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EU-Kommission bestraft Ungarn
"Die EVP muss sich überlegen, auf welcher Seite sie steht"

Das Vertragsverletzungsverfahren, das die EU-Kommission gegen Ungarn wegen des umstrittenen Hochschulgesetzes eingeleitet habe, reiche nicht aus, sagte die EU-Parlamentarierin Ska Keller im DLF. Ungarn verstoße auch in anderen Fragen gegen EU-Grundwerte. Die Europäische Volkspartei (EVP) dürfe nicht länger schützend ihre Hand über Orbáns Partei Fidesz legen.

Ska Keller im Gespräch mit Ute Meyer |
    Die Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament, Ska Keller.
    Die CDU lege auf europäischer Ebene schützend die Hand über Orbáns Fidesz, kritisierte EU-Parlamentarierin Ska Keller im DLF. Damit mache sich die EU auch insgesamt unglaubwürdig, so Keller. (imago / Rüdiger Wölk )
    Ute Meyer: Gegen Ungarn ist ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet worden und darüber spreche ich mit Ska Keller, Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament. Frau Keller, ein Vertragsverletzungsverfahren, also ein Blauer Brief aus Brüssel, ist das jetzt eine gute Sache?
    Ska Keller: Das ist auf jeden Fall eine gute Sache. Dieses Vertragsverletzungsverfahren ist wirklich dringend notwendig. Aber man darf nicht vergessen, es ist auch nicht das erste Verfahren dieser Art, das die Kommission eingeleitet hat. Die Bisherigen, die haben aber zu nichts geführt. Das ist sehr schade, weil ein Vertragsverletzungsverfahren sagt ganz klar, Ungarn verstößt gegen europäisches Recht und muss daran jetzt was ändern.
    "Die Kommission muss ihre Vertragsverletzungsverfahren ernster nehmen"
    Meyer: Die DPA zählt bereits 87 Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn seit 2012, unter anderem wegen des umstrittenen Umbaus des Staates, wegen eines umstrittenen Bankengesetzes, wegen Repressalien gegen Medien und Minderheiten. Gebracht hat, wie Sie sagen, bisher noch keines wirklich etwas. Warum soll dieses nun etwas bringen?
    Keller: Ich glaube, insgesamt muss die Kommission ihre Vertragsverletzungsverfahren ernster nehmen und daran arbeiten, dass es auch zu einem Abschluss kommt. Aber ich glaube, allein mit Vertragsverletzungsverfahren kommen wir bei Ungarn auch nicht weiter. Wir müssen darüber hinausgehen zu sagen, Ungarn verstößt gegen einzelne Gesetze, was es tut, und das muss man auch weiterhin sagen. Aber Ungarn verstößt mit diesen Gesetzen auch gegen Grundwerte der Europäischen Union, und dafür gibt es auch noch ein anderes Verfahren und das bezieht sich auf die Grundrechte der Europäischen Union. Das ist ein kompliziertes Verfahren natürlich mit viel Hin und Her, vielen Briefen hin und her. Das kann dann aber im Fall der Fälle sogar zum Stimmrechtsentzug im Rat führen. Das hat wirklich auch ein scharfes Schwert.
    CDU lege auf europäischer Ebene schützend die Hand über Orbáns Fidesz
    Meyer: So ein Verfahren läuft zurzeit gegen Polen. Richtig?
    Keller: Genau! Bei Polen ist die Vorstufe dazu unterwegs. Da gibt es verschiedene Stufen dazu. Es ist auch wichtig, dass man die einhält. Aber es fällt uns ja auch schon auf, dass es bei Polen dieses Verfahren gibt, aber bei Ungarn nicht.
    Meyer: Und warum nicht?
    Keller: Die Partei von Orbán ist Teil der Europäischen Volkspartei, der CDU auf der europäischen Ebene, und die CDU auf europäischer Ebene legt bis jetzt schützend ihre Hand über Fidesz, über die Partei von Orbán.
    "Wir machen uns auch insgesamt unglaubwürdig"
    Meyer: Es gibt diesen Vorwurf, dass Orbán in der EU eigentlich immer milde davon kommt, weil auch die Fidesz-Partei von Orbán viel Einfluss im Europaparlament hat. Diese These unterstützen Sie?
    "Die EVP muss sich wirklich überlegen, auf welcher Seite sie steht"
    Keller: Auf jeden Fall. Das haben wir auch heute wieder im Europäischen Parlament in der Debatte gesehen. Wenn da der Chef der größten Fraktion, Herr Weber, Orbán derartig unterstützt, sogar sein NGO-Gesetz, was Orbán direkt von Putin abgeschrieben hat, dann ist es klar, dass wir uns auch insgesamt unglaubwürdig machen. Gegen Polen gehen wir vor aus guten Gründen, aber bei Ungarn sagen wir nichts. Ich denke, das muss sich ganz, ganz dringend ändern. Da muss die Europäische Volkspartei auch wirklich überlegen, auf welcher Seite sie eigentlich stehen will.
    "Es geht um die Grundwerte der Europäischen Union"
    Meyer: SPD und Grüne fordern die EVP-Fraktion, bei der auch die Fidesz-Leute Mitglied sind, auf, die Fidesz-Abgeordneten auszuschließen. Was aber erhoffen Sie sich davon?
    Keller: Ein ganz klares Signal, dass es so nicht weitergehen kann und dass sich Orbán jenseits von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stellt. Weil hier geht es ja nicht um kleine Vergehen, dass man ein Gesetz anders macht, als es eigentlich sein sollte; hier geht es um wirklich grundsätzliche Sachen. Hier geht es darum, dass Asylbewerber eingesperrt werden, dass NGO’s an ihrer Arbeit gehindert werden, dass Universitäten dichtgemacht werden, Presse- und Meinungsfreiheit. Um all diese Sachen geht es. Das ist nicht nur Klein-Klein, welche Richtlinie ist wie umgesetzt worden, sondern da geht es wirklich ans Eingemachte. Da geht es um die Grundwerte der Europäischen Union.
    Meyer: Aber ist es nicht ein Armutszeugnis für die innerparlamentarische Demokratie des Europaparlaments, wenn Sie fordern, diese Abgeordneten auszuschließen? Kann man nicht in der Debatte diese Abgeordneten bekämpfen?
    Keller: Sie werden ja nicht aus dem Parlament ausgeschlossen, sondern sie sollten meiner Meinung nach, unserer Meinung nach, aus der Europäischen Volkspartei ausgeschlossen werden, weil damit würde die größte Fraktion im Europäischen Parlament ganz klar sagen, Nein, diese Position ist nicht unsere. Momentan schützen sie diese Partei, schützen sie Orbán, und das sollte nicht stattfinden. Natürlich sind diese Abgeordneten dann nach wie vor Mitglied des Europäischen Parlaments und können ihre Meinung dort kundtun, gar keine Frage und wir müssen sie natürlich politisch bekämpfen. Aber ich denke schon, dass sich die CDU überlegen will, mit wem will sie eigentlich zusammenarbeiten auf der europäischen Ebene. Es gibt ja auch immer viel Kritik, auch in Deutschland an Orbán. Gleichzeitig wird er eingeladen von Seehofer, gleichzeitig schweigt Merkel bei den Gipfeln, und da, glaube ich, müsste sich die CDU wirklich überlegen, wie will sie damit umgehen. Sie sagt ja immer von sich, sie will für die europäischen Grundwerte kämpfen, aber ganz praktisch tut sie das dann nicht.
    Gegen Ungarn das "sogenannte Artikel-VII-Verfahren einzuleiten"
    Meyer: Orbán ist heute persönlich vor dem Europaparlament aufgetreten, hat seine Sache verteidigt. Innerhalb eines Monats soll die ungarische Regierung auf das Verfahren noch mal reagieren. Was erwarten Sie jetzt von Orbán, was wird er tun?
    Keller: Es war schon mal ein gutes Zeichen, dass er gekommen ist, auf jeden Fall. Allerdings das, was er gesagt hat, hat mich nicht überzeugt, denn das war alles so, was regt ihr euch auf, das ist überhaupt nicht so schlimm und wir tun nur das Beste, und er hat überhaupt keine Kritik eingesehen. Er hat nicht gesagt, da müssen wir noch mal was überdenken, oder ja, das nehme ich zur Kenntnis – überhaupt nicht. Deswegen erhoffe ich mir nicht allzu viele Änderungen in der Zukunft. Er wird weitermachen mit seinem Kurs und deswegen braucht es eine klare Ansage auch von der Kommission, die Vertragsverletzungsverfahren, die es gibt, zu verfolgen, da richtig hinterher zu sein, aber auch dieses Grundrechteverfahren, das sogenannte Artikel-VII-Verfahren einzuleiten und damit dann wirklich auch an die Substanz zu gehen.
    Meyer: Gerade in Bezug auf die Türkei wird in der EU gerne mit den europäischen Werten argumentiert, dass die Türkei wegen der Verstöße gegen diese Werte nicht reingehört. Wie rechtfertigen wir es dann, dass es innerhalb der EU massive Verstöße gibt und das bleibt jahrelang ohne Konsequenz?
    Keller: Genau das ist ein Problem, dass man bei Beitrittsstaaten immer ganz genau hinguckt, wenn ein Land noch nicht dabei ist, aber sobald es dann beigetreten ist, dann gibt es wenige wirklich scharfe Instrumente vorzugehen, wenn es wirklich Grundrechts- und Grundwerte-Verstöße gibt. Das Artikel-VII-Verfahren ist da das Einzige, was man dann letztendlich nutzen kann. Aber es ist wirklich wichtig, dass man nicht nur bei anderen Ländern darauf guckt, was ist bei denen die Menschenrechtssituation, sondern auch bei den eigenen Ländern, weil darauf baut die Glaubwürdigkeit auch auf. Nur damit, wenn man selber kohärent ist, intern glaubwürdig ist, nur dann hat man auch die Glaubwürdigkeit nach außen – auf jeden Fall.
    Meyer: Ska Keller war das, die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament. Das Interview habe ich vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.