Christine Heuer: Die Stimmung kocht hoch zwischen Berlin und Ankara, jetzt mahnt der deutsche Außenminister Steinmeier mehr Sachlichkeit in der Debatte an.
Am Telefon ist Erika Steinbach, CDU-Innenpolitikerin, sie war Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, sie ist Mitglied im konservativen Berliner Kreis der Union und sie ist Sprecherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Guten Morgen, Frau Steinbach!
Erika Steinbach: Einen schönen guten Morgen, Frau Heuer!
Heuer: Sie als Menschenrechtsbeauftragte Ihrer Fraktion, ist es ein Menschenrecht, dass der türkische Präsident bei einer Demonstration in Deutschland reden darf?
Steinbach: Das ist natürlich kein Menschenrecht, das sind staatliche Dinge, die geregelt werden im allgemeinen Versammlungsrecht. Und das Bundesverfassungsgericht hat seine Meinung dazu gesagt und das ist völlig in Ordnung.
Heuer: Trotzdem zweifeln ja viele Türken nach der Köln-Demonstration am Sonntag an Demokratie und Menschenrechten in Deutschland. Wie kommen die darauf?
Steinbach: Ich glaube, die Menschen, die das jetzt bezweifeln, dass das ein Menschenrecht sei, man dürfe alles hier machen in Deutschland, sollten sich einmal die Türkei und diejenigen, die mit türkischen Fahnen demonstriert haben, ihre Türkei – denn so fühlen sie sich ja – näher anschauen, und dann wird deutlich, dass Deutschland sich richtig verhält und die Europäische Union natürlich auch auf die Türkei einwirken muss, sich menschenrechtskonform zu verhalten.
"Die Menschenrechte sind zunehmend Not leidend"
Heuer: Wie konnten die deutsch-türkischen Beziehungen so sehr schnell auf den Hund kommen?
Steinbach: Eigentlich ist es nicht schnell. Wir beobachten seit Jahren, und zwar in jedem EU-Fortschrittsbericht, den es ja gibt – eigentlich müsste man ihn bezogen auf die Türkei Rückschrittsbericht nennen –, dass die Menschenrechte zunehmend Not leidend sind. Die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Rechte der Gerichte, all das ist unter dem Erdogan-Regime zunehmend eingeschränkt worden. Und da hätte man auch in den ganzen Jahren seitens der EU schon hellhörig werden müssen und auch die Beitrittsverhandlungen mindestens stoppen müssen, wenn nicht abbrechen müssen. Aber das, was sie jetzt tut nach dem misslungenen Militärputsch, das ist so abseits jeder Menschenrechtsagenda in der Türkei, dass die Europäische Union und auch wir in Deutschland nachhaltig überlegen müssen, wie wir uns völlig unabhängig von der Türkei machen müssen.
Heuer: Über die konkreten Forderungen und Schlussfolgerungen möchte ich gleich ganz ausführlich mit Ihnen sprechen, Frau Steinbach, aber so, wie Sie über die Türkei sprechen, nominell sprechen wir ja noch immer über eine Demokratie. Was für eine Art Staat ist das denn aus Ihrer Sicht wirklich?
Steinbach: Inzwischen ist die Türkei leider ein autokratischer Staat geworden. Das ist bedauerlich, denn die Türkei war schon mal wesentlich weiter, was ihre Menschenrechtsanforderungen betroffen hat. Wenn man sich überlegt, dass die Türkei auf der Rangliste, was Pressefreiheit anbelangt, nach Erhebung von Reportern ohne Grenzen von 180 Plätzen auf dem blamablen Platz 151 liegt, dann sagt das mehr, als man mit Worten beschreiben kann.
"Deutschland und die Europäische Union haben sich abhängig gemacht"
Heuer: Können wir in Deutschland es uns leisten, mit einem autokratischen Staat so eng zusammenzuarbeiten, der so nahe in unserer Nachbarschaft auch noch lebt?
Steinbach: Wir müssen natürlich mit allen Staaten der Welt weit irgendwie auch Kontakte haben. Wir treiben Handel und Wandel, wir sind eine Exportnation. Aber es gibt Grenzen, wo man sagen muss: Solche Verträge, wie sie jetzt beschlossen worden sind, darf man nicht schließen, wenn man sich damit abhängig macht. Und Deutschland und die Europäische Union haben sich in einer gewissen Art und Weise abhängig gemacht. Die Europäische Union muss zu eigener Stärke finden, die eigenen Außengrenzen schützen, sich bezogen auf das Flüchtlingsthema auch dann am Ende zu eigenen Überlegungen kommen. Und ich glaube, der österreichische Außenminister Kurz, der hat den Weg gewiesen, den wir gehen sollten und ich glaube sogar müssen, wenn wir nicht dauerhaft von der Türkei erpresst werden wollen.
"Das ist kein partnerschaftliches Verhalten, sondern ein verbrecherisches Verhalten"
Heuer: Also genau, um das noch mal zuzuspitzen: Sie sind dafür, die Drohungen aus der Türkei nicht mehr länger abzuwarten, sondern selber zu handeln und das Abkommen tatsächlich konkret aufzukündigen?
Steinbach: Jemand, der erpressen will, wird das immer und immer und immer wieder tun. Und vor diesem Hintergrund, glaube ich, muss man einen Strich ziehen und sagen: Liebe Türkei, uns liegt daran, mit euch in einem guten Einvernehmen zu leben, aber dieser Weg ist der verkehrte Weg. Das ist kein partnerschaftliches Verhalten, sondern das ist ein, ich sage es mal, wenn es im normalen, zivilen Leben passieren würde, ist ein verbrecherisches Verhalten.
Heuer: Das heißt auch, Frau Steinbach, hier und heute plädieren Sie dafür, die Debatte über die Visafreiheit sofort einzustellen?
Steinbach: Visafreiheit ist völlig undenkbar. Dazu ist erforderlich nicht nur, dass die 72 Punkte auf dem Papier leben, sondern sie müssen im tagtäglichen Leben in dem Staat auch erkennbar sein. Und wir erkennen, dass in der Türkei Menschenrechte, dass all das, was einen demokratischen Staat ausmacht, wirklich notleidend ist.
"Die Europäische Union hat sich nicht wirklich darum gekümmert"
Heuer: Jetzt haben Sie ein paarmal schon gesagt, Europa muss sich in der Flüchtlingspolitik unabhängig machen. Wenn das so leicht wäre, hätte Europa das ja wahrscheinlich längst getan, wie soll denn das konkret gehen?
Steinbach: Die Europäische Union hat sich nicht wirklich darum gekümmert, das muss man leider feststellen. Das wäre auch ein Weg, um die mittelosteuropäischen Staaten, um wieder eine gemeinsame Zielrichtung zu finden. Denn dort erkennt man nicht, dass mit Einzelverträgen jetzt etwas auf Dauer bewirkt werden kann, und deshalb sträuben sich Polen und Ungarn, die anderen mittel- und osteuropäischen Staaten ja, den Weg, den man jetzt erst mal vorgezeichnet hatte, mitzugehen. Aber wenn man eine gemeinsame Außengrenze, die gemeinsamen Außengrenzen wieder auch gemeinsam wirklich sichert, wenn man ein gemeinsames Asylregime hat …
Heuer: Wie denn, wie denn, Frau Steinbach? Was meinen Sie damit ganz konkret? Die Debatte haben wir ja monatelang geführt und es ist nicht zu einem Ergebnis gekommen.
Steinbach: Also, der Vorschlag von Außenminister Kurz von Österreich, den halte ich für den einzig gangbaren Weg, dass diejenigen, die ankommen, dass man ihnen signalisiert: Ihr könnt hier in einer Aufnahmeeinrichtung bleiben, bis die kriegerischen Auseinandersetzungen zu Ende sind, dann müsst ihr aber wieder zurück. Und das muss man deutlich machen und ein Asylrecht gemeinsam noch mal formulieren, sodass der Missbrauch bestens ausgeschlossen wird. Und vor dem Hintergrund werden auch dann Polen und Ungarn sagen: Das ist ein Weg, der erfolgversprechend ist auf Dauer, der auch Menschen signalisiert, die nicht eigentlich in Not sind, sondern die ein besseres Umfeld suchen, sich nicht auf den Weg zu machen. Wir haben hier einen erheblichen Anteil von Migranten, die nicht wirklich unter Verfolgung gelitten haben, sondern die aus anderen Gründen diesen gefährlichen Weg über das Meer gemacht haben.
Heuer: Frau Steinbach, aber kurzfristig würden Sie erst mal mehr Flüchtlinge in Kauf nehmen? Denn die Türkei kann ja ganz schnell wieder damit beginnen, Flüchtlinge nach Griechenland durchzulassen.
Steinbach: Ja, die Schande ist ja, dass die Türkei auch vor dieser Flüchtlingsvereinbarung am helllichten Tage – Kollegen von uns haben das ja gefilmt, Kollegen aus dem Menschenrechtsausschuss, die in der Türkei waren –, am helllichten Tage haben Schlepper in der Türkei die Menschen in Schlauchboote gesetzt, unter den Augen der türkischen Polizei. Es ist niemand eingeschritten, die Türkei hat das ja noch befördert. Da steckte Willen dahinter …
Heuer: Ja, und wenn das jetzt wieder losgeht?
Steinbach: Dann bleiben die Menschen in Aufnahmeeinrichtungen. Sie werden nicht weitergeleitet in Europa, das wird sich sehr schnell herumsprechen. Das Ziel der Menschen ist doch, in Richtung Norden zu kommen, vor allen Dingen Richtung Österreich, in Richtung Deutschland, in Richtung Schweden. Schweden hat es jetzt schon verhindert, da kommt niemand mehr durch. Und vor dem Hintergrund wird sich das herumsprechen und damit nimmt man der Türkei auch das Druckmittel aus der Hand.
"Die Frage der Beitrittsverhandlungen würde Erdogan auch finanziell treffen"
Heuer: Für ein Ende der Beitrittsverhandlungen sind Sie sowieso, das haben Sie schon erwähnt. Wie wäre es denn mit Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei?
Steinbach: Ich glaube, das sollte man erst nicht machen, sondern die Frage der Beitrittsverhandlungen würde natürlich Erdogan auch finanziell treffen, denn im Rahmen der Beitrittsverhandlungen sind bis 2020 noch vier Milliarden Euro an die Türkei zu zahlen. Auch das wäre von Anfang an ein Weg gewesen: Anstatt zu sagen, liebe Türkei, wir geben auch jetzt noch mal sechs Milliarden und ihr kriegt das und ihr kriegt die Visafreiheit, hätte man schon damals sagen können: Liebe Türkei, ihr macht den Schleppern das Leben leicht, ihr bekämpft sie nicht, sondern ihr schickt sie sogar noch auf den Weg, wir stoppen die Beitrittsverhandlungen, Geld gibt es nichts mehr und wenn ihr diesen Weg weitergeht, dann ziehen wir die Schrauben noch fester und brechen die Beitrittsverhandlungen endgültig ab.
Heuer: Frau Steinbach, kann es sein, dass Sie deshalb gegen Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei sind, weil das auch der deutschen Wirtschaft ja Schaden zufügt?
Steinbach: Nein, ich glaube aber, dass es auch viele türkischstämmige Menschen hier in Deutschland treffen würde, die ja auch enge Verbindungen zu ihrem Herkunftsland haben oder dem Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern. Und das wäre vielleicht der Weg, der dann hier auch unsere eigene Zivilgesellschaft mehr treffen würde.
Heuer: Die Bundeskanzlerin äußert sich öffentlich jedenfalls ziemlich zurückhaltend zu der Entwicklung in der Türkei und mahnt Verhältnismäßigkeit an. Was würden Sie lieber von ihr hören?
Steinbach: Angela Merkel hält sich immer zurück bei einer Schnellbewertung, das ist für eine Kanzlerin auch klug und gut. Und vor dem Hintergrund, glaube ich, wird sie zu gegebener Zeit ihre Meinung auch äußern. Und ich hoffe, dass man sich inzwischen überlegt, wie man effizient sich autark machen kann und sich nicht abhängig machen kann von einem Erpresser.
Heuer: Da sind wir noch mal ganz kurz bei der Flüchtlingspolitik. Angela Merkel sagt ja immer noch: Wir schaffen das. Was würden Sie in diesem Fall, in diesem Zusammenhang lieber von ihr hören?
Steinbach: Ich frage mich: Wer ist wir? Das sind die vielen ehrenamtlichen Menschen vor Ort, das sind die Länder, das sind die Kommunen, die stöhnen und ächzen nach wie vor. Man hört nicht mehr sehr viel Lautes darüber, aber jeder, der vor Ort so eine Einrichtung hat, der kann viel, viel erzählen. Ich kriege jeden Tag Briefe, ich kriege jeden Tag Anrufe, im Wahlkreis selber höre ich jeden Tag, wo es hakt, wo es Probleme gibt, das ist ja auch ganz normal, es sind Menschen, die weitestgehend unsere Sprache nicht sprechen, die weitestgehend nicht einmal Englisch sprechen können, die weitestgehend unsere Schriftzeichen gar nicht kennen, weil sie aus einem anderen Kulturraum kommen. Also, die Probleme liegen ja auf der Hand, ohne dass man da Schuld zuweisen kann, dass die Migranten das jetzt nicht wollten. Aber sie kommen eben aus einem anderen Kulturbereich, dem unsere Art zu leben in weiten Teilen völlig fremd ist.
Heuer: Erika Steinbach, CDU-Innenpolitikerin, Mitglied im konservativen Berliner Kreis und, ich sage es noch mal, Sprecherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der Unionsfraktion im Bundestag. Frau Steinbach, haben Sie Dank fürs Gespräch!
Steinbach: Danke schön, Frau Heuer!
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