Das kleine Café Karsmakers in der Brüsseler Rue de Trèves könnte man glatt übersehen, zu sehr dominiert dort das gigantische EU-Abgeordnetenhaus. In dem Hinterhof drängen sich Eurokraten in schicken Anzügen an den kleinen Holztischen, Weinpflanzen wuchern über ihren Köpfen und spenden Schatten. Auch Julia Reda trägt heute Hosenanzug, klassisch grau, mit roter Bluse. Ihr Bild von Brüssel will so gar nicht zu dieser Szenerie passen: "Ich find' Brüssel total faszinierend. Also ich bin in Neukölln groß geworden, und das ist teilweise von der Atmosphäre ganz ähnlich. Es ist sehr international und auch so ein bisschen dreckig manchmal. Und das find' ich eigentlich ganz nett."
Ganz neu ist die Stadt für Reda nicht, drei Monate hat sie bei der schwedischen Piratin Amelia Andersdotter ein Praktikum gemacht. Jetzt, wo sie selbst für die Piraten ins Parlament eingezogen ist, wird sich dennoch einiges ändern. Zwar kennt Reda einige Abgeordnete und NGO-Vertreter durch ihre Zeit in Brüssel, "aber das Verhältnis ist jetzt doch natürlich ein ganz anderes als vorher. Weil vorher war man eben so befreundet, und jetzt sind die aber eben auch entweder Vertreter einer anderen Partei oder Lobbyisten, mit denen ich zu tun habe. Und dann muss ich wahrscheinlich auch ein Stück weit anders mit denen umgehen. Ich hab das Glück, dass ich auch außerhalb jetzt so dieser Brüssel-Bubble ein paar Leute kennen gelernt habe, in den Hacker-Spaces hier in Brüssel. Und dann hab ich auch die Möglichkeit, mal Leute zu treffen, die nicht unbedingt politisch was von mir wollen."
Einzige Piratin Europas
Freunde aus dem Hacker-Space - also Treffpunkte für Computerhacker und Programmierer - ein solcher Bekanntenkreis hat im EU-Parlament sicher Seltenheitswert. Genau wie Redas Parteibuch: Denn die Schweden sind bei der Wahl nicht wieder eingezogen, und auch aus keinem anderen Land hat es ein Pirat geschafft. Damit ist Julia Reda die einzige Vertreterin ihrer Partei - für ganz Europa: "Das ist jetzt natürlich schwierig, weil das auf der einen Seite wirklich eine riesige Verantwortung ist. Auf der anderen Seite liegt da glaub ich auch eine Chance: Viele neue Piratenparteien, die jetzt zum ersten Mal überhaupt zu einer Wahl angetreten sind, die gehen jetzt auf mich zu und sehen mich als ihre Vertreterin, und ich will auch im Laufe der nächsten fünf Jahre dann Online-Beteiligungsmöglichkeiten aufbauen, die auch von allen europäischen Piraten genutzt werden können."
Um ihre politischen Ziele zu erreichen, hat sich Reda im Europäischen Parlament der Fraktion der Grünen/EFA angeschlossen. In der letzten Legislaturperiode bestand die aus 21 Parteien. Zwar ist die Fraktionsbildung noch nicht abgeschlossen, aber auch dieses Mal sieht es danach aus, als würden sich hier wieder Vertreter vieler kleinerer linker Parteien sammeln. Aus dieser Menge will sich Reda durch die Arbeit in den Ausschüssen Recht und Binnenmarkt hervortun. Vor allem um ein neues Urheberrecht wird es ihr gehen. Bei der Fraktionssitzung am Nachmittag will sie sich außerdem für den Fraktionsvorstand bewerben. Vorher stehen allerdings noch einige bürokratische Gänge an. Als erstes steht die Zugangskarte auf der To-Do-Liste. Reda besitzt zwar eine, damit lassen sich aber keine Türen öffnen: Der Chip ist kaputt. Die Lösung des Problems liegt hoffentlich einmal quer durch eine der riesigen Gebäudehälften und eine Wendeltreppe hinab. Oder? "Also hier war das irgendwie... ehm. Vielleicht war's noch eine Etage weiter unten." Ja, da ist es. Reda scheint nicht die einzige mit dem Problem zu sein, hier drängeln sich noch mehr Abgeordnete und ihre Medien-Entourage vor einer Absperrung mit Sicherheitspersonal: "Kein Press hier drinnen." Und so verschwindet Reda kurzerhand in der Masse der anderen, chiplosen Abgeordneten, nur um eine Minute später wieder aufzutauchen: "Ja, also hier ist es jetzt völlig überlaufen, und dann mach ich das lieber irgendwann abends, wenn's ruhiger ist. Die sind noch den ganzen Monat hier und ja, die lassen mich ja auch so rein."
Verlaufen im Parlament
Also ins Büro, auch auf diesem Weg kann man sich nochmal verlaufen. Reda: "Ah, jetzt sind wir glaub ich...sorry. Immer so ein bisschen auf Autopilot hier. Gerade ins falsche Gebäude rüber gelaufen. Wenn man nicht drüber nachdenkt, wo man hin geht, hat man sich schnell verfranst." Jetzt ist der Weg aber klar, zielsicher steuert Reda durch die verworrenen Gänge, zum Büro ihrer schwedischen Parteifreundin Andersdotter. Ein eigenes bekommt sie erst im Juli. In dem etwa 15 Quadratmeter großen Raum stehen vier Schreibtische, Kisten voll mit Aktenordnern stapeln sich auf dem Rest der Fläche, nur eine kleine Schneise zur Tür ist frei. Das ganze Parlament ist im Umzugs-Modus, konstruktives Arbeiten hin oder her. Um ihre Mails zu lesen und die Bewerbung für den Fraktionsvorsitz noch schnell abzuschicken, reicht Reda der kleine Schreibtisch in der vorderen Zimmerecke.
Drei Stockwerke runter, durch die große Halle von E nach G und noch einmal zwei Stockwerke runter - das ist die schnellste Route zum Saal A1G3, dem Sitzungssaal der Grünen. Am Ende wird Reda es nicht mehr schaffen, sich noch offiziell der Fraktion als Kandidatin vorzustellen - zu lang und kontrovers wird über die Aufnahme der Fünf-Sterne-Bewegung aus Italien diskutiert. Und gegen Rebecca Harms von den Grünen rechnet sie sich sowieso wenig Chancen aus. Trotzdem, netzwerken muss sein, und so steht nach dem langen Arbeitstag noch eine Feier auf dem Programm: "Also heute Abend ist noch ein Empfang der Fraktion, und gerade jetzt, wo ich viele noch nicht kenne von meinen neuen Kolleginnen, ist das sicherlich nicht schlecht, wenn ich da auch mal auftauche."
Offensichtlich ein lohnender Abstecher: Am nächsten Tag bestätigt die Fraktion zwar Harms im Amt der Vorsitzenden. Für Julia Reda ist aber immerhin ein Vize-Posten drin. Auch ohne elektronische Zugangskarte ist sie jetzt richtig in der Fraktion angekommen.