Drei Milliarden Euro, außerdem sieht man großzügig über das repressive Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Kurden hinweg – das ist der Preis, den Europa offenbar zu zahlen bereit ist, damit die türkische Regierung der EU die Flüchtlinge vom Leibe hält. Doch in Berlin werden die Forderungen lauter, Waffenlieferungen an die Türkei zu stoppen.
Die bisherige Syrien-Politik des Westens ist gescheitert
Für den Friedensforscher Jochen Hippler stellt sich die Angelegenheit als zwiespältig dar: Europa komme Erdogan stärker entgegen, als es "wahrscheinlich bezogen auf Syrien, Irak und bezogen auf die Kurden-Frage sinnvoll wäre", räumt er ein.
Gleichzeitig gibt Hippler zu bedenken, dass die westliche Syrienpolitik der letztlichen vier Jahre gescheitert sei, die lediglich auf den Sturz Assads gezielt habe, ohne einen Plan, was danach kommen solle. Deswegen müsse man jetzt umsteuern. Insofern handele es sich bei der gegenwärtigen Politik um eine "Mischung von politischem, sagen wir mal, Opportunismus einerseits und den Versuchen, nach dem Scheitern der eigenen Politik jetzt was Neues aufzubauen".
Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Auch die Türkei ist mit Millionen Flüchtlingen konfrontiert. Viele bleiben in den dortigen Notunterkünften, ziehen nicht weiter nach Europa. Die Regierung in Ankara fordert denn auch mehr Geld aus Brüssel, um die Notlager besser auszustatten, und die Europäische Union hat bereits signalisiert, mit drei Milliarden Euro aufzuwarten in den kommenden Jahren. Nahezu verstummt ist die Kritik der Europäer am militärischen Vorgehen der türkischen Regierung gegen die Kurden, auch gegen Kurden, die wiederum gegen den IS kämpfen. In Berlin wird jetzt immer heftiger darüber gestritten, ob Waffenlieferungen an den Bosporus nicht gestoppt werden müssen.
Die Türkei, die Waffenlieferungen und der Kampf Ankaras gegen die Kurden: Am Telefon ist nun Konfliktforscher und Nahost-Kenner Jochen Hippler. Guten Tag.
Jochen Hippler: Guten Tag, Herr Müller.
Eine repressive türkische Politik, ja - aber Staatsterror?
Müller: Herr Hippler, unterstützen wir Staatsterror?
Hippler: Das ist ein bisschen sehr pointiert formuliert. Aber es gibt tatsächlich eine Situation, in der wir jetzt aus innenpolitischen Gründen, aus flüchtlingspolitischen Gründen der türkischen Regierung Erdogan stärker entgegenkommen, als das wahrscheinlich bezogen auf Syrien, Irak und bezogen auf die Kurden-Frage sinnvoll wäre.
Müller: Ist das jetzt ein Jein auf die Frage?
Hippler: Ja, das ist ein Jein. Wissen Sie, ich bin so ein bisschen zögerlich, dass man Regierungen mit dem Etikett Terrorismus oder Staatsterrorismus versieht. Der Terrorismusbegriff ist mir einfach ein bisschen zu ausgedehnt. Es gibt repressive Politik der türkischen Regierung, das ist gar keine Frage. Es gibt eine sehr starke Verschärfung der Konflikte im Kurden-Gebiet, das ist gar keine Frage. Ich würde mich nur gerne der Frage entziehen wollen, ob das jetzt bestimmte Begriffe abdeckt.
Luftangriffe gegen Kurden sind sowohl wahltaktisch motiviert als auch außenpolitisch
Müller: Ich frage noch mal nach. Luftangriffe gegen Kurden, wie auch immer begründet, ist das "nur" repressiv?
Hippler: Nein. Das ist eine Gefährdung der türkischen Stabilität. Das ist brutal gegen teilweise auch zivile Teile der eigenen Bevölkerung. Insofern gibt es genug Leute, die den Begriff dann auch verwenden würden. Das ist keine Frage.
Müller: Warum macht die politische Führung in Ankara das?
Hippler: Mein Eindruck war, dass es anfing, als man bei der Parlamentswahl merkte, dass die kurdische Partei tatsächlich bei der ersten Parlamentswahl einen erstaunlichen Erfolg gewonnen hatte, dass diese Versuche von Herrn Erdogan, das politische System zu einem Präsidialsystem unter seiner Führung umzubauen, damit gescheitert waren, dass es dann aus taktischen innenpolitischen Gründen ihm klug schien, die Konflikte mit den Kurden zu eskalieren, um selber als einer der Pole, der die Stabilität verkörpern würde, wahrgenommen zu werden in den Neuwahlen.
Angst vor einer kurdischen Autonomiezone in Syrien
Und zweitens ist seine Sorge natürlich, dass jetzt auch in Syrien eine kurdische Autonomiezone entstehen könnte, die PKK-nah ist und die dann Rückwirkungen auf das eigene Staatsgebiet hat. Insofern glaube ich, dass es überwiegend innenpolitischer Opportunismus gewesen ist, wo man die innere Stabilität opfert für die eigenen Wahlaussichten, und zweitens einen außenpolitischen Aspekt hatte.
Müller: Wenn es darum geht, Innen- und Außenpolitik miteinander zu verschmelzen oder gegeneinander auszuspielen, das erinnert ja viele, die sich mit Geschichte allgemein beschäftigen, daran, dass es ja oft diesen Konnex gegeben hat, innenpolitische Probleme, innenpolitischer Druck, außenpolitisch ablenken. Das war unter Bismarck auch in vielen Fällen schon der Fall. Brauchen wir uns heutzutage da gar nichts vorzumachen, diese Mechanismen funktionieren immer noch?
Hippler: Na ja, in diesem Fall ist es tatsächlich so innenpolitisch getrieben worden. Das heißt, Erdogan hat seit 2002 eigentlich eine lange Zeit eine relativ erfolgreiche Politik gemacht, erst auch eine Politik der Öffnung, der Zivilisierung der türkischen Politik.
Sultan Erdogans Vabanquespiel
Dann hat er irgendwann wohl offensichtlich das Gefühl bekommen, so eine Art neuer Sultan werden zu wollen, und hat sich repressiv bemüht, die gesamte türkische Politik ihm selbst unterzuordnen, und diesem innenpolitischen Transformationsprozess hat er dann tatsächlich auch die Politik gegenüber Syrien, die Politik gegen die Kurden untergeordnet. Das ist schon sehr destruktiv. Das ist eben nicht nur die Nutzung außenpolitischer Möglichkeiten. Das ist auch ein riskantes Vabanque-Spiel, die Zukunft der Türkei damit zu riskieren. Das ist sicher nicht gut gewesen.
Müller: Und ist das beschämend, dass wir, dass der Westen das toleriert?
Hippler: Na ja, das ist sicher so, weil wir jetzt glauben, Vorteile zu haben in der Flüchtlingspolitik. Eine Zeit lang haben wir die Türkei auf Distanz gehalten, selbst als sie noch nicht diese repressive Politik gefahren hat, sondern eher noch menschenrechtsfördernd gewesen ist in den frühen und Mitte der 2000er-Jahre. Da hat man sie nicht in die EU lassen wollen aus taktischen Gründen, weil das damals innenpolitisch nicht gut angekommen wäre. Inzwischen ist es so, dass wir aufgrund der Kooperation in der Flüchtlingsfrage die Flüchtlinge erst gar nicht nach Europa lassen, dafür der Türkei einerseits Geld anbieten und gleichzeitig aber auch politisches Entgegenkommen, zu schweigen, wenn es die Politik in Syrien betrifft, zu schweigen, wenn es die Politik gegen die Kurden betrifft. Das ist sicher auch europäischer Opportunismus, der jetzt sehr stark da sich zeigt.
Washington rückt näher an die syrischen Kurden heran
Müller: Was ja viele nicht verstehen ist, dass die Kurden andererseits im Kampf gegen den IS Verbündete sind, Verbündete der Europäer, auch Verbündete der Amerikaner. Ausgerechnet Washington zögert keine Sekunde, um Ankara immer wieder Solidarität und Unterstützung zu signalisieren. Warum das?
Hippler: Na ja, es ist in gewissem Sinne ein doppeltes Spiel. Einerseits haben Sie Recht: Die US-Regierung erklärt das so, die Türkei ist der zentrale NATO-Partner in der Region. Da ist Washington nicht weniger opportunistisch, als die europäischen Länder sind.
Aber gleichzeitig hat in den letzten Wochen Washington durchaus 50 oder 60 Soldaten Special der Operation Force, Elitesoldaten in den kurdischen Teil Syriens verlegt, um dort auch mit Ausbildung zu helfen, andere Dinge zu tun. Das hat die Türkei auch gerade relativ nervös gemacht, weil das wirklich ein Bruch der antikurdischen Politik in Syrien ist, den Washington im Konflikt mit der Türkei eingegangen ist.
Ich glaube, dass Washington da beides tut, auf der einen Ebene die Türkei zu unterstützen als NATO-Partner, aber gleichzeitig, weil die eigene Syrien-Politik der Vereinigten Staaten ja gescheitert ist, näher heranrückt an die syrischen PKK-nahen Kurden.
Die syrische Opposition ist nicht in der Verfassung, die Regierung zu übernehmen
Müller: Ist das wieder einmal der Zwiespalt der Realpolitik?
Hippler: Ja, das ist der Zwiespalt der Realpolitik. Es ist aber auch, dass wir in Washington und in Europa jetzt vier Jahre lang eine Politik betrieben haben, die den Sturz von Baschar al-Assad gefordert hat, ohne sagen zu können, was danach hätte kommen können. Die Opposition ist ja in keiner Verfassung, an die Stelle irgendeiner anderen Regierung zu treten.
Also, dass die eigene Politik gescheitert ist, auch die Politik Washingtons, eigene Milizen aufzubauen. Da ist nichts von übrig geblieben und deswegen vor dem Trümmerhaufen steht und jetzt umsteuern muss und in Syrien Milizen unterstützen muss, die man nicht selbst aufgebaut hat. Insofern eine Mischung von politischem, sagen wir mal, Opportunismus einerseits und den Versuchen, nach dem Scheitern der eigenen Politik jetzt was Neues aufzubauen.
IS-Gebiete: größtenteils Wüste
Müller: Wir haben in den Nachrichten im Deutschlandfunk, Herr Hippler, und auch in unserem ersten Bericht wiederum darüber informiert, dass der IS angeblich an Territorium, an Einfluss, an Kontrolle verloren haben soll. 14 Prozent werden da im Moment genannt. Das sind Quellen aus London, auch Quellen aus Washington, die da zusammenfließen. Kann es sein, dass die Kurden dazu wesentlich beigetragen haben?
Hippler: Ja, das ist sicher richtig. Die Kurden sind sicher von den Anti-IS-Kämpfern jetzt in Syrien und im Irak die militärisch stärksten. Ich würde nur davor warnen, diese Zahlen jetzt überzubewerten, weil teilweise die Fläche zu rechnen nicht sehr aussagekräftig ist, weil der größte Teil der Fläche ist ja leere Wüste und ob man da zehn Prozent, 14 Prozent mehr oder weniger hat, wenig über die Stärke sagt. Wichtig wird sein, die Kontrolle über Bevölkerungszentren zu haben.
Jetzt hat der Kampf gegen Ramadi offensichtlich begonnen im Irak, 100 Kilometer westlich von Bagdad. Das ist eine wichtige Frage. Auch Sindschar, die Stadt, war relativ wichtig im Norden, weil da eine wichtige Verbindungsstraße für den IS durchläuft. Letztlich ist die Quelle der Stärke des sogenannten IS die Kontrolle über die Bevölkerung, und zwar die Kontrolle über die Fläche, über die Bevölkerungszentren, aber auch die politische Kontrolle. Die müssen ja nicht unbedingt das Gebiet selbst kontrollieren, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Das ist wichtiger als jetzt, wieviel Quadratmeter Wüste gerade befreit worden sind.
Die irakischen Streitkräfte allein können Ramadi nicht zurückerobern
Müller: Trauen Sie das den irakischen Streitkräften zu, Ramadi zu erobern, zurückzuerobern?
Hippler: Alleine sicher nicht, und das ist gerade die heikle Sache. Die Offensive auf Ramadi ist ja schon vorher dreimal angekündigt und dreimal abgeblasen worden, weil die irakische Regierung merkte, dass die Streitkräfte dazu nicht in der Lage sind und dass die wichtigste Kampfrolle bei den schiitischen Milizen hätte liegen müssen, und die sind nun in Ramadi auch bei Leuten verhasst, die nichts mit dem IS zu tun haben und haben wollen. Wenn man sunnitische Gebiete durch schiitische Milizen erobern lässt, die gefürchtet sind dort von auch der Zivilbevölkerung, dann kann das die politische Situation möglicherweise noch verschlimmern und dem IS Leute in die Arme treiben.
Die Trennung Sunniten - Schiiten ist erst durch den Bürgerkrieg so scharf geworden
Müller: Ist das nach so vielen Jahren Krieg und Bürgerkrieg und Auseinandersetzung immer noch die entscheidende Trennlinie, Sunniten gegen Schiiten?
Hippler: Nein, das ist nicht noch, das ist erst mal geworden. 2005/2006, als der Bürgerkrieg wirklich schon sehr eskaliert war, da gab es Umfragen auch arabischer Meinungsforschungsinstitute im Irak, dass die Leute sich eigentlich erst mal als Iraker, zweitens als Muslime und dann mit weitem Abstand als Sunniten und Schiiten betrachtet haben. Diese Konfliktlinie ist nicht von vornherein gegeben gewesen, sondern durch den Krieg erst mal hergestellt worden. Die ist heute viel schärfer, als sie früher gewesen ist.
Müller: Bei uns im Deutschlandfunk Konfliktforscher und Nahost-Kenner Jochen Hippler. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
Hippler: Sehr gern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.