Archiv

Erwin Einzinger
Fabelhaft komische Poesie

Die Gedichte in Erwin Einzingers neuem Band "Barfuß ins Kino" sind nur von vermeintlicher Schlichtheit. Seine Poesie ist zauberhaft verschmitzt und mitunter zart kalauernd. Aus Nebensächlichkeiten des Alltags macht er Gedichte über das Leben.

Von Wiebke Porombka |
    Rosa Rollkoffer mit Stoffpinguin am 03.10.2013 vor dem Reichstagsgebäude
    Erwin Einzinger liest auf, was ihm am Wegesrand begegnet - und schafft daraus Gedichte von vermeintlicher Schlichtheit. ( picture alliance / Wolfram Steinberg)
    Eine der schönsten, weil philosophischsten Episoden aus Astrid Lindgrens Kinderbuch-Klassiker Pippi Langstrumpf ist jener Ausflug, auf dem die kleine Anarchistin Pippi ihren beiden spießbürgerlichen Freunden Tommi und Annika die hohe Kunst des Sachensuchens erklärt. All das, was andere weggeworfen, verloren oder unbeachtet am Wegesrand haben liegen lassen - eine Schraube, eine tote Maus oder ein verrosteter Eimer etwa - ist für den Sachensucher eine Trouvaille, ein kleiner Schatz, der fortan sorgsam gehütet oder nach Belieben umfunktioniert wird.
    Ebenfalls eine Art Sachensucher, einer, der den Blick auf Menschen, kleine Szenen, scheinbar unbedeutende Episoden aus dem Alltag lenkt, ist Erwin Einzinger. Mehr noch als dass er wirklich sucht, hat man bei Einzingers ebenso zurückhaltenden wie zauberhaft verschmitzten, mitunter zart kalauernden Gedichten den Eindruck: Hier muss einer gar nicht angestrengt suchen, hier liest einer nur das auf, was ihm zufällig begegnet: Eine junge Frau, die auf dem Parkplatz eines leer stehenden Möbelhauses unter den unwilligen Augen ihres Vaters Autofahren übt; ein Lied über einen hübschen kleinen Konditoreiserviererinnenbusen oder einen Wettbewerb im Blechdosenwerfen.
    In vermeintlicher Schlichtheit liegt Stärke
    "Barfuß ins Kino" - der Titel von Einzingers jüngstem Band kann dabei gleichsam als ein kleines Programm verstanden werden: Viel zu begucken gibt es hier allemal, allein: Mit poetischem Handwerkszeug muss nicht geklingelt werden. Der Dichter kommt auf bloßen Sohlen. Aber gerade in ihrer vermeintlichen Schlichtheit liegt die Stärke von Einzingers Gedichten.
    "Der Mechaniker aus einem Vorort von Ingolstadt, in dessen
    Werkstätte überall sogenannte Arsch-&-Titten-Kalender hingen, er=
    Zählte von einer Geiß, die vor nächtlichen Unwettern stets
    In einer Hundehütte Zuflucht suchte. Was er verschwieg: Am Welt=
    Nichtrauchertag wäre er beinahe in einen Karpfen=
    Teich gefallen, als er junge Finken beim Trinken beobachtete.
    Peterle, der staunend zugesehen hatte, wie seine Schwester eine
    Seerosenblüte aus dem Wasser fischte & anfing, sie
    In aller Ruhe schmatzend zu verspeisen, wobei ihm der Saft
    Über Lippen & Kinn tropfte, schrieb tags darauf
    Als ersten Satz in sein neues Hausaufgabenübungsheft: "Mein Onkel wohnt
    In einer Filzgarage." Nachts schlug auch er im Traum öfters um sich."
    Wer außer Peterle nachts um sich schlägt, auf wen sich dieses "auch" bezieht, das bleibt offen. Genauso wie all jenes unerwähnt bleibt, was der Mechaniker aus Ingolstadt neben seinem Beinahe-Fall in den Karpfenteich noch hätte erzählen können.
    Wenn jemand, wie Erwin Einziger, aufliest, was ihm am Wegesrand begegnet, dann weiß er natürlich auch von dem ganzen unendlichen Rest, der geschieht, gedacht, gesagt wird, ohne dass er entdeckt und festgehalten wird: in einem Gedicht beispielsweise. Anfang und Ende eines solchen Gedichts sind deshalb der Willkür des Sammlers geschuldet, mitunter ergeben sie sich auch wie natürlich durch das Geschehen selbst. So schließt sich an die Szenen über den Ingolstädter Mechaniker und Peterle samt seiner seerosenblütenfischenden Schwester eine Szene an, deren müde Gestalten sanft zu entschlummern scheinen und auf diese Weise auch das Gedicht sein Ende finden lassen.
    "Es war dann eine unscheinbare Kaffeehausecke in einer
    Bäckerei in der Innenstadt, wo in der frühen Morgendämmerung
    Mehrere übernächtigt wirkende Heimkehrer aus
    Gottes dunklen Alleen beisammen saßen, sich die Augen rieben
    & gähnten, bis sie kapierten, daß ihre am Abend zuvor
    An einem Flohmarkt begonnene Wanderung nun wohl zu Ende war."
    Große Gedanken hinter Miniaturen
    Kleine Schätze sind allein schon die Titel von Einzingers Gedichten. Arglos kommen sie daher und sind doch von grandioser Komik, gerade da, wo ihr Bezug zu dem Gedicht dem Leser verborgen bleibt und sie gleichsam als Schnipsel universeller Kontingenz über einem Gedicht zu stehen scheinen, das ja von eben jener erzählt.
    "Elektrische Nächte mit einem Beigeschmack von Kokosnuss" heißt das eben zitierte. Daneben gibt es den "Marmeladenmonolog", "Wo die Weltkarte die Farbe von zartem Blattspinat zeigt" oder auch "Weiße Dosen aus Athen", "Ein Knirschen, wie wenn jemand ein Hustenzuckerl zertritt" oder "Wer stiehlt, sucht das Abenteuer (oder vielleicht auch bloß frische Servietten?)".
    Witz wird in Einzingers Gedichten permanent dadurch produziert, dass hier das eigentlich Unverbundene, das Nicht-Passende verbunden oder doch zumindest dicht nebeneinander gerückt wird.
    Zweifelsohne lässt sich viel darüber spekulieren, welche großen Gedanken hinter Einzingers Miniaturen stecken: Über die Welt, die sich nicht erfassen lässt in ihrer Mannigfaltigkeit, über die Synchronizität aller Ereignisse und Gedanken, der verschiedenen wie auch der erstaunlicherweise sich ähnelnden.
    Vermutlich würde Einzinger jetzt erwidern: Zusammenhang stiften? Mitnichten. Wenn der Leser das tut - bitte sehr. Der Autor steht scheinbar ganz unschuldig da und pickt hier ein Stücken Gegenwart, dort ein Fitzelchen Nebensächlichkeit auf, um es zu seinen kleinen-großen Gedichten über das Leben zusammenzunähen.
    Charmant, fabelhaft komisch, philosophisch
    Nur hin und wieder flicht Einzinger eine ironiefreie Deutung seines Schaffens ein. Wie in dem Gedicht über den Besuch bei einer spanischen Landarbeiterfamilie, deren Mitglieder ungerührt von ihren Gästen den nebensächlichsten Beschäftigungen nachgehen. Die Gäste wiederum sind nur kurz irritiert.
    "Schon nach kurzer Zeit ver=
    Selbständigt sich das Zusammenspiel der Momente auf eine
    Weise, die tiefes Verständnis für das insgeheim
    Beruhigende verrät, das manchmal im Beiläufigen steckt."
    Das letzte Gedicht in diesem Band trägt den Titel "Müde nach all den Kämpfen auf Nebenschauplätzen" - und plötzlich meint man doch einen Hauch von Melancholie zu spüren.
    "Inmitten eines Haufens von altem Gerümpel sitzen oder stunden=
    Lang Fallobst sortieren: Wer würde sich an derlei Dingen allen
    Ernstes ergötzen?"
    Wer nicht ohnehin schon längst der charmanten, fabelhaft komischen, philosophischen Poesie von Erwin Einzinger erlegen ist, wird spätestens nach der Lektüre von "Barfuß ins Kino" - allen Ernstes - mit einer Antwort nicht zögern.
    Erwin Einzinger: Barfuß ins Kino. Gedichte. Jung und Jung, Salzburg 2013. 144 Seiten, gebunden, 22 Euro.