschlag über den Rhein wurde mit der Montanunion. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl wies beiden Ländern schon 1951 einen Weg aus ihrer Erbfeindschaft in eine europäische Zukunft.
Zwischen den Kriegen damals und dem Frieden heute liegen Welten. Die Friedhöfe bezeugen das. Zum Beispiel in Verdun und auf den anderen Schlachtfeldern des 1.Weltkriegs. Sie sind Symbole für die Sinnlosigkeit des Krieges. Und sie sind Symbole der Versöhnung. Zwei Schulklassen besuchen die Erinnerungsstätten – die eine aus Montpellier, die andere aus Heidelberg. Die Schüler aus den beiden Partnerstädten arbeiten gemeinsam an einem Projekt mit dem Titel: "Gekreuzte Schicksale, geteilte Erinnerung".
"Gekreuzte Schicksale, geteilte Erinnerung": Deutsche und französische Schüler auf den Schlachtfeldern von Verdun
Ein Parkplatz in weiter Landschaft, ein kleines Museum. An seiner Stelle stand einst der Bahnhof von Fleury. Das Dorf gibt es nicht mehr. Es lag in der Schusslinie, wurde völlig zerstört und nicht wieder aufgebaut. Die Fremdenführerin hat zwei Schulklassen um sich geschart.
"… et toujours sous le feu d´artillerie. Wo sind die Deutschen? Ich hab euch hier warten lassen, weil man hier alles sehen kann, was wir heute Vormittag besichtigen. Das Gebeinhaus dort drüben und dort oben auf dem Hügel die Festung Douaumont …"
Die Blicke folgen der ausgestreckten Hand, schweifen über die Krater im Erdreich, in denen sich Regenwasser sammelt, verharren am Horizont. Dort ragt - wie eine riesige Granate - ein weißer Turm in den Himmel. Eine Totenhalle, erklärt die Fremdenführerin, errichtet für alle Knochen und Schädel, die hier im Schlamm gefunden wurden. Skelette, von denen keiner weiß, ob sie einst deutsche oder französische Uniformen trugen.
"Acht Monate Kämpfe auf diese kurze Distanz. Die französischen Kanonen standen hier hinten, die deutschen Kanonen dort hinten. Il faut pas vous imaginer que…"
Rund 60 Schüler haben sich versammelt. Eine Klasse kommt aus Heidelberg, die andere aus Montpellier. Die 16-Jährigen und ihre Lehrer haben sich in Verdun getroffen, wo eine der grausamsten Schlachten des Ersten Weltkriegs möglicherweise 700.000 Opfer forderte. Viele Jungen tragen Gel-Frisuren, die Mädchen lange Haare und Wimperntusche. Wer von ihnen das Hölderlin-Gymnasium besucht und wer das Lycée Jean Monnet – das ist ihnen nicht anzusehen.
Im Gebeinhaus von Douaumont: Die Schüler sehen einen Film über das Gemetzel. Danach sind sie stiller als zuvor:
"Eindrucksvoll. Das nimmt einen schon mit. So Kriegsszenen sind immer so bedrückend, da kann man sich's besser vorstellen."
Sie gehen außen am Gebäude an Fensterluken vorbei. Dahinter türmen sich die Gebeine. Ein Mädchen schiebt die Sonnenbrille ins Haar, presst das Gesicht an die Scheibe, kann sich kaum losreißen.
"Schrecklich, das quillt ja über. Da sieht man, wie leicht ein Leben zerstört werden kann. Die Knochen sind total zersplittert."
Der Bus setzt sie auf einer Kuppe ab. Wie eine schlecht verheilte Narbe zieht sich dickes Mauerwerk durch den Hügel. Meterdicker Beton mit Schießscharten, von Gras überwuchert. Das sind die Reste der Festung Douaumont. Die Fremdenführerin deutet auf zwei Schusslöcher.
"Das da vorne war ein französisches Geschoß, mit 400 mm Durchmesser, dagegen hier, in der Kasematte, ein deutsches Geschoss, 420 mm Durchmesser."
Zwei Stockwerke tief wurde die Festung in die Erde getrieben. Die ganze Gruppe steigt ins Untergeschoss, aber Deutsche und Franzosen bleiben jeweils unter sich. Es ist feucht und schlammig. Damals, sagt die Reiseleiterin, war das Sickerwasser von den vielen Leichen verseucht. Die Soldaten litten Hunger und Durst, außerdem mussten sie sich gegen die Ratten wehren. Für viele wurde die Festung zum Sarg.
Letzte Station: Das Weltfriedenszentrum von Verdun. Die Lehrer stehen zusammen, besprechen sich halblaut. Eine blonde Frau schüttelt missmutig den Kopf. France Calvetti ist unzufrieden. Sie wünscht sich mehr Gemeinsamkeit, echte Begegnungen. Die Geschichtslehrerin aus Montpellier trommelt die Schüler zusammen:
"Le but était de marquer une forme de rapprochement. Or depuis ce matin, nous avons été à Douaumont… mais chaque fois…"
Ihr deutscher Kollege übernimmt:
"Nachdem wir den ganzen Tag eigentlich heute nebeneinander her diese Besichtigungen gemacht haben, versuchen, mal gemeinsam zu finden, was wir an Eindrücken heute gehabt haben. Und dazu, meinte die France, wäre es das beste, auch damit wir die Begegnung intensivieren, dass wir jeweils ein Pärchen bilden, deutsch-französisch, und dass man sich gegenseitig hilft."
Auf einmal kommt Bewegung in die Gruppe. Mädchen und Jungen mustern sich verlegen, dann gehen die Mutigsten aufeinander zu, radebrechen in der Sprache des anderen. Paare bilden sich, setzen sich auf den Boden, kramen Stift und Papier aus dem Sack, diskutieren, notieren. Zwei Jungen sind sich schnell einig und zeigen auf.
"Les films étaient très instructifs. Je trouve que c´est très triste parce qu´il y a beaucoup de morts et je pense : attaquer avec des gas, c´est très injuste."
"Ich habe viel gelernt, das war nicht langweilig. Ich fand es auch sehr traurig und musste mit den Gestorbenen mitfühlen. Ich fand es schrecklich, wie die Menschen gestorben sind und wie sie gelebt haben."
Alle beharren auf der Sinnlosigkeit dieses Krieges. Wie gut, dass wir nicht in solchem Hass aufgewachsen sind, meint Juliette. Sie hält es für ausgeschlossen, dass Deutsche und Franzosen jemals wieder aufeinander schießen könnten. Dann melden sich Andriana und Laura.
"Es ist ein sehr gutes Projekt. Es war wichtig, darüber zu reden, aber jetzt wollen wir aufpassen und in die Zukunft schauen."
Das Eis ist gebrochen. Unter Schubsen und Lachen stellen sich die Jugendlichen zum Gruppenfoto auf. Verdun liegt in der Frühlingssonne. In der Ferne ragt wie eine Granate der Turm der Totenhalle in den Himmel.
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Wenn vom Weltkrieg die Rede ist, dann denken die Deutschen zuallererst an den Zweiten Weltkrieg – an das Naziregime, an Größenwahn und Judenvernichtung. Die Franzosen denken an den 1. Weltkrieg, den "Grossen Krieg": La Grand Guerre. Er hat in Frankreich viel mehr Opfer gefordert als der 2. Weltkrieg – und die Erinnerung an ihn ist Teil des nationalen Selbstverständnisses.
Als sich das Ende des 1. Weltkrieges 1998 zum achtzigsten Mal jährte, strahlten der Deutschlandfunk und Radio France eine gemeinsame Sendereihe aus – Feldpostbriefe, Lettres de poilus. Angehörige aus beiden Ländern hatten die Briefe eingesandt: Sie waren zwischen 1914 und 1918 von deutschen und französischen Soldaten auf den Schlachtfeldern geschrieben und zu ihren Familien nach Hause geschickt worden. Diese Briefe sind heute Erinnerung und Mahnung gleichermaßen.
Literatur:
Hauptmann Heinrich von Helldorf, 10. August 1914
"Wundervoll war die Fahrt über den Rhein bei Köln. Auf den Maschinengewehren sitzend fuhren wir über die schöne neue Brücke, gerade auf den Dom zu. Die Regiments-Musik spielte die "Wacht am Rhein". Auch die Fahrt durch die Eifel war schön."
Léon Hugon, 5. August 1914
"Chère Sylvaine,
Tout est très calme, on dirait qu'on part pour les manoeuvres ...
Liebe Sylvaine, alles ist sehr ruhig. Man könnte meinen, wir ziehen ins Manöver. Ich habe all meine alten Kameraden gesehen, alle sind glücklich, nach Deutschland zu fahren.
J'ai vu mes anciens copains, tous contents d'aller en Allemagne."
Mit dem Zweiten Weltkrieg verbinden die Franzosen nicht nur die Erinnerung an den deutschen Überfall, an das nationalsozialistische Besatzungsregime, an das Massaker der SS in Oradour: In die Erinnerung mischt sich auch der fade Beigeschmack des eigenen Versagens, das erst in den späten 60er Jahren öffentlich wurde. Da kam die Rolle der Vichy-Regierung ans Licht, das Statthalter-Regime Hitlers in Frankreich. Da kam die alltägliche, heimliche Kollaboration zutage, das Abwarten, Wegsehen, Dulden. Und schließlich die französische Beteiligung an der Judendeportation in die deutschen Vernichtungslager. Frankreich reagierte schockiert: Der über zwei Jahrzehnte gepflegte Mythos vom geschlossenen heroischen Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht hatte Risse bekommen.
Dabei wollte niemand die historischen Leistungen der Resistance schmälern. Sie bestand aus der Exilregierung unter General De Gaulle, die von London aus den Sturz des Nazi-Regimes betrieb und 60.000 Freiwillige im Ausland befehligte. Und sie bestand aus den über 200.000 Aktivisten des sog. "inneren Widerstands", die im Land selbst gegen die Besatzer kämpften.
Es waren ausgerechnet die Verfolgten des Naziregimes, Juden und ehemalige Widerstandskämpfer, die sich nach dem Kriegsende für die Aussöhnung mit Deutschland stark machten.
Madeleine Riffaud gehörte dazu: Schon im Alter von 17 Jahren hatte sie sich dem Widerstand angeschlossen hatte, war aufgegriffen und gefoltert worden. Dass sie überlebte, war ein Wunder.
Der ganz persönliche Friedensschluss einer ehemaligen Widerstandskämpferin: Die Geschichte der Madame Riffaud
Fünf Volieren stehen in dem kleinen Wohnzimmer, zwei weitere im Arbeitszimmer, überwuchert von einem Gummibaum. In den verbeulten Käfigen sitzen zitronengelbe Kanarienvögel, ein leuchtend blauer Exot aus Afrika, graue Nachtigallen aus Indonesien. Nachtigallen singen in tiefer Nacht. Das ist die Zeit, in der Madeleine Riffaud an ihrem Schreibtisch sitzt. Vor zwei oder drei Uhr früh findet die 82-Jährige keinen Schlaf.
"Vielleicht haben die Stromschläge etwas in meinem Großhirn durcheinander gebracht. Jedenfalls habe ich den Reflex zum Einschlafen verloren und kein Arzt hat es geschafft, ihn wieder herzustellen. Nach dem Krieg hat mich ein hervorragender Psychoanalytiker behandelt, ohne ihn hätte ich wohl Selbstmord begangen. Trotz starker Schlafmittel kommt es vor, dass ich eine Woche lang nicht schlafen kann."
Die alte Dame trägt eine orangefarbene Fleece-Jacke, eine schwarze Wollhose, Stiefeletten mit Reißverschluss. Sie nimmt eine Papiertüte, streut Körner in eine Futterschale. Dann dreht sie sich um. Die Worte des SS-Mannes, der sie zum Sprechen bringen wollte, kann sie einfach nicht vergessen.
"Tag und Nacht sagte man das zu mir. Wenn ich trotzdem einschlief, schütteten sie mir Wasser ins Gesicht. Oder sie schlugen mich. Das hat sich eingeimpft: ich darf nicht schlafen."
Über 60 Jahre ist das her. So lange schluckt sie nun schon diese starken Schlaftabletten, die ihr ein Militärarzt besorgt.
Damals, im August 1944, als sie in der Pariser Gestapo-Zentrale in der Rue des Saussaies gefangen war, schützte sie ihre Tuberkulose vor den schlimmsten Handgreiflichkeiten. Die SS-Leute wollten sich nicht anstecken. Stattdessen wurde sie seelisch gefoltert.
"Zwei Wochen lang saß ich gefesselt auf einem Stuhl und musste ihnen zusehen. Am Schlimmsten war es, als sie vor meinen Augen einen etwa 15-jährigen Jungen quälten. Er trug noch kurze Hosen. Sie brachen die Knochen seiner Arme und Beine. Dabei sagte einer der SS-Leute zu mir: 'Wenn Sie auspacken, Mademoiselle, dann hören wir auf. Er hat nichts angestellt, dieser Knirps. Aber sie mögen wohl keine Kinder, Mademoiselle?'"
Mit einem Ruck schließt sie den Vogelkäfig.
"Dieser Satz: Sie mögen keine Kinder, Sie können sich gar nicht vorstellen, was der in meinem Leben angerichtet hat."
Madeleine Riffaud hat keine Kinder. Das ist der wunde Punkt in ihrem Leben, darüber spricht sie nicht. Alles andere ist Geschichte. Zum Beispiel das erste Erlebnis mit den Deutschen. 1940 war sie sie mit Mutter und Großvater vor der anrückenden Wehrmacht geflohen. Kurz vor der Loire dann der Angriff der Luftwaffe auf den wehrlosen Flüchtlingstreck.
"Da wuchs in mir neben der Angst auch ein Gefühl von Hass gegen die Deutschen, die so etwas unter Hitlers Führung taten."
Aber eigentlich war es ein ganz banales Erlebnis, dass ihren Widerstandswillen weckte: Ein Besatzungsoffizier trat sie in den Hintern. Madeleine Riffaud fühlte sich derart gedemütigt, dass sie den Kontakt zur Résistance suchte. Mit 17 schloss sie sich einer kommunistischen Widerstandsgruppe an. Als Tarnnamen wählte sie "Rainer", nach ihrem Lieblingsdichter, Rainer-Maria Rilke. Sie besorgte Essensmarken, transportierte Nachrichten, schmuggelte Waffen.
"Ministerpräsident Pierre Laval verstärkte die Polizei in Paris und schuf eine patriotische Miliz, die aus reinem Gesindel bestand. Vor denen hatten wir sogar mehr Angst als vor den Deutschen. Das Leben wurde unerträglich."
Nach dem Massaker der SS in Oradour, das über 600 Männern, Frauen und Kindern das Leben kostet, bekommt Madeleine den Befehl, einen Deutschen zu töten. Es ist Sonntag, ein strahlender Sommertag im Juli. Die 19-Jährige setzt sich aufs Fahrrad, fährt los.
"Es war meine Pflicht und ich hatte einen klaren Kopf. Ich fühlte absolut keinen Hass. Ich wollte nur den militärischen Auftrag erfüllen, schließlich war ich Chef einer Gruppe. Ich musste mich opfern. Ich war überzeugt, dass man mich an Ort und Stelle töten würde."
Auf der Solferino-Brücke sieht sie einen Unteroffizier. Er steht am Geländer, schaut auf die Seine. Madeleine hält an, steigt vom Fahrrad, nimmt ihren Revolver, drückt zweimal ab. Kopfschuss. Ihre Flucht wird von einem französischen Milizionär vereitelt. Er liefert sie an die Gestapo aus, kassiert das Kopfgeld: 10.000 Francs.
Ihre Erschießung ist auf den 5. August 1944 angesetzt. In letzter Minute wird das Mädchen aus der Gruppe der Verurteilten fortgeführt und erneut verhört. Wie durch ein Wunder entkommt sie dem bereits besiegelten Schicksal der KZ-Haft in Ravensbrück. Als die Allierten in Paris einmarschieren, ist sie gerade einmal 20 Jahre alt.
Nach dem Krieg bleibt die junge Frau lange unfähig, ein bürgerliches Leben zu führen. Sie wird Kriegsreporterin, arbeitet für Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsender. Nur wenn Gefahr droht, legt sich ihre innere Unruhe.
Madeleine Riffaud streift einen breiten Armreif ab. Er stützt ihren rechten Arm, dessen Knochen bei einem Attentat in Algerien zersplitterten. Sie berichtete aus Indochina und aus Vietnam, filmte auch fürs deutsche Fernsehen.
"Ja - wann entwickelte ich gute Beziehungen zu Deutschland? Schon ziemlich bald nach dem Krieg. 1951 schickte mich die Gewerkschaftszeitung "La vie ouvrière" zu den Weltfestspielen nach Ost-Berlin."
Dass sie wegen deutscher Folter nicht einschlafen kann, hat sie längst akzeptiert.
"Das gehört halt zu Kriegsfolgen. Ich habe keinen Grund, zu klagen: ich habe nur wenige Nachwirkungen und bin schon 82 Jahre alt geworden. Das ist reichlich viel."
Literatur:
Ernst Wittefeld, 31. Oktober 1914
"Ich kann Euch in diesem Brief nur sehr wenig von dem, was ich gesehen, mitteilen, denn all das Unglück und all die Verwüstungen und all den Hunger, den wir an kleinen Kindern und Frauen wahrgenommen haben, kann ich Euch nicht schreiben.
Etienne Tanty, 28. Januar 1915
"Voilà six mois bientôt que cà dure, six mois, une demi-année qu'on traîne entre vie et mort…
Fast sechs Monate, ein halbes Jahr dauert nun dieses elende Dasein zwischen Leben und Tod, Tag und Nacht, das nichts Menschliches mehr hat; sechs Monate und noch nichts hat sich abgezeichnet, keine Hoffnung…
Und warum dieses ganze Gemetzel ? Ist es der Mühe wert, tausende Unglückliche so lange warten zu lassen, nachdem man ihnen ihr Leben schon monatelang geraubt hat ?
... Et pourquoi tout ce massacre ? Est-ce la peine de faire attendre la mort si longtemps à tant de milliers de malheureux, après les avoir privés de la vie pendant des mois."
"In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts werden wir Besseres zu tun haben, als uns gegenseitig umzubringen", erklärte Frankreichs Staatspräsident De Gaulle 1963 bei der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages und drückte seinem verdutzten Gegenüber Konrad Adenauer einen Kuss auf die Wange. Dieser Vertrag ist bis heute die Grundlage für die enge Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern geblieben – seither sind ständige Konsultationen politisches Prinzip. Und ebenso wichtig wie visionäre Reden oder symbolische Gesten.
Nicht zu vergessen die ganz alltäglichen Begegnungen und Beziehungen. Das Kennen-, Schätzen-, Liebenlernen mit unverstelltem Blick, ohne den Grauschleier der tradierten Vorurteile.
Manchen gelang das schon im Krieg. Anderen in der Gefangenschaft. 750.000 deutsche Kriegsgefangene befanden sich 1945 in Frankreich. 1948 waren es noch 300.000 – sie mussten bleiben, weil Frankreich Arbeitskräfte für den Wiederaufbau brauchte. Andere blieben freiwillig und für immer. 40.000 ehemalige Kriegsgefangene verliebten sich und heirateten. Wie Hans Flindt.
Verliebt, verlobt, verheiratet: Nach der Freilassung aus der
Gefangenschaft ein Leben wie Gott in Frankreich
Dichte Hecken ziehen sich in geraden Linien durch die Weiden. Auf den Wiesen grasen schwarzweiß gescheckte Kühe. Ein Flüsschen schlängelt sich durchs Gras. Hans Flindt steht auf der Brücke. Er ist größer als die meisten Menschen in der Normandie, hat hohe Backenknochen und eine große Nase, darunter wächst ein borstiger grauer Schnurrbart. Die karierte Schirmmütze verbirgt dichtes weißes Haar. Der 80-Jährige deutet in die Landschaft, die gegen den Horizont sanft ansteigt.
"Aus dem Hohlweg da sind wir raus gekommen, weil - die Lautsprecher waren hier, auf der Brücke, und da standen die Kanadier. Und da haben wir im Hohlweg die Waffen weggeschmissen, und sind hier runter gegangen."
Es war der 21. August 1944. Der Panzerjäger Flindt war im Kessel von Falaise eingeschlossen. 10.000 deutsche Soldaten starben in den Kämpfen, ehe sich ihre Kameraden - 45.000 Männer - ergaben. Der Junge von der Insel Usedom kam in britische Gefangenschaft. Drei Tage später wurde er 18 Jahre alt.
Der alte Mann steigt ins Auto, durchquert Saint Lambert. In diesem Dorf hatte ein Pfarrer in schwarzer Soutane gestanden und die Gefangenen mit Steinen beworfen, sagt er. Das empört ihn heute noch.
Drei Jahre war der junge Flindt Kriegsgefangener. Er arbeitete im Steinbruch und machte sich bei den Bauern nützlich. Als gelernter Elektriker war er begehrt. Auf einem Hof bei Montabard schmiedete er Pflugscharen aus und verliebte sich in Marie-Thérèse, die Bauerntochter. 1949 heiratete er die Französin.
Eine Kirche, Häuser aus grauem Naturstein. Flindt fährt an Montabard vorbei. Auf derselben Straße war er im Krieg mit seiner Kompanie unterwegs. Heute ist das 300-Seelen-Dorf sein Zuhause.
"Wenn ich gewusst hätte, ich würde hier einmal landen. Das ist Schicksalssache. Kann man nicht immer wissen was passiert später. Dann hätte ich die Kasse hier lassen können."
Die Papiere und das Geld seines Regiments hat der Soldat ganz in der Nähe verbrannt, so wie es ihm die Vorgesetzten eingeschärft hatten. Später hätten er und seine Frau das Geld gut brauchen können. Flindt parkt vor einem Bauernhaus. Die großen Fenster und der helle Putz sind neu, doch in den Gemäuern dieses Hofes haben schon die Großeltern seiner Frau gewirtschaftet.
In der Wohnküche steht Marie-Thérèse am Herd. Sie ist klein und zierlich, reicht ihrem Hans knapp über die Schulter. Das kurze weiße Haar steht burschikos ab. Sorgen haben ihr Gesicht gezeichnet. Doch die braunen Augen blitzen lebhaft, und wenn sie spricht, bewegt sie unablässig die Hände und den Oberkörper.
"Die Liebe kennt kein Vaterland. Ich habe Hans geliebt. Was interessiert mich da seine Nationalität? Ich habe nicht Deutschland geheiratet, sondern einen Deutschen. Fertig."
Ihre Mutter war dagegen. Der Vater hatte in beiden Kriegen gegen die Deutschen gekämpft, aber er lebte damals schon nicht mehr. Am Tag der Trauung war das Dorf wie ausgestorben. Alle Türen und Fenster waren geschlossen, sagt Marie-Thérèse, nur die Gardinen bewegten sich.
"Wir wurden alle als Boches beschimpft, ich auch und später die Kinder. Einer wollte mich überfahren. Ich musste in den Straßengraben springen. Das war nach der Hochzeit mit Hans. Vorher, im Krieg, da hatte ich nie Probleme, weil ich keinen Umgang mit den Besatzern hatte. Ich war ein anständiges Mädchen."
Ein Mann überquert den Hof, das ist Guy, 43 Jahre alt. Er setzt sich zu den Eltern an den Tisch. Und auch Kathy kommt mit Mann und Tochter zum Nachmittagskaffee. Guy und Kathy sind die Jüngsten der sechs Kinder der Flindts.
"Ihr habt gelitten und ich war schuld daran. Ich glaube, dass es sogar heute noch Ressentiments gibt. Nicht bei jungen Menschen, aber bei den Alten. Der Krieg hat die Gemüter geprägt."
Selbst die Familie Flindt ist gespalten. Die zwei ältesten Töchter haben als Kinder am meisten unter dem Deutschen-Hass gelitten. Heute meiden sie ihre Eltern. Seit sie selbst verheiratet sind, wollen sie ihr deutsches Erbe offenbar vergessen.
Hans Flindt kramt eine alte Zeitung hervor, deutet auf einen Bericht über den 60. Jahrestag des D-Day, an dem damals Bundeskanzler Gerhard Schröder teilnahm. Der Tag der Landung der Alliierten wird in der Normandie groß gefeiert. Aber erst im Jahr 2004 wurde dazu ein deutscher Regierungschef eingeladen. Und der Kanzler hat ihn, Flindt, doch tatsächlich in seiner Rede erwähnt. Hat ihn einen Beweis dafür genannt, dass scheinbar Unmögliches Realität wurde: die Versöhnung von Feinden. So wurde das Ehepaar bekannt. Journalisten fragten nach. Damals erzählte Marie-Thérèse zum ersten Mal, wie es der Familie ergangen ist.
"Die Töchter verstehen nicht, dass ich verriet, wie sehr ich gelitten habe – persönlich und für die Kinder. 2004, da habe ich gesagt, dass wir unglücklich waren, aufgrund der Franzosen hier und der Schwiegerfamilien. Das mochten sie nicht."
Die alte Frau seufzt. Dann lächelt sie ihrem Hans zu. Der große Mann legt seinen Arm um ihre Schultern.
Literatur:
Etienne Tanty, 28. Januar 1915
Hier , ou avant-hier, au rapport, on a lu des lettres de prisonniers boches. Pourquoi ? Je n'en sais rien, car elles sont les mêmes que les nôtres. ...
Gestern oder vorgestern, beim Rapport, wurden Briefe der gefangenen Deutschen gelesen. Warum ? Ich habe keine Ahnung, denn sie schreiben dasselbe wie wir: Das Unglück, die vergebliche Hoffnung auf Frieden, die ungeheuere Dummheit all dieser Dinge. Diese unglücklichen Boches sind wie wir! Sie sind wie wir und das Unglück ist für alle gleich ...
Je vous embrasse, Etienne."
Ernst Wittefeld, 25. Februar 1915
Seit über fünfzig Jahren schreiben Deutsche und Franzosen nicht mehr Kriegs-, sondern Friedensgeschichte. Und zum Motor der europäischen Integration werden sie immer dann, wenn sie die europäische Bühne brauchen, um ihre jeweiligen Ziele durchzusetzen. So einigten sich Francois Mitterand und Helmuth Kohl über die deutsche Wiedervereinigung. So entwickelten Valerie Giscard d`Estaing und Helmut Schmidt das Europäische Währungssystem, das die Vision von der gemeinsamen Währung nährte. So legten auch Charles de Gaulle und Konrad Adenauer das Fundament für die gemeinsame Zukunft.
Dieses erste deutsch-französische Tandem hatte sich aus ganz unterschiedlichen Motiven zusammengetan. Der französische Präsident verfolgte ureigene Sicherheitsinteressen und wollte via Montanunion die Kontrolle über Deutschlands Schwerindustrie gewinnen. Der erste deutsche Bundeskanzler nutzte die Chance des französischen Friedensangebotes, um die junge Bundesrepublik aus der politischen Isolation zu befreien und die Westbindung voranzutreiben. Die gemeinsame europäische Perspektive half ihnen über bilaterale Hindernisse hinweg – auch, als sich das Saarland von Frankreich lossagte und sich für die Bundesrepublik entschied. Was zum nationalen Aufschrei hätte führen können, wurde zur europäischen Gemeinschaftsaufgabe.
Pierre Maillard hat das alles miterlebt – mehr noch: Mit gestaltet. Der französische Spitzendiplomat war Beamter in der Zentralverwaltung des Saarlandes und viele Jahre Berater Charles de Gaulles.
Die deutsch-französische Freundschaft aus der Sicht
eines Spitzendiplomaten: Pierre Maillard hofft auf Kontinuität
Paris, 8. Arrondissement, im Viertel der Ministerien und Botschaften. Ein silbergrauer Wagen fährt am Quai d´Orsay vorbei, dem Sitz des Außenministers. Am Steuer sitzt Pierre Maillard. Der 90-Jährige biegt in die Rue de Solferino, manövriert in eine schmale Toreinfahrt, parkt im Hof einer Stadtvilla.
Im Außenministerium hat seine Karriere vor sechs Jahrzehnten begonnen. In diesem unauffälligen Gebäude nahm sie eine entscheidende Wendung. Denn hier hatte von 1947 bis 1958 Charles de Gaulle seine Arbeitsräume, zu einer Zeit also, in der sich der General in der Opposition befand und sich dann aus der Politik zurückzog – es war eine politische Durststrecke, die Zeit der Durchquerung der Wüste. Heute ist in der Villa eine Stiftung zur Erinnerung an den Staatsmann untergebracht.
Mühelos steigt der weißhaarige Mann im eleganten, hellbraunen Wollmantel die Treppe hoch in den ersten Stock. Eine Sekretärin eilt herbei, sperrt eine große Flügeltür auf. Maillard betritt ein Büro.
"Während der Durchquerung der Wüste arbeitete der General in diesem Raum, wo wir jetzt sind. Ich hatte ihn zu dieser Zeit manchmal besucht, und mit ihm sprechen können."
Pierre Maillard setzt sich bescheiden auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch. So als wolle er klar machen, wer hier der große Staatsmann war und wer nur Mitarbeiter. Dabei muss er de Gaulle beeindruckt haben. Als der General zum Staatspräsidenten gewählt worden war, ernannte er Maillard zu seinem außenpolitischen Berater. Fünf Jahre lang, bis 1964, arbeitete der Diplomat im Elysee-Palast. Es war die Zeit der deutsch-französischen Aussöhnung.
"Deutschland war für mich immer sehr wichtig. Und dieses Interesse teilte ich mit dem General, der sich gut mit Deutschland, seiner Geschichte und Kultur auskannte, seine Vorzüge pries und seine Fehler anprangerte. Nie hat er Deutschland als einen Erbfeind für die Ewigkeit betrachtet."
De Gaulle wurden lange Zeit anti-deutsche Gefühle nachgesagt. Maillard bewahrt jedoch ein anderes Bild des großen Politikers. Er greift zu einem Buch, zitiert die Reden und Schriften des Generals.
"Der General hegte schon lange den Traum einer deutsch-französischen Annäherung. Zum Beispiel in seinem Buch "Vers l´armée de métier", das er 1935 geschrieben hat… Mit einer großen Wehmut sprach er von den großen Dingen, die man zusammen tun könnte."
Nachdem der General an die Macht zurückgekehrt war, erlebte der Diplomat den Prozess der Aussöhnung hautnah mit. Im Juli 1962 begleitete er Bundeskanzler Adenauer auf seiner Frankreich-Reise. Im September fuhr er mit dem französischen Staatspräsidenten durch Deutschland. Und als de Gaulle in Ludwigsburg der deutschen Jugend zurief: "Sie sind ein großes Volk", da hatte sein Berater die Finger im Spiel.
"Bevor er nach Deutschland reiste, formulierte er seine Reden. Wir besprachen sie, ich übersetzte die Reden ins Deutsche, und dann sagte er sie mir auf, denn er lernte sie immer auswendig. Ich korrigierte seine Aussprache - das war eine noble Aufgabe. Bei dieser Gelegenheit sprachen wir viel über Deutschland."
Die deutsche Bevölkerung war begeistert und die Reise wurde zum Triumphzug. Das bestärkte den General in der Überzeugung, dass er auf dem richtigen Weg war. Am 22. Januar 1963 unterzeichneten de Gaulle und Adenauer im Elysee-Palast den Versöhnungsvertrag.
Und heute? Deutschland hat sich verändert, sagt Maillard, der Osten hat andere Traditionen. Der Ost-West-Konflikt – für Adenauer und de Gaulle ein Fundament des Vertrags - existiert nicht mehr. Dann die Globalisierung. Vielen jungen Menschen erscheine die deutsch-französische Freundschaft wohl nicht mehr so wichtig, meint der alte Mann nachdenklich. Die gemeinsamen Interessen seien aus dem Blickfeld geraten.
"Ich hoffe nur, dass der Elysee-Vertrag seine Bedeutung behält. Das war damals ein wichtiger Augenblick. Die deutsche Wiedervereinigung hat der Vertrag immerhin unbeschadet überlebt und die Kontakte sind nach wie vor sehr eng. Es gibt Ungewissheiten, aber auch solide Übereinstimmungen."
Pierre Maillard steht auf.
"Deshalb meine feste Hoffnung, dass alles ewig sein wird."
Literatur:
Joachim Klinkhammer, 11. November 1915
"Meine Lieben,
Da wird nun die Stadt beflaggt. Alles brüllt Hurra, wenn ein Sieg errungen ist. Aber was damit verbunden ist, bleibt außer acht. Daß hunderte Leichen herumliegen, in den Drahthindernissen hängen, überhaupt, wie ein Angriff zugeht, daran wird nicht gedacht. Und wer fällt, der stirbt den Heldentod. Auch ein schönes Wort, das jedoch hier keinen Anklang mehr findet. Das war einmal"!
Trotz Elyséevertrag und europäischer Partnerschaft: Europapolitisch ziehen Deutschland und Frankreich noch immer nicht an einem Strang – die Konzeptionen liegen so weit auseinander wie eh und je. Frankreich sieht sich in der Tradition einer unabhängigen europäischen Großmacht und wünscht sich ein Europa der starken Nationen. Deutschland sieht seine gesamte Nachkriegsgeschichte im Kontext der europäischen Integration und wünscht sich ein Europa der starken Institutionen.
Da kann gelegentlicher Familienkrach unter dem gemeinsamen europäischen Dach nicht ausbleiben. Und doch ist aus dem deutsch-französischen Gegensatz immer wieder ein guter europäischer Kompromiss geworden, dem sich die anderen Partner anschließen konnten.
Auch im Alltag ist der Weg beschwerlich geblieben – die Vergangenheit wirft lange Schatten und meldet sich immer wieder zurück. Das letzte Tabu wird nur langsam aufgebrochen – erst seit ein paar Jahren wagen sich die Betroffenen an die Öffentlichkeit und erzählen von ihrem Schicksal. Es sind die schätzungsweise 200.000 Kinder von deutschen Besatzungssoldaten. Unmittelbar nach Kriegsende wurden ihre französischen Mütter entweder verhöhnt, durch die Strassen getrieben, interniert. Oder sie konnten ihre Geschichte für sich behalten und schwiegen fortan. Die "enfants maudits", Frankreichs verfluchte Kinder, sind heute über 60 und begeben sich spät, aber doch, auf die Suche nach ihrer Identität.
Verheimlicht, verschwiegen, vertuscht: Das Schicksal von
Frankreichs "verfluchten Kindern"
Jeanine Nivoix steht am Herd. Mit der rechten Hand rührt sie in den Bohnen, in der linken hält sie einen Brief aus Deutschland. Eine Frau schreibt über ihren Vater. Erzählt, wie er vor dem Sterben beichtete, im Krieg ein Kind gezeugt zu haben. Als Besatzungssoldat in Frankreich. Jetzt sucht die deutsche Briefautorin ihren französischen Halbbruder.
"Fischer, der Name sagt mir was. Rudolf Fischer. Vielleicht gibt es in unserem Verein ein Mitglied, das gerade einen Fischer sucht… Dieser Brief ist sehr interessant, weil wir hier einen Vornamen, einen Nachnamen und ein Geburtsdatum haben."
Jeanine ist klein und drall, ihre Augen sind so graublau wie ihre Lurexbluse, und in den weißen Haare schimmert noch ein Rest von Blond. Die einfachen goldenen Ohrringe baumeln, während sie zwischen Kochtopf, Schreibtisch und dem kleinen Enkel jongliert. Die 65-Jährige strahlt. Immer wieder rufen bei ihr französische Kriegskinder an, die die Familien ihrer deutschen Väter suchen. Aber ein Brief von deutscher Seite – das ist ein Zeichen für sie, dass die Dinge endlich in Bewegung geraten. Sie legt den Kochlöffel hin, stützt die Hände auf den Tisch. Ihr gutmütiges Gesicht wird ernst.
"Ich muss Ihnen das erklären. Wir alle hatten große Probleme, über unsere Abstammung zu sprechen. Ich habe es fast nie verraten. Immerhin hatte eine Frau – meine Mutter - mit dem Feind geschlafen. So etwas durfte nicht passieren. Wir hatten Schuldgefühle, wir schämten uns, das Kind des Feinds zu sein. Wir mussten alt werden. Jetzt endlich wagen wir es, darüber zu sprechen."
Jeanine holt ein Foto aus der Schublade. Zu sehen ist ein junger Mann, sehr blond, mit einem offenen, sympathischen Lächeln. Das ist ihr Sohn. Der Junge, das sagte ihr eine Freundin der verstorbenen Mutter, sei ein Abbild ihres eigenen Vaters. Jeanine kann das nicht bestätigen, sie kennt den Vater nicht, hat nie ein Foto gesehen. Der Mann war 1940 und 1941 in einem Dorf in der Nähe von Caen stationiert, er hieß Werner und soll so lebensfroh gewesen sein. Mehr weiß sie nicht. Ihre Mutter arbeitete damals in einer Gaststätte, wo Werner ein- und ausging. Sie war erst 16 Jahre alt. Nach der Landung der Alliierten starb sie im Bombenhagel. Jeanine wuchs bei einer Kinderfrau auf, später nahm sie der Großvater zu sich. Er schlug und demütigte das Kind. Wer Jeanines Vater war, verriet er nicht.
"Ich habe es rein zufällig erfahren. Und mich sofort wie die Tochter eines Mörders gefühlt. Schlagartig. Das war im Jahr 1954, ich war 13 Jahre alt. Ich war völlig verstört: Bis dahin Waisenkind, und jetzt auf einmal Tochter einer ledigen Mutter und eines Verbrechers."
Ein Auto parkt vor dem dunkelroten Backsteinhaus. Jeanine öffnet die Haustür, umarmt Régine Billaret, die ihren Mann mitbringt. Platinblondes kurzes Haar, blaue Augen wie Jeanine, gleiches Alter, gleiches Schicksal. Das weiß sie aber erst seit kurzem.
"Im Februar 2005 habe ich zu meiner Mutter gesagt: gib zu, mein Vater war nicht mein leiblicher Vater. Sie sagte nein. Ich darauf: Hoffentlich war es eine schöne Liebesgeschichte. Sie sagte ja. Ich stand in der Küche und spülte. Dann habe ich mich umgedreht und gefragt: erinnerst du dich wenigstens an seinen Namen? Mama sagte nein. Ein paar Monate später gestand sie mir: er war nicht Franzose, sondern Deutscher."
Régine fand heraus, dass ihre Mutter Anfang der 40er Jahre in der Nähe von Hamburg in der Dynamit-Fabrik Krümmel gearbeitet hatte. Dass ihr Vater dort Chemiker war, und dass er Franz hieß. Die Mutter weigert sich, ihr weiterzuhelfen.
"Jahrelang durfte sie nicht darüber sprechen. Und jetzt ist es in ihr ganz tief vergraben. Ich sage ihr: ich habe doch ein Recht, zu erfahren, wer mein Vater war! Heute tut das keinem weh, mein Adoptivvater ist längst gestorben. Aber sie wiederholt immer: ich erinnere mich nicht mehr. Sie kann den Namen nicht vergessen haben! Das ist unmöglich! Oder vielleicht doch? Jetzt hat sie mir versprochen, dass sie mir sagen wird, wenn ich ihr ein Foto zeige, ob er es ist. Aber werde ich jemals ein Foto von meinem Vater haben?"
Die Frauen gehen ins Büro, ihre Männer übernehmen die Küche. Jeanine öffnet einen Packen Briefumschläge, holt Broschüren aus einem Karton. Régine tütet sie ein. "Freundschaftsverband der Kriegskinder", steht auf dem Heft.
Jeanine hat schon vor 35 Jahren begonnen, ihren Vater zu suchen, hat an unzählige Behörden geschrieben. Erst vor kurzem aber konnte sie es zulassen, dass ihre Geschichte in einem Buch über die Schicksale der Kriegskinder veröffentlicht wurde. Durch einen Zeitungsartikel wurde Regine auf Jeanine aufmerksam, rief sie dann an. Vor zwei Jahren gründeten die beiden Frauen mit weiteren Schicksalsgefährten den Verein.
"Wenn wir viel darüber sprechen, die Medien kontaktieren, in Zeitungen annoncieren… dann rütteln wir die Menschen auf. Es ist eine Riesenarbeit. Aber immerhin haben jetzt schon einige Deutsche unseren Verein entdeckt, wie diese Frau, die ihren Bruder sucht. Man muss auf das richtige Puzzleteil stoßen. Jedes Mal, wenn einer von uns seine Familie findet, frage ich mich: Und wer ist als Nächster dran?"
Literatur:
"Mon cher petit,
Tu viens d'avoir 9 ans, et cet âge charmant, le voici devenu le plus émouvant des âges ...
Mein Kleiner, Du bist gerade neun Jahre alt geworden. Dieses bezaubernde Alter ist in dieser Zeit vielleicht das bewegendste von allen . Noch zu jung, um in den Krieg zu gehen, bist Du groß genug, daß Dein Geist von den Erinnungen an ihn gezeichnet ist. Und vernünftig genug, um zu verstehen, daß Du es bist, Ihr es seid, die Kinder von neun Jahren, die später die Folgen zu ermessen und die Lehren aus diesem Krieg zu ziehen haben.
Ich werde all das bedauern, was ich nicht getan habe, all das, was ich hätte tun können; doch gleichzeitig denke ich daran, daß Du da bist, Du, mein Sohn, um mich fortzusetzen, um das zu verwirklichen, was ich nur geplant oder erträumt hatte.
... Je regretterai ce que je n'ai pas fait, tout ce que j'aurais du pouvoir faire; mais je penserai en même temps que tu est là, toi mon fils, pour me continuer, pour réaliser ce que j'avais seulement projeté ou rêvé."
Deutschland und Frankreich haben die Lehren aus ihrer gemeinsamen Geschichte gezogen – die deutsch-französische Aussöhnung gilt als Modellfall für die friedliche Lösung von Konflikten.
Das deutsche französische Jugendwerk hat mittlerweile sieben Millionen Deutsche und Franzosen betreut. Es gibt 239 deutsch-französische Gesellschaften, 1900 Städtepartnerschaften, eine deutsch-französische Brigade, eine deutsch-französische Hochschule mit Dutzenden von Partneruniversitäten in beiden Ländern, seit neuestem ein gemeinsames Schulbuch für Geschichte – und trotz allem die Befürchtung, dass das gemeinsame Projekt Ermüdungserscheinungen zeigt. Abzulesen ist das auch an der weiter sinkenden Zahl der Schüler, die Deutsch oder Französisch lernen.
Vor allem das private deutsche Kulturinstitut Heidelberg-Haus in Montpellier ergriff in Frankreich die Initiative: Weil es nicht auf neue staatliche Förderprogramme warten wollte, schickte es 2001 das Deutsch-Mobil auf die Straße. Seither fahren junge deutsche Lektoren mit einem Kleinbus durch ganz Frankreich, um französischen Schülern die deutsche Sprache und Kultur näher zu bringen. So erfolgreich, dass es in Deutschland mittlerweile ein France-Mobil gibt.
Botschafter der Sprachförderung: Mit dem Deutsch-Mobil in
Frankreich unterwegs
Diesmal geht die Fahrt übers Land. Vorbei an Rübenfeldern und Hochspannungsmasten steuert Annette Gramß den weißen Mini-Bus nach Saint Mard, 50 Kilometer nördlich von Paris. "Deutschmobil" steht kreuz und quer auf der Karosserie.
Annette hat lange braune Haare und eine eckige dunkle Brille, den grob gestrickten roten Wollschal trägt sie mehrfach um den Hals gewickelt. Die 29-Jährige arbeitet als Botschafterin für die Fremdsprache Deutsch.
Der Weg zur Gesamtschule "Georges Brassens" ist schlecht ausgeschildert. Vor dem Schultor steht ein Mann in hellgrauem Anorak und winkt mit beiden Armen. Schon vor zwei Jahren hat Siegfried Pollert beschlossen, das Deutschmobil zu bestellen. Doch in der Region Ile-de-France gibt es nur eine Sprachbotschafterin, und die ist überaus begehrt. Deshalb musste der Deutschlehrer lange warten. Auf dem Weg ins Klassenzimmer erkundigt sich Annette nach der Schule.
"Etwa 530 Schüler haben wir hier. Davon haben wir im Schnitt so knappe 20, die Deutsch anfangen. Die fangen alle gleichzeitig Deutsch und Englisch an.
- Und ist das auch das Problem, dass sie für die 2. Sprache nicht mehr so viele rekrutieren können?
- Richtig. Wir hatten dieses Jahr zum ersten Mal keine Deutschklasse für Deutsch als zweite Fremdsprache.
- Gar keine!"
Im sechsten Schuljahr gleichzeitig mit Englisch und Deutsch beginnen – das ist ein neuer Trick in Frankreich, um überhaupt noch genügend Schüler für Deutsch zusammen zu bekommen. Im Collège von Saint Mard wählen jedes Jahr rund 20 Schüler diese Option. Alle anderen fangen nur mit Englisch an.
28 Jugendliche strömen in den Raum, eine siebte Klasse. Vor dem Sommer müssen sich die 12- und 13-Jährigen für die zweite Fremdsprache entscheiden, zur Auswahl stehen Deutsch und Spanisch. Annette will ihnen Lust auf Deutsch machen.
"Hallo, guten Tag. Mein Name ist Annette. Ich komme aus Deutschland. Ich habe hier eine Karte von Deutschland, aber sie ist kaputt. Wir werden sie reparieren."
Annette hat die Landkarte in Puzzleteile zerschnitten, die sie jetzt verteilt. Außerdem Karten mit deutschen Vokabeln, alle leicht verständlich, weil sie dem Englischen oder Französischen gleichen. Sie erzählt, dass sie aus Jena kommt, im Zentrum Deutschlands, dass dort ihre Mutter und ihr Vater leben. Sobald ein Schüler sein deutsches Wort in ihrer Rede hört, soll er die Karte hoch halten.
Im Hintergrund steht Isabelle Ugelle und schaut zu. Sie ist Deutschlehrerin in einem Nachbardorf. Eine ihrer Klassen besteht aus nur drei Schülern.
"Unser großes Problem ist die Wahl der zweiten Fremdsprache in der 8. Klasse. Wenn die Schüler erst einmal im Collège sind, dann folgen sie dem Herdentrieb und nehmen Spanisch, wie alle anderen. … Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, um sie für Deutsch zu begeistern. Wir Deutschlehrer haben das Gefühl, dass wir mit unserem Fach hausieren gehen."
Deutsch gilt als schwierig, sagt Madame Ugelle. Und hat zudem ein schlechtes Image, meint Siegfried Pollert.
"Ich habe letzten Sommer in einer Grundschule gesehen, was sie an Büchern haben über Deutschland. Da waren in der Bibliothek – wie fast an allen Schulen – fünf, sechs Bücher über Deutschland, immer nur Literatur über 1933/45. Immer ist Anne Frank dabei, mon ami Frédéric, dann noch zwei, drei unterschiedliche. Ist ja auch in Ordnung, aber es ist nur das da."
Den Schülern fällt zu Deutschland erstmal gar nichts ein. Nach langer Pause sagt Louis: Die Berliner Mauer. Cédric denkt an Hitler und den Krieg. Da ist es kalt, sagt Jerôme. Aurelien gefällt die Musik von Ramstein und Tokio Hotel. Und Mathilde:
"Ich mag Deutschland, weil ich die deutsche Fernsehserie "Verliebt in Berlin" anschaue. Das scheint ein tolles Land zu sein. Aber Deutsch lernen ist mir zu schwer. Das könnte meine Noten herunter ziehen."
Annette legt CDs von Gruppen auf, die die Schüler noch nicht kennen, fragt, ob sie sich deutsche Musik so vorgestellt hätten.
Eine Junge meldet sich: er dachte bisher, deutsche Sänger würden schreien.
Die Stunde ist zu Ende. Die Schüler packen zusammen. Annette erwartet eine neue Gruppe. Fünf Klassen will sie heute überzeugen, dass Deutschland anders ist, als sie sich das vielleicht vorstellen.
Literatur: Auszüge aus der CD "Feldpostbriefe – Lettres de poilus", Deutschlandfunk, 1998